Franz Thedieck, Zonenflucht und West-Ost-Wanderung, 8. April 1961
Franz Thedieck, Zonenflucht und West-Ost-Wanderung, 8. April 196111. April 1961 - BULLETIN - Nr. 67/S. 643
Zonenflucht und West-Ost-Wanderung
Umfälschung der normalen innerdeutschen Wanderungsbewegung durch die kommunistische Propaganda
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Staatssekretär Franz Thedieck vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen hielt über den Sender RIAS am 8. April 1961 folgende Ansprache:
Sehr bemerkenswert ist es, daß die SED bis heute noch keine Zahlen über die West-Ost-Wanderung im Jahre 1960 bekanntgegeben hat, wahrend sie noch Anfang des vorigen Jahres die allerdings auch unbewiesene und unhaltbare Zahl von über 60 000 Zugewanderten für das Jahr 1959 prahlerisch als politischen Erfolg verkündete. Der Grund für diese Zurückhaltung der Pankower liegt darin, daß im Jahre 1960 die Zahl derjenigen, die einen Wohnungswechsel von der Bundesrepublik in die Sowjetzone vorgenommen haben, gegenüber 1959 um schätzungsweise 25 v. H. zurückgegangen ist, dagegen hat die Abwanderung aus der Sowjetzone, die wir zu Recht Flucht nennen, im Jahre 1960 gegenüber 1959 um fast 30 v. H. zugenommen.
Dabei muß man immer in Rechnung stellen, daß die Bundesrepublik eine mehr als dreimal so hohe Bevölkerungsziffer hat wie die Sowjetzone, die Wanderung nach Mitteldeutschland jedoch nur einen Bruchteil vom Umfang des Flüchtlingsstroms aus der Sowjetzone ausmacht. Das bedeutet, daß im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungszahl die Flüchtlingsbewegung aus der Zone im Jahre 1960 etwa 20mal so stark war wie die West-Ost-Wanderung nach Mitteldeutschland, während sie im Jahre 1959 etwa das Zwölffache ausmachte.
Um es in absoluten Zahlen auszudrücken: 1959 flüchteten 173 000, 1960 jedoch 225 000 Menschen aus der Sowjetzone und Ost-Berlin in die Bundesrepublik. Die Zahl der vom Statistischen Bundesamt verzeichneten Fortzüge nach Mitteldeutschland betrug dagegen 1959 38 000 und sank im Jahre 1960 auf 28 000.
Diese Zahl der registrierten Fortzüge liegt nach allen Erfahrungen nur verhältnismäßig geringfügig unter der tatsächlichen Abwanderung nach Mitteldeutschland, weil ja für diejenigen, die die Bundesrepublik verlassen, in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle angesichts der bei uns garantierten Freizügigkeit kein Grund besteht, ihren Weggang zu verheimlichen und etwa ihr Hab und Gut hier zurückzulassen. Da es sich also durchweg um reguläre Umzüge handelt, nehmen die Wegziehenden ihre Wohnungseinrichtungen und dergleichen mit. Ihre polizeiliche Abmeldung liegt den statistischen Angaben zugrunde.
Die SED versucht diese im großen und ganzen als normal zu bezeichnende West-Ost-Wanderung für ihre propagandistischen Zwecke zu einem Politikum, zu einer „Flucht aus der Unfreiheit der Bundesrepublik in die Freiheit der Deutschen Demokratischen Republik" umzufälschen. Deshalb führt sie auch keine offene Statistik über diese Bevölkerungsbewegung. Täte sie es, dann würde jedermann feststellen können, daß die einschlägigen Zahlenangaben von ADN manipuliert sind. Man nennt Zahlen von Personen, die sich in den Aufnahmelagern gemeldet hätten, und verschweigt, daß in diesen Zahlen zum Beispiel Rentner, alte Leute und andere arbeitsunfähige Personen enthalten sind, die in die Bundesrepublik zurückgewiesen werden. Denn die sogenannten Auffanglager in Eisenach, Barby, Pritzier und anderenorts sind entgegen der SED-Propaganda keineswegs Wohltätigkeitsunternehmen, sondern dienen als Sammellager für die so dringend benötigten Arbeitskräfte in der Zone.
Die Sowjetzonen-Nachrichtengebung schweigt sich auch darüber aus, daß weit mehr als die Hälfte aller Bürger der Bundesrepublik, die in die Sowjetzone umgezogen sind, innerhalb weniger Monate den Rückweg antritt, nun allerdings als Flüchtlinge, denn auch ihnen wird das Verlassen des „Arbeiter- und Bauernstaates" als „Republikflucht" angelastet. Es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, daß unter denjenigen, die in der Zone wegen Verleitung anderer zur „Republikflucht" verurteilt werden, nach den Angaben der Volkspolizeidienststellen in erheblichem Maße Bürger der Bundesrepublik zu finden sind, die ihren Wohnort in die Sowjetzone verlegt haben. Sie gaben schon nach kurzer Zeil ihrer Enttäuschung Ausdruck über die Verhältnisse im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden" und stellten Vergleiche mit der Bundesrepublik an, was unter Ulbrichts Regime gleich als Verleitung zur „Republikflucht" ausgelegt wird.
Nicht nur die Zahlenangaben der SED-Propaganda sind gefälscht. Auch die Motive, die man den aus der Bundesrepublik Kommenden unterstellt, sind weitgehend den Wunschvorstellungen der kommunistischen Propagandisten angepaßt. Zunächst eins: rund 75 v. H. der West-Ost-Wanderer sind ehemalige Sowjetzonenflüchtlinge, also Rückwanderer, die zu 90 v. H. aus sehr privaten Gründen wieder nach Mitteldeutschland gehen. Es ist aufschlußreich, daß nur etwa 6 bis 8 v. H. von ihnen mit ihrer gesamten Familie in die Sowjetzone zurückgehen. 95 v. H. aller Rückwanderer kennen das Ziel der Rückreise genau, nämlich den Wohnort von Familienangehörigen und Verwandten. Das ist nicht verwunderlich, denn es geht bei diesen Menschen hauptsächlich darum, wieder mit ihren Familien zusammenleben zu können, von denen sie der von Ulbricht errichtete Stacheldraht unerbittlich trennt. Da die Zonenbehörden eine Familienzusammenführung oder auch nur den Besuch von geflüchteten Angehörigen in der Bundesrepublik rigoros unterbinden, sieht mancher Sowjetzonenflüchtling — trotz der möglichen Gefahr der Bestrafung wegen Republikflucht — oft keinen anderen Ausweg, als nach Mitteldeutschland zurückzukehren. Es ist aufschlußreich — und ich stehe nicht an, es auch als tröstlich zu bezeichnen —, daß die Machthaber der Zone in den meisten Fällen von einer Durchführung ihrer eigenen Gesetze absehen und die Zurückkehrenden im allgemeinen straffrei ausgehen lassen. Doch beruht diese Großzügigkeit nicht auf Menschenfreundlichkeit, sondern auf rein wirtschaftlichen Erwägungen. Man braucht eben jede sich bietende Arbeitskraft.
Nun ein Wort zu den rund 25 v. H. eingesessenen Bundesbürgern, die nach Mitteldeutschland umsiedeln. Hier ist zunächst wohl nicht ohne Belang, daß etwa ein Fünftel von ihnen in Mitteldeutschland geboren ist. Fast die Hälfte geht aus rein privaten Gründen. Etwa 75 v. H. reisen mit festem Ziel, flüchten also nicht „aus dem faschistischen und militaristischen Ausbeuterstaat" in die „friedliebende DDR", sondern fahren zu Verwandten oder Bekannten. Daß unter ihnen mancher ist, der hofft, in der Sowjetzone besser leben zu können als in der Bundesrepublik, ist gewiß ebenso richtig wie die Tatsache, daß etwa zwei Drittel dieser Menschen, wie ich schon erwähnte, nach kurzer Zeit wieder in die Bundesrepublik zurückkehren.
Es bleibt der Prozentsatz derjenigen, die wegen mehr oder weniger schwerer Verfehlungen oder gar krimineller Delikte die Bundesrepublik verlassen und bemerkenswerterweise — obschon dieser Tatbestand vielfach bekannt ist — von den Zonenbehörden ob ihrer Arbeitsfähigkeit nicht zurückgewiesen werden. Nach den polizeilichen Feststellungen sind ihrer jährlich mehrere Tausend. Sie sind es vornehmlich, die sich aus sehr offensichtlichen Gründen für die propagandistische Zwecke der SED zur Verfügung stellen, um den angeblichen Terror im Adenauer-Staat zu beweisen. Tatsächlich sind sie lebendige Beweise dafür, daß sich die kommunistische Propaganda mit Kriminellen gemein macht, um Ahnungslose zu düpieren.
Kein Wunder, daß ihr ein Erfolg versagt bleibt: unter den West-Ost-Wanderern sind Leute, die wirklich aus politischen Gründen die Bundesrepublik frei verlassen, so selten, daß man sie mit der Lupe suchen muß. Selbst überzeugte Kommunisten ziehen im allgemeinen das Leben in dem verhaßten „monopolkapitalistischen Ausbeuterstaat" dem Leben im Paradies des „Arbeiter- und Bauernstaates" Ulbrichtscher Prägung vor.
Hoher Viehverlust in der Sowjetzone
Zum Monatsschluß März 1961 ist, wie der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen mitteilt, der praktische Tierarzt Dr. Schulz aus Ribnitz/Vorpommern nach West-Berlin geflüchtet. Dr. Schulz war zuletzt als wissenschaftlicher Assistent bei der Tierärztlichen Fakultät der Ost-Berliner Humboldt-Universität tätig. Als Fluchtgrund macht er im wesentlichen geltend, daß er es mit seinen ärztlichen Pflichten nicht hätte vereinbaren können, weiter im Dienst eines Regimes zu stehen, das die noch bestehenden Viehbestände unrichtig halte und unzweckmäßig pflege. Zumal die Arbeitsanweisung für Tierärzte hätte ihn in empfindlichem Widerspruch zu seinen ärztlichen Pflichten gestellt. In der Befürchtung, für die eingetretenen hohen Viehverluste in den LPG, die ursächlich auf mangelhafte Futtergrundlage und schlechte Viehhaltung zurückzuführen seien, verantwortlich gemacht zu werden, habe er die Zone im Wege der Flucht verlassen müssen.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 67, 11. April 1961