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Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 17.30 Uhr: Vorbereitung der Pressekonferenz von Günter Schabowski

Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 17.30 Uhr: Vorbereitung der Pressekonferenz von Günter Schabowski

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

17.30 Uhr: Vorbereitung der Pressekonferenz



Als Krenz den Entwurf des Reiseverordnungstextes im Zentralkomitee vortrug, hielt sich Günter Schabowski nicht im Tagungssaal auf. Am Vortag war er im Politbüro in die Nachfolge Joachim Herrmanns eingetreten und amtierte nun als für die Medien zuständiger Sekretär des ZK; deshalb war er „bei den Beratungen abwechselnd drin und draußen, weil ich viel mit den Journalisten zu regeln hatte". [1] Drei Diskussionsredner waren nach Krenz im Plenum zu Wort gekommen, gut sechzig Minuten vergangen, als sich Schabowski zwischen 17.00 und 17.30 Uhr bei Krenz zu seiner Pressekonferenz über Verlauf und Ergebnisse des ZK-Plenums abmeldete, die für 18.00 Uhr im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße angesetzt war. Dem Zeitpunkt der Pressekonferenz lag noch die Planung zugrunde, daß die ZK-Tagung zu dieser Uhrzeit beendet sein würde. Schabowski erkundigte sich vor seinem Abgang nach mitteilenswerten Neuigkeiten für seinen Pressetermin und erhielt von Krenz dessen Exemplar der Ministerrats-Vorlage über die Reiseregelung [2], deren Bekanntgabe er eigentlich kurz zuvor dem Regierungssprecher angetragen hatte.

Welchen Rat gab Krenz Schabowski bezüglich der Präsentation dieser Neuigkeit mit auf den Weg? „Was wir auch machen, wir machen einen falschen Schritt" und „Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt", hatte er den Verordnungstext eine gute Stunde zuvor im Plenum kommentiert. Lag es nicht in der Logik dieser Einschätzung, Schabowski zu instruieren, die Nachricht möglichst unauffällig abzusetzen? Sollte man etwa die Weltpresse noch selbst darauf stoßen, daß die SED-Führung wieder einmal gezwungen worden war, äußerem Druck – in diesem Fall seitens der CSSR-Regierung– nachzugeben und den Zeitplan für die Beratung des erst drei Tage zuvor veröffentlichten Reisegesetz-Entwurfs stillschweigend zu makulieren?

Krenz und Schabowski wollen im nachhinein eine andere Version glauben machen. Die Übergabe des Papiers an Schabowski, erinnerte sich Krenz später, habe er mit dem Hinweis verbunden, das sei „die Weltnachricht". [3] Und Schabowskis Gedächtnis zeigte sich in dieser Hinsicht exakt auf die Erinnerungsarbeit des Generalsekretärs justiert. Er meinte, von Krenz im Ohr behalten zu haben: „Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns!" [4]

Was Krenz dazu bewogen haben könnte, Schabowski einen „falschen Schritt" als Weltnachricht anzubieten, gab er bislang nicht preis. Und Schabowski hielt das innerhalb einer Stunde zu einem angeblichen „Knüller" mutierte Papier am frühen Abend des 9. November für so bedeutend, daß er es zunächst unbesehen in seine Unterlagen mischte. Nahm er sich vor Beginn der Pressekonferenz überhaupt noch die Zeit, einen Blick auf „die Weltnachricht" zu werfen? [5] „Ich bin ins Pressezentrum gefahren und habe mir das Papier nicht mehr durchgelesen", sagte Schabowski im April 1990. [6] Und acht Monate später bestätigte er: „Tatsächlich las ich den Text erstmals, als die TV-Kameras schon liefen." [7]

Arm an sonstigen Erfolgsmeldungen und gewieft im Umgang mit den Medien, hätte es sich der langjährige Chefredakteur des Neuen Deutschland wohl kaum nehmen lassen, seine „Weltnachricht" – so er sie tatsächlich als „Knüller" empfunden hätte – akzentuiert und gut plaziert zu präsentieren. Doch alles spricht dafür, daß Schabowski in völliger Unkenntnis über den genauen Inhalt der Zeitbombe war, die in seinen Unterlagen tickte. [8] Als Strategie für den Ablauf seines Presseauftrittes legte er in seinem handschriftlichen Fahrplan fest, den Text der Reiseregelung erst „kurz vor Schluß am Ende der Debatte" zu verlesen und dabei zu betonen, daß es sich um kein Politbüro-Papier, sondern eine echte Ministerrats-Entscheidung handle. [9]

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Günter Schabowski, in: Hertle u. a. 1990, S. 39. Sinngemäß hat sich Schabowski auch in seinen Memoiren geäußert (vgl. Schabowski 1991, S. 306). [2] Wolfgang Herger und Siegfried Lorenz, die während der ZK-Tagung im Präsidium die Sitzplätze neben Krenz einnahmen, bestätigen die Übergabe des Papiers an Schabowski im Plenarsaal. Die gelegentlich kolportierte Behauptung, Schabowski sei der verlesene Zettel erst während der Pressekonferenz zugesteckt worden (so etwa Guido Knopp, in: Aanderud 1991, S. 7 und S. 116), möglicherweise gar vom KGB, ist eindeutig falsch. [3] Krenz 1990, S. 182. [4] Schabowski 1991, S. 306; Schabowski, in: Hertle u. a. 1990, S. 39. [5] Meine früheren Darstellungen gingen von dieser Annahme aus. (Vgl. Hertle 1995 b). Sie wird im folgenden auf der Grundlage neu hinzugezogener Quellen verworfen. [6] Günter Schabowski, in: Hertle u. a. 1990, S. 39. – Auch der „Spiegel"- Reporter Cordt Schnibben, der Schabowski im Frühjahr 1990 ausführlich befragte, veröffentlichte als Ergebnis in seiner Reportage: „Schabowski liest den Zettel weder im ZK noch im Auto." (Der Spiegel Nr. 18, 30. 4. 1990, S. 208). [7] Günter Schabowski, „Egon, das Ding ist gelaufen, mach dir mal keen Kopp", in: Der Morgen, 7. 12. 1990, S. 21. – Zwei Jahre später vollzog Schabowski jedoch einen Erinnerungswechsel und gab nun an, den Text im Dunklen während der maximal fünfminütigen Fahrt vom ZK-Gebäude zum Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße durchgesehen zu haben: „Auf dem Wege zur Pressekonferenz habe ich im Auto das Papier überflogen und fand, wenn auch verklausuliert, es ist sozusagen 'das Ding'" (Günter Schabowski, in: Protokoll der 25. Sitzung der Enquete-Kommission, 26. 1. 1993). [8] Die konfusen Informationen und die Hilflosigkeit, mit der Schabowski während der Pressekonferenz auf Nachfragen reagierte, sind die offensichtlichsten Belege für Schabowskis völlige Unkenntnis des Verordnungstextes. [9] Günter Schabowski, Für PK, o. D., handschriftliche Aufzeichnung.
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