Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989: MfS und MdI verfassen Reiseverordnungs-Entwurf
Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989: MfS und MdI verfassen Reiseverordnungs- EntwurfHans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989
Ch. Links Verlag, Berlin 1999
9.00 Uhr: MfS und MdI planen Reiseregelung
Um 9.00 Uhr trat im Ministerium des Innern in der Mauerstraße eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel zusammen, eine Ausreiseregelung als Beschlußentwurf für den Ministerrat zu verfassen. Oberst Gerhard Lauter und Generalmajor Gotthard Hubrich, den beiden Leitern der Hauptabteilungen Paß- und Meldewesen bzw. Innere Angelegenheiten des MdI, war im Laufe des 8. November ein entsprechender Auftrag vom Politbüro bzw. von der MfS-Führung erteilt worden, um das „CSSR-Problem" mit einem Vorschlag zur Regelung der ständigen Ausreise aus der DDR zu lösen. Dieser sollte nunmehr nicht mehr als „Durchführungsbestimmung", sondern als Ministerrats-Beschluß gefaßt werden, doppelgleisig dem Politbüro und dem Ministerrat bis zum Mittag des 9. November vorgelegt und mit Wirkung vom 10. November in Kraft gesetzt werden. Mit dem gleichen Auftrag waren Oberst Hans-Joachim Krüger, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung VII des MfS, sowie Oberst Udo Lemme, Leiter der Rechtsstelle des MfS, am frühen Morgen des 9. November in das MdI geschickt worden: Krüger hatte ihn von Generalleutnant Werner Irmler [1], dem Leiter der ZAIG, Lemme direkt von Erich Mielke erhalten. Andere Absichten im Hinblick auf eine weitergehende Reiseregelung, die nicht nur die ständige Ausreise umfaßte, wie sie Herger, Krenz und Schabowski im nachhinein geltend machten, blieben den Beteiligten fremd. [2]
Die vier beauftragten Mitarbeiter des MfS und MdI kannten sich aus zum Teil langjähriger dienstlicher Zusammenarbeit und waren mit der Materie bestens vertraut; alle vier hatten an der Ausarbeitung des Reisegesetz-Entwurfs mitgewirkt. Den Dienstzweigen Innere Angelegenheiten, die den Räten der Städte, Kreise und Bezirke zugeordnet waren, sowie Paß- und Meldewesen, die bei den Bezirksbehörden der Volkspolizei und den Volkspolizeikreisämtern angesiedelt waren, galt zudem das besondere Augenmerk der Staatssicherheit. Die leitenden Mitarbeiter beider Linien waren auf allen Ebenen häufig als inoffizielle Mitarbeiter, auf bezirklicher Ebene gelegentlich auch als Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) für das MfS tätig. Und so waren auch Hubrich und Lauter als Leiter beider Hauptabteilungen langjährige inoffizielle Mitarbeiter jener Hauptabteilung VII des MfS, an deren Spitze Krüger als stellvertretender Leiter stand.
Die Sitzung im MdI begann mit einem gegenseitigen Abtasten, wer welchen Auftrag hatte. Es stellte sich heraus, daß alle die gleiche Weisung hatten, das „CSSR-Problem" zu lösen. Schnell war sich der Kreis nach Angaben der Beteiligten darüber einig, daß zukünftig alle Einschränkungen bei Anträgen auf eine ständige Ausreise aus der DDR wegfallen sollten, wie es das Neiber-Papier vom 7. November bereits vorsah.
Aus dieser Einhelligkeit entwickelte sich in der weiteren Diskussion die Frage, ob es nicht unpraktikabel wäre und zudem innenpolitisch fatale Konsequenzen haben würde, jeden, der das Land auf Dauer verlassen wollte, sofort fahren zu lassen; diejenigen aber, die nur eine kurze Privatreise zu einer Tante in die Bundesrepublik planten und nach wenigen Tagen Aufenthalt zurückkehren wollten, dies zu verbieten. [3] In der Praxis war diese Frage im übrigen schon entschieden. Am 7. November lagen im Verantwortungsbereich Neibers Fernschreiben aus Sachsen und Thüringen vor, aus denen hervorging, daß über einhundert Personen, die zuvor über die CSSR in die Bundesrepublik ausgereist waren, über die Kontrollstelle Hirschberg wieder in die DDR zurückgekommen waren. Als Motiv gaben die Reisenden gegenüber den verdutzten DDR-Paßkontrolleuren „Abenteurertum, die Durchführung von Kaffeereisen sowie Testen der Glaubwürdigkeit der DDR-Medien" an. [4] Sie wurden nicht zurückgewiesen.
Aus der Lagekenntnis dessen, was sich in den Paß- und Meldestellen und den Abteilungen Innere Angelegenheiten in den Räten der Stadtbezirke und der Bezirke tagtäglich abspielte, den Reise- und Ausreisewünschen, den heftigen Konfrontationen zwischen Polizei und Bürgern, so Gerhard Lauter, war ihm und Hubrich zudem klar, daß eine wortwörtliche Erfüllung ihres Auftrages keine Lösung bringen konnte. Auch während ihrer Beratung, erinnern sich die drei Obristen, liefen im MdI Telefonate und Meldungen über den zunehmenden Druck reisewilliger Bürger auf die Volkspolizeikreisämter ein. „Im Interesse der Erhaltung der DDR", sagt Gerhard Lauter, habe er damals darauf hingewiesen, daß es „politisch unverantwortlich wäre, eine so einseitige Regelung zu erarbeiten; das wäre aus meiner Sicht auf totales Unverständnis gestoßen und hätte zu einer wirklichen Schizophrenie auf diesem Gebiet geführt und dazu, daß die Welle der Anträge auf ständige Ausreise enorm angestiegen wäre". Das befürchtete offenbar auch Hubrich. Unter vier Augen, berichtet Krüger, habe Hubrich ihn gefragt, wie lange sie in dieser Situation denn noch Kasperletheater spielen sollten, anstatt aufzuschreiben, wovon sie überzeugt seien.
Die Diskussion der Obristen führte in die Richtung, die Reisewilligen nicht staatlicherseits in den Status von Ausreisenden zu zwingen und deshalb eine Besserstellung der ständig Ausreisenden im Verhältnis zu Besuchsreisen auszuschließen. Immerhin war ihr Auftrag so allgemein gehalten, daß er eine Teilregelung für Privatreisen als Zwischenlösung nicht ausdrücklich ausschloß. Und schließlich sollte die generelle Reisefreiheit – trotz aller Einschränkungen in dem veröffentlichten Gesetzentwurf – ohnehin noch 1989 eingeführt werden. Würde dagegen angesichts der unruhigen Situation im Lande, fragten sich die Obristen, ein weiterer Fehltritt in der Reisefrage nicht endgültig den Druck im Kessel zur Explosion bringen? Und war umgekehrt nicht mit einer innenpolitischen Beruhigung zu rechnen, wenn erst einmal alle Ausreisewilligen das Land verlassen und zumindest schon einmal ein Teil der Reisewilligen fahren durften, wohin sie wollten?
So entschied der Kreis, „Nägel mit Köpfen" (Krüger) zu machen und beide Fragen – die der ständigen Ausreise und die der Privatreisen – in einem Wurf zu regeln. Der uneingeschränkten Ausgabe von Visa für Ausreisen wurde deshalb als erster Satz vorangestellt: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt."
Im Unterschied zu einer generellen Reisefreiheit verbanden die Obristen mit dieser Regelung der Privatreisen die Absicht, ausschließlich DDR-Bürgern mit Reisepaß und einem Visum eine Besuchsreise zu gestatten. Einen Reisepaß besaßen etwa vier Millionen Bürger; alle anderen, so das Kalkül, hätten zunächst einen Paß beantragen und die bis zur Ausstellung üblichen Wartezeiten von mindestens vier bis sechs Wochen erdulden müssen. Einem sofortigen Aufbruch aller DDR-Bürger schien somit ein wirksamer Riegel vorgeschoben. Die Formulierungen „können beantragt werden" und „werden kurzfristig genehmigt" sicherten beiden „Organen" zudem ausreichend Spielraum für Auslegungen in ihrem Sinne.
Die Überschrift des Papieres – „Beschlußvorschlag zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR" – blieb erhalten. Sie entsprach ihrem ursprünglichen Auftrag und bezeichnete weiterhin nur eine Seite der erarbeiteten Regelung. Würde der darüber hinausgehende Teil in der Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees, im MfS, im Politbüro oder Ministerrat auf Mißfallen stoßen, hätten sie ihren Beschlußentwurf – dessen konnten sich die Obristen gewiß sein – binnen kürzester Zeit zur Überarbeitung wieder auf dem Tisch gehabt.
Lemme und Krüger stimmten den Vorentwurf ihres Beschlußvorschlages im MfS mit Irmler ab, der nicht widersprach. „Es hat zu diesem Zeitpunkt keiner entscheidend dagegen opponiert, weil sie im Grunde einverstanden sein mußten", bietet Krüger als Erklärung für die Reaktion des Leiters der ZAIG an. „Die, die mit der Materie vertraut waren, wußten, daß es keine Alternative gab. Alles andere war doch unehrlich."
Über seinen für das MdI zuständigen Sektorenleiter in der Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees hielt Wolfgang Herger ständige Verbindung mit der Arbeitsgruppe. Da Aktennotizen des MfS und MdI belegen, daß Herger selbst der erste Entwurf einer fast wortgleichen Presseerklärung von den Obristen zur Bestätigung vorgelegt wurde, ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß er erst recht den Beschlußentwurf für Politbüro und Ministerrat vor seiner endgültigen Ausfertigung bestätigte. [5] Innenminister Dickel holte parallel dazu vom amtierenden Minister für Staatssicherheit, Neiber, dessen Zustimmung zum Text der Presseerklärung ein, bevor er ihn mit Außenminister Fischer abstimmte und von Willi Stoph die Bestätigung einholte – was einmal mehr zeigt, wie MfS-abhängig Dickel und das MdI in dieser Frage operierten. [6]
Um die Dienststellen des MdI und MfS in die neuen Bestimmungen einweisen und die Mitarbeiter des Paß- und Meldewesens auf den zu erwartenden Massenansturm vorbereiten zu können, legten die Obristen als Sperrfrist für die Bekanntgabe des Beschlusses durch den ADN den 10. November, 4.00 Uhr früh, fest. Diesen Termin schriftlich im Text der Presseerklärung zu fixieren, widersprach den üblichen Gepflogenheiten und erschien deshalb überflüssig. Angesichts der Monopolstellung des ADN reichte es völlig aus, den Generaldirektor der SED-Nachrichtenagentur nach der Beschlußfassung im Ministerrat bei der Aushändigung der Pressemitteilung auf die Sperrfrist zu verpflichten.
Den mit Herger und dem MfS abgestimmten Beschlußvorschlag samt der geringfügig veränderten Pressemitteilung leiteten die vier Obristen über Kurier erneut Herger in das nur wenige hundert Meter entfernte ZK-Gebäude zu. Parallel dazu fand ein weiteres Exemplar über das Sekretariat von Dickel und dessen Stellvertreter Winderlich den Weg zum ebenfalls nahe gelegenen Sitz des Ministerrates in der Klosterstraße, wo sie dem Leiter des Sekretariats des Büros des Ministerrates, Harry Möbis [7], übergeben wurde. Der Auftrag der Arbeitsgruppe war damit erfüllt; ehe Lemme, Krüger, Lauter und Hubrich auseinander gingen, verabredeten sie, sich für den Fall möglicher Veränderungswünsche telefonisch erreichbar in ihren Ministerien aufzuhalten. Die innerdienstlichen Weisungen über die Durchführung des Beschlusses wurden in beiden Ministerien getrennt vorbereitet. Bevor die entsprechenden Fernschreiben an die nachgeordneten Dienststellen herausgegeben werden konnten, mußte in den Ministerien die Zustimmung des Politbüros und des Ministerrates abgewartet werden.
Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1]
Generalleutnant Dr. Werner Irmler, Jg. 1930, Förster, seit 1. 2. 1952 MfS. Beruflicher Aufstieg vom Sachbearbeiter über Hauptsachbearbeiter, stellvertretender Referatsleiter, Referatsleiter zum stellvertretenden Leiter und ab 1965 zum Leiter der ZAIG. 1970 Promotion an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam; Mitglied des Kollegiums des MfS. Am 6. 12. 1989 beurlaubt, seit Januar 1990 in Rente.
[2]
Gespräche d. Vf. mit Udo Lemme, 28. 2. 1992 und 22. 4. 1994, mit Hans-Joachim Krüger, 11. 3. 1992 und 7. 12. 1994, sowie mit Gerhard Lauter, 24. 2. 1992 und 28. 5. 1994. Gotthard Hubrich ist 1990 verstorben.
[3]
Gespräch d. Vf. mit Udo Lemme, 28. 2. 1992.
[4]
Fernschreiben der BVfS Karl-Marx-Stadt an MfS Berlin (Neiber, ZAIG, ZKG, ZOS, HA VI), o. D. (7. 11. 1989) (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 79, Bl. 227).
[5]
Dieser Abstimmungsprozeß wird im übrigen von allen Seiten bestätigt (Gespräche d. Vf. mit Wolfgang Herger, 5. 3. 1992; mit Gerhard Lauter, 24. 2. 1992 und 28. 5. 1994, sowie mit Hans-Joachim Krüger, 7. 12. 1994).
[6]
Vgl. zu diesem Vorgang BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 553.
[7]
Dr. Harry Möbis, Jg. 1930, Metallarbeiter, später Wirtschaftswissenschaftler. Seit 1967 Staatssekretär und Leiter der Arbeitsgruppe für Staats- und Wirtschaftsführung beim Ministerrat; seit 1973 Staatssekretär und Leiter der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion. Am 8. November 1989 übernahm Möbis zusätzlich von Kurt Kleinert, der diese Funktion seit 1974 bekleidete und „aus gesundheitlichen Gründen" ausschied, die Leitung des Sekretariats des Ministerrats, die er auch unter der Modrow-Regierung innehatte. Möbis war einer Aufstellung der Zeitschrift „Die Andere" zufolge zugleich als einer der bestdotierten „Offiziere im besonderen Einsatz" (OibE) für die HA XVIII (Sicherung der Volkswirtschaft) des Ministeriums für Staatssicherheit tätig (vgl. Die Andere Nr. 12, 20. 3. 1991, Beilage Nr. 3: Die Hauptamtlichen, Teil 1: Die oberen Zweitausend auf den Gehaltslisten der Stasi, S. III).