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Hans-Hermann Hertle, 9./10. November 1989: Grenzübergang Sonnenallee: Massenabfertigung

Hans-Hermann Hertle, 9./10. November 1989: Grenzübergang Sonnenallee: Massenabfertigung

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

Sonnenallee: Massenabfertigung



Der Grenztruppen-Kommandant des Übergangs Sonnenallee, der den Grenzverkehr zwischen dem Ost-Berliner Stadtteil Treptow und dem West-Berliner Bezirk Neukölln regulierte, stand offenbar als einziger GÜST-Kommandant in Verbindung mit seinen Kollegen in der Bornholmer Straße. Die Entscheidungen am Treptower Übergang scheinen parallel zu denen in der Bornholmer Straße getroffen worden zu sein; möglicherweise erfolgte der Verzicht auf Kontrollen hier sogar etwas früher.

Bis 20.30 Uhr hatten sich am Grenzübergang etwa 15 Jugendliche eingefunden, die ihre sofortige Ausreise verlangten und sich davon auch nicht durch den Einsatz eines „Ansprechoffiziers" des zuständigen Volkspolizei-Reviers abbringen ließen. Die Weisung der HA VI, hartnäckigen Bürgern die Ausreise mit Personalausweis zu gestatten, wurde von den Paßkontrolleuren in der Sonnenallee ab 21.40 Uhr befolgt [1]; sie teilten Ausreiseformulare an die Wartenden aus und begannen kurz darauf mit der Abfertigung. Der Bildjournalist Frank Durré gehörte zu jenen, die passieren durften, und erlebte die Verwirrung mit, die beim Zoll über das Verfahren herrschte. Durré: „Zu den ersten, die von einer Paßkontrolle zum Zoll vorgelassen wurden, zählten eine Mutter mit einer 18jährigen Tochter. Ein Zollbeamter teilte den beiden mit: 'Sie können rüber, müssen dann aber drüben bleiben.' Die Mutter wollte unter dieser Bedingung wieder zurück, die Tochter trotzdem nach West-Berlin ausreisen. Es kam zu einem heftigen Familienstreit. Schließlich korrigierte ein zweiter Zollbeamter die Auskunft seines Kollegen und teilte den beiden Frauen mit, sie dürften wieder zurückkommen." [2] Ob am Übergang Sonnenallee Ausweise wie in der Bornholmer Straße ungültig gestempelt wurden, ist nicht bekannt.

Die ersten Ausreisenden, die gegen 22.00 Uhr auf der West-Berliner Seite eintrafen, berichteten, daß circa 100 Menschen auf der östlichen Seite auf ihre Abfertigung warteten [3]. Doch schon eine Stunde später war der Übergang von Trabbis verstopft. Um Mitternacht reichte der Pkw-Stau über einen Kilometer durch die Baumschulenstraße bis zur Köpenicker Landstraße zurück [4], und eine unüberschaubare Menschenmenge schob sich durch den Übergang.

Im Laufe des Abends hatten auch die „Weiterleiter" des DDR-Fernsehens in Adlershof gespürt, daß Unerwartetes und Ungeplantes auf den Straßen Berlins vor sich ging. Doch lagen in Adlershof weder Erklärungen noch Anweisungen vor. Um 21.53 Uhr wurde erstmals ein Spielfilm unterbrochen, um die ADN-Pressemitteilung über den Beschluß des Ministerrates noch einmal vollständig, wenn auch immer noch ohne erläuternden Kommentar, zu verlesen; bei der zweiten Spielfilmunterbrechung um 21.57 Uhr und in der Nachrichtensendung „AK ZWO" um 22.28 Uhr schienen die Sprecher schon über sich hinauszuwachsen, als sie bedeutungsschwer mit „also" ansetzten und mit beschwörender Stimme intonierten: „Also: Die Reisen müssen beantragt werden." [5] Auf Anfragen vieler Bürger, hatte der Nachrichtensprecher eingangs betont, „informieren wir Sie noch einmal über die neue Reiseregelung des Ministerrates". Er ergänzte die reine ADN-Meldung um den Hinweis, daß die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizei „morgen um die gewohnte Zeit geöffnet haben" und die ständigen Ausreisen erst erfolgen könnten, „nachdem sie beantragt und genehmigt worden sind". [6]

Wie ein direktes Dementi dieser mahnenden Belehrungen mußten demgegenüber die „Tagesthemen" wirken, die an jenem Abend wegen einer Fußballübertragung leicht verspätet auf Sendung gingen. Die DDR habe mitgeteilt, verkündete Moderator Hanns Joachim Friedrichs um 22.42 Uhr locker als erste Nachricht, „daß ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen." [7] Friedrichs Ansage erwies sich, wie die nächsten Fernsehbilder zeigten, als reichlich verfrüht, denn eine Live-Schaltung rückte den Berliner Tagesthemen-Reporter Robin Lautenbach ins Bild, der sich vor dem Übergang Invalidenstraße postiert hatte – der noch geschlossen war. Doch dann schilderten ihm West-Berliner Augenzeugen vor einem Millionenpublikum, daß in der Bornholmer Straße seit 21.30 Uhr die Grenze von DDR-Bürgern ohne Komplikationen, nur gegen Vorlage des Personalausweises, passiert werden könne – in Unkenntnis des zunächst klammheimlichen Ausbürgerungsvollzugs. Auch am Grenzübergang zwischen Treptow und Neukölln in der Sonnenallee und selbst am Alliiertenkontrollpunkt Checkpoint Charlie sei dies angeblich bereits Praxis, teilte Lautenbach mit und erklärte die Mauer kurzerhand zum Baudenkmal.

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] So die Einträge in den ODH-Filmen des PdVP Berln sowie insbes. Der Stasi-Kreisdienststelle Treptow. Vgl. MfS-Kreisdienststelle Treptow, ODH-Film vom 9. 11. 1889 / 7.00 bis 10. 11. 1989 / 7.00 Uhr, Nr. 11 (BStU, ASt. Berlin, A 204, Bl. 16). [2] Gespräch d. Vf. mit Frank Durré, 29. 7. 1996. [3] Vgl. die Meldungen des Lagedienstes der West-Berliner Polizei, in: Berliner Zeitung, 9. / 10. 11. 1991, S. 3. [4] Vgl. PdVP-Rapport Nr. 230, lfd. Nr. 19 (Archiv Polpräs BLN / DEZ VB 132). [5] AK ZWO, 9. 11. 1989, 22.28 Uhr. [6] Ebd. [7] Tagesthemen, 9. 11. 1989, 22.42 – 23.22 Uhr.
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