Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 20.30-24.00 Uhr: Grenzübergang Bornholmer Straße – „Wir fluten jetzt"
Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 20.30-24.00 Uhr: Grenzübergang Bornholmer Straße – „Wir fluten jetzt“Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989
Ch. Links Verlag, Berlin 1999
20.30 – 24.00 Uhr: Der Mauerdurchbruch
Bornholmer Straße: „Wir fluten jetzt!"
Um 20.30 Uhr waren es bereits einige hundert Menschen, wenn nicht Tausende, die sich am Schlagbaum des Grenzübergangs Bornholmer Straße eingefunden hatten. Die Paßkontrolleure jedenfalls verloren allmählich den Überblick: „Wir konnten nicht mehr überblicken, wie weit die Massen zurückstanden", berichtete später Oberstleutnant Harald Jäger, der an diesem Abend diensthabender Chef war.
Der Ansturm ausgerechnet auf den Übergang in der Bornholmer Straße war kein Zufall. Während sich im Umkreis der Übergänge in der Stadtmitte überwiegend Ministerien, Büros und Wohnungen der Staatsfunktionäre und Diplomaten befanden, war der dichtbesiedelte Prenzlauer Berg die Hochburg der Literaten- und Künstlerszene, in deren Kneipen, Cafés und anderen Treffs Abend für Abend allerlei „feindlich-negative und dekadente Elemente", wie die Staatssicherheit mißtrauisch registrierte, zusammenzukommen pflegten. Den Kern der Einwohnerschaft stellte jedoch die offiziell in der DDR herrschende Klasse, die Arbeiterschaft. Deren Mietwohnungen reichten wie die der Szeneangehörigen direkt bis an den Grenzübergang heran. Die ersten, die – von Neugier getrieben – nur „mal gucken gehen" wollten, regten durch ihre Bewegung auf der Straße die Bereitschaft derer an, sich selbst an Ort und Stelle ein eigenes Bild zu verschaffen, die bis dahin noch unsicher und rätselnd vor dem Fernseher saßen. So kam eine sich langsam, aber stetig selbst verstärkende Bewegung in Richtung Kontrollpunkt in Gang.
Grenzübergangsstellen waren sicherheitspolitisch hochkompliziert organisierte Territorien, auf denen die Verantwortung zwischen Grenztruppen, Staatssicherheit und Zoll dreigeteilt war. Für ihre militärische Sicherung, im besonderen die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen, waren die Grenztruppen zuständig. Sie stellten jedoch nur nominal den „Kommandanten" der GÜST [1], denn der grenzüberschreitende Verkehr war dem SED-Regime zu wichtig, um ihn den Grenztruppen mit ihren ständig wechselnden Unterstellungsverhältnissen zu überlassen. [2] Deshalb oblag die Sicherung, Kontrolle und Überwachung des gesamten Reiseverkehrs einschließlich der Fahndung sowie der Realisierung von Festnahmen den Paßkontrolleinheiten des MfS, die als tschekistische Verkleidung die Uniform der Grenztruppen trugen. [3] Die reine Sach- und Personenkontrolle schließlich führte die Zollverwaltung durch. Die Volkspolizei war nicht direkt auf der GÜST präsent; sie hatte aber deren unmittelbares Vorfeld, das sogenannte „freundwärtige Hinterland", von Störungen des Reiseverkehrs freizuhalten.
Diensthabender Offizier der Grenztruppen und Stellvertreter des Kommandanten der GÜST Bornholmer Straße war am Abend des 9. November Major Manfred Sens. Sens unterstand dem Grenzregiment-35 in Niederschönhausen, das eines der sieben Grenzregimenter des für die 156,4 Kilometer lange Berliner Mauer zuständigen Grenzkommandos Mitte mit Sitz in Berlin-Karlshorst war. Drei dieser Grenzregimenter waren in Berlin, vier im Bezirk Potsdam untergebracht. Daneben gehörten zwei am Rand von Berlin, in Oranienburg und Wilhelmshagen, stationierte Grenzausbildungsregimenter zum Grenzkommando Mitte. Alle neun Regimenter waren mit je 1000 bis 1400 Mann aufgefüllt.
In normalen Zeiten erfolgte die Bewachung der Grenze nach den Grundsätzen der Regimentssicherung; [4] in einem sechs- bis zehnstündigen Dienst kamen die fünf Kompanien eines Grenzregiments aufeinanderfolgend zum Einsatz. Die Grenzübergänge wurden nach einem ähnlichen Dienstplan zusätzlich von einer Sicherungskompanie bzw. Sicherungszügen geschützt, die jedem Grenzregiment beigestellt waren. Im normalen Dienst wurden die zwischen 12,7 km (GR-35) und 29,8 km (GR-38) langen Grenzabschnitte der Grenzregimenter von nicht mehr als rund 100 Mann, zuzüglich der Sicherungszüge an den Grenzübergängen, bewacht. In der verstärkten Grenzsicherung, die seit dem 40. Jahrestag an als besonders gefährdet betrachteten Abschnitten ohne Unterbrechung befohlen war, waren diese Kräfte um etwa ein Viertel aufgestockt. [5]
Soweit es Major Manfred Sens am Grenzübergang Bornholmer Straße betraf, hatte er die vier wachhabenden Grenzposten seines Sicherungszuges [6] wie an jedem Tag auch am 9. November dazu „vergattert", "Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, die Ruhe und Ordnung im Grenzgebiet aufrechtzuerhalten, die Ausdehnung von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der DDR zu unterbinden, Grenzverletzer festzunehmen bzw. zu vernichten". [7] „Schabowski, kannst du das überhaupt verantworten, was du jetzt angerichtet hast?" schoß es ihm durch den Kopf, als er dessen Pressekonferenz verfolgte. [8] Er verließ sein Dienstzimmer und eilte in den Bereich der Vorkontrolle, um den dortigen Posten zu informieren, daß unter Umständen in Kürze mit „Personenzulauf" zu rechnen sei. Als er dort eintraf, standen die ersten Menschen schon am Schlagbaum und fragten, ob sie ausreisen dürften. Einige kannte Sens vom Sehen, denn er wohnte in unmittelbarer Nähe des Übergangs. Die jetzt vor ihm auf der anderen Seite des Schlagbaumes standen und in den Westen wollten, waren zu einem nicht geringen Teil seine Nachbarn.
Zu Sens trat gegen 19.30 Uhr der stellvertretende Leiter der Paßkontrolleinheit, Oberstleutnant Harald Jäger, an den Schlagbaum. Fünfundzwanzig Jahre schon versah er am Grenzübergang Bornholmer Straße seinen Dienst. Seit der Öffnung der ungarischösterreichischen Grenze hatten die Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen für ihn und Sens an Sinn verloren. Beide rechneten nach der Vorlage des Reisegesetz-Entwurfs mit grundlegenden Veränderungen des Reiseverkehrs und auch des Grenzregimes noch im laufenden Jahr. Der Bissen war Jäger jedoch förmlich im Hals steckengeblieben, als er beim Abendbrot in seinem Dienstzimmer von Schabowskis Mitteilung überrascht worden war, die neuen Reiseregelungen gälten „ab sofort". Jäger über seine erste Reaktion:
„Ich dachte: Das ist doch Quatsch. Ab sofort? Das geht doch gar nicht. Was heißt denn hier 'ab sofort'? Das ist doch gar nicht möglich. Und zu meinen Mitarbeitern habe ich laut gesagt: 'Das ist doch absoluter geistiger Dünnschiß!' Ich habe das Essen stehenlassen – die Truppe fragte, was ist denn los? – und bin raus. Aus dem Nebenzimmer habe ich Oberst Rudi Ziegenhorn angerufen, der in der Hauptabteilung VI des MfS für uns zuständig war.
'Hast Du den Quatsch von Schabowski auch gehört', fragt er mich.
'Ja eben, deshalb rufe ich Sie ja an', sage ich. 'Was ist denn jetzt los?'
'Ja nichts', sagt er, 'was soll denn sein?'
Ich sage: 'Na ja, Sie haben es doch selber gehört!'
'Na eben', sagt er, 'das geht ja gar nicht. Sind denn schon welche bei euch an der GÜST?'
'Im Moment noch nicht', sage ich, 'aber ich rufe mal unten im Bereich Vorkontrolle an.'
Ich habe dann im Bereich Vorkontrolle anrufen lassen. 'Posten VII' nannte man das damals, und dort befand sich auch der Schlagbaum. Der Diensthabende meldete, daß die ersten zehn oder zwanzig Personen schon da seien und fragen, ob sie reisen dürfen.
Ich sage zu Ziegenhorn: 'So zehn oder zwanzig Mann stehen vor der GÜST.'
'Na ja', sagt er, 'dann warte erst einmal ab. Laß die mal stehen und schick sie zurück.'"
Nach diesem Telefonat hatte sich Jäger selbst auf den Weg zum Schlagbaum gemacht, wo er nun mit Sens feststellen mußte, daß sich in der Zwischenzeit schon 50 bis 100 Mann angesammelt hatten. „Wir machten den Bürgern die Mitteilung", berichtet Jäger, „daß wir keine Weisung erhalten hatten, ihnen die Ausreise zu gestatten, und vertrösteten sie auf den nächsten Tag."
Die Paßkontrolleinheiten (PKE) der Berliner Grenzübergänge unterstanden nicht der Berliner Bezirksverwaltung des MfS, sondern direkt der Hauptabteilung VI in der MfS-Zentrale. [9] Die HA VI war im gesamten Staatsgebiet der DDR für die Paßkontrolle, den Reise- und Transitverkehr sowie den Fahndungsprozeß zuständig und gehörte zum Verantwortungsbereich des stellvertretenden Staatssicherheitsministers Generalleutnant Gerhard Neiber. Sie hatte ihren Sitz in der Schnellerstraße in Berlin-Treptow – und von dort hatte Jäger, wie sein Bericht zeigt, keinerlei Vorinformation erhalten.
In den Dienstvorschriften der Grenztruppen und des MfS waren die spezifischen Aufgaben von Sens und Jäger einerseits klar getrennt, andererseits aber auch ihr Zusammenwirken in übergreifenden Fragen geregelt. [10] Allein in Fragen der äußeren Sicherheit hatte der Kommandant der GÜST gegenüber den Mitarbeitern der Paß- und Zollkontrolle, die strukturmäßig mit Makarow-Pistolen und 14 Schuß Munition ausgerüstet waren, Weisungsbefugnis. Umgekehrt hatte der Leiter der PKE die alleinige Entscheidungsbefugnis über alle Aspekte des Reiseverkehrs. Die jetzt eingetretene Situation jedoch war eine Grenzsituation und in den Dienstvorschriften nicht vorgesehen. Waren Schabowskis Worte so zu verstehen, daß sich noch in der Nacht ein staatlich erlaubter, freier Reiseverkehr anbahnte? Oder entwickelte sich vor den Augen von Sens und Jäger eine erhöhte Aktivität gegnerischer Kräfte, die einen gewaltsamen Grenzdurchbruch befürchten ließ? Im letzteren Fall war sofort Alarm auszulösen, der grenzüberschreitende Verkehr zu unterbrechen, die Kontrollen waren einzustellen, die pioniertechnischen Sperranlagen zu verriegeln und „taktische Handlungen zur Festnahme oder Vernichtung des Gegners" einzuleiten. [11] Der Befehl jedoch, zu einer höheren Sicherungsstufe, der „verstärkten" oder gar „gefechtsmäßigen Sicherung" der GÜST, überzugehen, hätte in jedem Fall der Bestätigung der nächsthöheren Kommandoebene der Grenztruppen bedurft. Im übrigen vermittelten die friedfertigen Bürger am Schlagbaum nicht den Eindruck gefährlicher „gegnerischer Kräfte", wenn ihr Begehren auch außergewöhnlich war. „Der Kommandant", hieß es zudem in den Dienstvorschriften der Grenztruppen, erfüllt „die ihm gestellten Aufgaben auf der Grundlage der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse." [12] Den aktuellen Stand der Beschlußlage der Partei aber hatte Schabowski soeben verkündet – und genau darauf beriefen sich die Bürger. Die Lage war kompliziert, ihre Beurteilung nicht leicht. Bevor sie etwas Falsches unternahmen, hielten es Sens und Jäger für ratsam, zunächst einmal ihre Vorgesetzten weiter zu informieren und die Befehlslage zu erkunden. [13]
Major Sens erstattete Meldung im Grenzregiment-35. Doch auch der dort diensthabende Offizier, ein Stellvertreter des Kommandeurs, wußte von nichts und hatte noch keinerlei Instruktionen. „Paß auf, daß sie euch nicht die Waffen klauen", riet er Sens besorgt und gab ihm noch den Tip: „Laßt die Waffen stecken, damit nichts passiert!" [14]
Jäger rief erneut seinen Vorgesetzten, Oberst Ziegenhorn, an und meldete den weiteren Zulauf:
„'Wie ist denn die Stimmung?' wollte Ziegenhorn wissen.
Jäger antwortete: 'Noch fragen die Bürger bloß, ob sie ausreisen dürfen.'
'Na ja, ist gut', sagte Ziegenhorn, 'vertröste sie weiter und informier mich wieder.'" [15]
Kurze Zeit später wurde der inzwischen von Jäger alarmierte Leiter der PKE zu einer zentralen Lageberatung aller Berliner PKE-Chefs in die Schnellerstraße einbestellt. Den zweiten stellvertretenden Leiter der Paßkontrolleinheit, Oberstleutnant Edwin Görlitz, hatte es an seinem dienstfreien Abend nach der Pressekonferenz nicht mehr zu Hause gehalten. Achtundzwanzig Jahre stand er im Paßkontroll-Dienst an der Bornholmer Straße. Nachdem er die Pressekonferenz im Fernsehen gesehen hatte, verriet ihm seine politische Erfahrung instinktiv, daß dort noch in der Nacht einschneidende Veränderungen bevorstanden. [16]
Sens, Jäger und Görlitz schlitterten in die schwierigste Entscheidungssituation ihres Lebens, denn der Versuch, die Menschen zurückzuschicken und sie auf den nächsten Tag zu vertrösten, schlug fehl. Statt dessen kamen ständig neue hinzu, und die Menge schwoll weiter an.
Kurz nach 20.30 Uhr traf endlich die Volkspolizei mit einem Funkstreifenwagen und zwei Mann Besatzung im freundwärtigen Hinterland ein. Über Lautsprecher appellierte ein Oberleutnant der Volkspolizei an die Menschen, „im Interesse von Ordnung und Sicherheit" den Vorraum des Grenzübergangs zu verlassen und sich am nächsten Morgen an die Meldestellen zu wenden: „Es ist nicht möglich, Ihnen hier und heute die Ausreise zu gewähren." [17] Doch aus der Menge wurde mit der ADN-Meldung geantwortet, die ein junger Mann aus der Tasche zog und laut verlas. Und hatte nicht ein Mitglied des Politbüros „ab sofort" gesagt? Autorität und Ansehen der Volkspolizei waren nicht so bedeutend, daß ihre Anweisung gegen den Beschluß der Regierung und die Worte des Politbüros eine ernste Chance gehabt hätte. Und lagen zwischen sofort und morgen nicht die Unwägbarkeiten einer ganzen Nacht?
21.00 Uhr: Stiller Alarm
Als die Menschenmenge gegen 21.00 Uhr lautstark die Öffnung des Schlagbaumes forderte, der Rückstau der Autos über einen Kilometer bis zur Schönhauser Allee reichte und die Seitenstraßen verstopfte, sah sich Jäger nicht länger in der Lage, mit seinen 14 Mitarbeitern sowie fünf Grenzsoldaten und 16 bis 18 Zollkontrolleuren den Übergang zu halten. Die Informationen, die Major Sens ins Grenzregiment-35 weitergab, hatten keinerlei Befehle zur Folge. Die technische Ausstattung der GÜST und die Bewaffnung ihres Personals waren nicht darauf ausgelegt, den Übergang aus dem Stand heraus erfolgreich gegen einen Massenansturm zu verteidigen. Paß- und Zollkontrolleure verfügten neben ihren Pistolen über je vier Maschinenpistolen, für die jeweils drei Magazine à 40 Schuß bereitlagen. Hinzu kamen die Waffen der Grenztruppen. Neben seiner Aussichtslosigkeit stand ein Schußwaffeneinsatz für die Verantwortlichen aus reinem Selbsterhaltungstrieb außer Frage. „Wenn die Masse ins Rennen kommt und wir schießen, dann hängen wir da vorne am Fahnenmast", war Manfred Sens an diesem Abend klar. Nicht einmal an eine Selbstverteidigung war unter diesen Bedingungen zu denken, ergänzt Harald Jäger: „Die Leute hätten uns überrollt und mit unseren eigenen Gummiknüppeln verhauen!" [18]
Jäger löste schließlich einen „stillen" Alarm aus und holte alle erreichbaren PKE-Mitarbeiter, insgesamt rund 50 bis 60 Mann, zur Verstärkung heran, um die Gebäude, Einrichtungen und die Fahndungskartei zu schützen.
21.20 Uhr: Ventillösung Ausbürgerung
Kurz nach 21.00 Uhr nahm Jäger erneut Kontakt mit MfS-Oberst Ziegenhorn auf, schilderte ihm die sich weiter verschärfende Situation und bat darum, die Bürger ausreisen lassen zu dürfen, weil die Paßkontrolleure dem Druck nicht länger standhalten könnten. [19] Jäger über Ziegenhorns Reaktion:
„Ziegenhorn sagte zu mir: 'Warte mal, ich schalte dich mal durch. Aber sei still.' Ziegenhorn sprach mit Generalleutnant Neiber, dem stellvertretenden Minister, der wiederum auch noch jemand direkt mit in der Strippe hatte. Das kann damals eigentlich nur jemand von der Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees gewesen sein; ich vermutete, daß es Wolfgang Herger oder sein Stellvertreter war. Ziegenhorn berichtete Neiber, was ich ihm gemeldet hatte. Da fragte Neiber: 'Ja, ist denn der Jäger in der Lage, die Situation real einzuschätzen, oder hat er einfach nur Angst?' Er wollte praktisch die Situation, die ich geschildert hatte, anzweifeln. Ziegenhorn teilte ihm mit: 'Wenn Jäger die Lage so meldet, ist sie so. Da können Sie sicher sein.' Dann haben sie mich aus der Leitung rausgeschmissen; ich sollte wohl nicht hören, wie es weiterging. Kurze Zeit später rief Ziegenhorn zurück.
Er sagt: 'Wir verfahren folgendermaßen: Die am aufsässigsten sind – so nannte man das damals – und die provokativ in Erscheinung treten, die laß raus. Denen macht ihr im Ausweis einen Stempel halb über das Lichtbild – und die kommen nicht wieder rein.'
Ich frage zurück: 'Geht das überhaupt so?'
Da meint er nur: 'Mach dir darüber keinen Kopf!' – Diese Antwort zeigt, daß selbst Ziegenhorn das ganze Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits als zweifelhaft empfand. – 'Und was die anderen betrifft', sagt er noch, 'von allen, die du rausläßt, schreibt ihr euch die Personalien auf. Und bei denen, die den Stempel draufhaben, macht ihr euch ein Zeichen dahinter, damit wir wissen, wer draußen geblieben ist und wer wieder rein durfte.'
Wir haben grundsätzlich jeden, den wir auf diese Weise rausgelassen haben, aufgeschrieben. Und diejenigen, die wir nicht mehr reinlassen wollten – das mußten praktisch wir entscheiden, das heißt ich oder der Zugführer –, kriegten den Stempel auf das Lichtbild. Und das hieß, die kommen nicht mehr zurück. Und die wurden in der Liste extra gekennzeichnet, damit wir wußten: Die müssen draußen bleiben."
Nicht allen, die zu diesem Zeitpunkt ausreisen durften, wurde jedoch ein Paßkontrollstempel über das Lichtbild verpaßt. Einzelne wurden herausgelassen, „um ein Ventil zu öffnen", wie Jäger sagt. Besonders denjenigen, die nach dem Verständnis der Paßkontrolleure „provokativ" in Erscheinung getreten waren, wurde die Ausreise erlaubt. Jäger: „Damit wir sie los sind, auf deutsch gesagt. Und die sollten nicht mehr reinkommen. Wir hatten drei Schalter aufgemacht, und unser Zugführer, der stellvertretende Zugführer und der Parteisekretär blieben dann stehen und sagten bei der Abfertigung: 'Das ist einer von den Provokativen, mach den Stempel drauf.' Der Abfertigungseingang vorne wurde kurz geöffnet, einige Bürger hereingelassen, und dann wieder geschlossen. Dann wurde erst einmal abgefertigt, bevor der nächste Schub wieder hereingelassen wurde. Und während wir abfertigten, stieg vor der GÜST der Druck, und die Forderung, aufzumachen, wurde lauter."
Diese Ventillösung, so merkten die Paßkontrolleure schnell, war von ihren Vorgesetzten unklug gedacht. Jäger: „Das Ventil zu öffnen bedeutete doch, daß die anderen sahen, daß einige rausdurften – bloß sie nicht. Also wurde von den anderen um so energischer verlangt: „Tor auf!" [20]
Jubelnd liefen die ersten Ost-Berliner über die Bornholmer Brücke nach West-Berlin – und ahnten nicht, daß ihre Personalausweise mit einem Visum, das das Lichtbild halb bedeckte, ungültig gestempelt worden waren.
23.30 Uhr: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!"
Die Absicht, die Ausreisenden heimlich auszubürgern, ging nicht auf. Während die ersten Rückkehrer auf der Westseite des Kontrollübergangs auf ihre Wiedereinreise drängten und sich nicht einfach nach West-Berlin zurückverweisen ließen – manche Ehepaare waren „nur mal gucken" gegangen und wollten zu ihren schlafenden Kindern zurück –, wuchs die Menschenmenge auf der Ostseite immer mehr an. Die Lage wurde allmählich für die Kontrolleure bedrohlich. Lautstark forderte die Menge immer energischer im Chor: „Tor auf! Tor auf!", und kurze Zeit später erschallten die Rufe: „Wir kommen wieder, wir kommen wieder!" Als schließlich der Drahtgitterzaun im Vorraum des Grenzübergangs beiseite gedrückt wurde, bangte Jäger um das Leben seiner Mitarbeiter.
Telefonisch teilte er Ziegenhorn gegen 23.30 Uhr mit: „Es ist nicht mehr zu halten, wir müssen die GÜST aufmachen. Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus." [21] Görlitz benachrichtigte Sens: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!" [22] Die Mitarbeiter der Paßkontrolle lösten die Sicherung des Schlagbaumes in der Vorkontrolle, Sens öffnete den Schlagbaum auf der Bornholmer Brücke. Tausende von Menschen strömten unkontrolliert in die Grenzanlage, überrannten die Kontrolleinrichtungen, liefen über die Brücke und wurden auf der West-Berliner Seite begeistert begrüßt; ob mit oder ohne Personalausweis spielte beim Grenzübertritt in der Bornholmer Straße ab diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Am nächsten Tag gab der diensthabende Leiter an, daß allein zwischen 23.30 Uhr und 0.15 Uhr schätzungsweise 20 000 Menschen den Übergang passiert hatten: „Wir wurden davon völlig überrollt." [23]
Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1]
Vgl. Ministerrat der DDR / MfNV, Aufgaben der Grenztruppen der DDR an den Grenzübergangsstellen, DV 018 / 0 / 005, GVS-Nr. A 372404, 1980 (BStU, ZA, MfS-AGM, Bl. 272 – 448).
[2]
Die Grenzabfertigung war dem MfS am 1. 7. 1962 übertragen worden. Vgl. dazu auch Petzold 1994, S. 110 ff.
[3]
Vgl. Ministerrat der DDR / MfS / HA VI, Ordnung über die Durchführung der Paßkontrolle an den Grenzübergangsstellen der DDR – Paßkontrollordnung, (BStU, ZA, MfS-HA / Ltr. / RuG / 534 / 78). – Als Dienststelle hatten die Mitarbeiter der PKE bei Anfragen von Reisenden das „Kommando der Grenztruppen der DDR" anzugeben (vgl. ebd., Punkt I / 1, S. 9).
[4]
Abweichend davon wurde in den Grenzregimentern-35 (Niederschönhausen) und -38 (Hennigsdorf) seit 1. 12. 1988 die Kompaniesicherung erprobt (vgl. Befehl Nr. 70 / 88 des Chefs der Grenztruppen vom 13. 10.1988, in: BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 62, Bl. 120 – 129). Das bedeutete, daß der jeweils 1. bis 4. Kompanie dieser beiden Regimenter Grenzabschnitte fest zugeordnet wurden; die Kräfte der 5. Kompanie wurden ihnen je nach Bedarf als flexibel einsetzbare Reserve zugewiesen. Die Offiziere der vier Kompanien sollten auf diese Weise enger mit den örtlichen Funktionären der Partei- und Staatsorgane sowie der Bevölkerung im Grenzgebiet verbunden werden, um insbesondere das System der Tiefensicherung der Grenze weiter zu perfektionieren. Zur internen, positiven Einschätzung der Ergebnisse der Kompaniesicherung vgl. Abt. Sicherheitsfragen / Sektor Nationale Volksarmee, Information über die Beratungen zu Problemen des Zusammenwirkens der Grenztruppen der DDR, des MfS und der VP sowie der Zusammenarbeit mit den örtlichen Partei- und Staatsorganen bei der Erprobung der Kompaniesicherung in den Grenzregimentern Niederschönhausen (Berlin) und Hennigsdorf (Potsdam), Berlin, 26. April 1989 (BStU, ZA, MfS-SdM 705, Bl. 5 – 13).
[5]
Die verstärkte Grenzsicherung erfolgte im Dritteldienst. Das bedeutete den aufeinanderfolgenden Einsatz von drei Kompanien mit den Dienstzeiten 20.00 – 04.00 Uhr, 04.00 – 10.00 Uhr und 10.00 – 20.00 Uhr. Die vierte Kompanie wurde als Verstärkung auf die drei diensthabenden Kompanien aufgeteilt.
[6]
Der Sicherungszug für die GÜST Bornholmer Straße bestand insgesamt aus einem Zugführer und einem stellvertretenden Zugführer (Berufsoffiziere), zwei Unter-Offizieren („Dreijährigen") und 21 besonders ausgewählten Soldaten im Grundwehrdienst (überwiegend Ältere, Verheirate, mit Kindern und / oder materiellem Besitz). Die Sicherung der GÜST erfolgte im „Vierteldienst" als Abfolge von jeweils achtstündigen Früh-, Spät- und Nachtschichten, an die sich eine Freischicht anschloß.
[7]
Gespräch d. Vf. mit Manfred Sens, 11. 9. 1995. – Der Begriff „Vergatterung" wurde im militärischen Sprachgebrauch als Synonym für einen Wachdienst benutzt. Die „Vergatterungsformel" bezeichnete die Aufgabe, die für die Dauer eines Wachdienstes gestellt und vom Vorgesetzten zu jedem Dienstbeginn ausgesprochen wurde.
[8]
Gespräch d. Vf. mit Manfred Sens, 11. 9. 1995.
[9]
Zur Struktur der HA VI siehe: BStU 1995, S. 234 – 251.
[10]
Das Zusammenwirken des MfS, der Grenztruppen und des MdI bei der „Sicherung der Staatsgrenze" war in verschiedenen Dienstanweisungen und Anordnungen der beteiligten Ministerien festgelegt. Die Regie des Zusammenwirkens führte das MfS, das seine „Kooperationspartner" zudem in mannigfaltiger Weise mit OibE und IM unterwandert hatte. Grundlegend sind deshalb die entsprechende Dienstanweisung von Mielke und die folgenden Durchführungsbestimmungen. Vgl. Ministerrat der DDR / MfS, Dienstanweisung Nr. 10 / 81 über die politisch-operativen Aufgaben bei der Gewährleistung der territorialen Integrität der DDR sowie der Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenze zur BRD und zu Westberlin und ihrer Seegrenze, Berlin, 4. Juli 1981, VVS-MfSNr.38 / 81 (dok. in: Deutscher Bundestag 1992, Dok. 122, S. 903 – 960).
[11]
Vgl. den Abschnitt „Handlungen unter besonderen Bedingungen der Lage. Gewaltsamer Grenzdurchbruch", in: Ministerrat der DDR / Mf-NV, Aufgaben der Grenztruppen der DDR an den Grenzübergangsstellen, DV 018 / 0 / 005, GVS-Nr. A 372404, 1980, Punkt IV / 6 (BStU, ZA, MfS-AGM, Bl. 304).
[12]
Vgl. ebd., Punkt VII / 7 / 1.
[13]
Alle „politisch-operativ relevanten Vorkommnisse und Erscheinungen im grenzüberschreitenden Verkehr und an den GÜST" waren im Lagefilm der PKE zu erfassen und nachzuweisen. Der Lagefilm der PKE Bornholmer Straße war bisher ebensowenig aufzufinden wie die Lagefilme der übrigen Berliner PKE bzw. der HA VI insgesamt. Soweit diese Dokumente im Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen überliefert sein sollten, war ein Zugriff bis zum Abschluß dieser Arbeit nicht möglich, weil die Akten der Hauptabteilung VI noch nicht vollständig erschlossen sind. Auch die Lagefilme der GÜST-Kommandanten bzw. der Diensthabenden Offiziere der Berliner Grenzregimenter sowie des Grenzkommandos Mitte standen für diese Arbeit nicht zur Verfügung.
[14]
Gespräch d. Vf. mit Manfred Sens, 11. 9. 1995.
[15]
Gespräch d. Vf. mit Harald Jäger, 7. 8. 1995.
[16]
Vgl. Edwin Görlitz, in: Spiegel-TV, Der 9. November 1989. Dokumentarfilm, Autor: Georg Mascolo, 4. 11. 1990.
[17]
Die Szene ist bild- und tondokumentiert in: Spiegel-TV, Der 9. November 1989. Dokumentarfilm, Autor: Georg Mascolo, 4. 11. 1990.Vgl. auch Dümde 1990b, S. 9.
[18]
Interview mit Harald Jäger, in: Wochenpost Nr. 46, 8. 11. 1995, S. 14.
[19]
Vgl. Gespräch d. Vf. mit Harald Jäger, 7. 8. 1995.
[20]
Gespräch d. Vf. mit Harald Jäger, 7. 8. 1995. – Vgl. dazu auch die Berichte von Harald Jäger und Edwin Görlitz, in: Spiegel-TV, Der 9. November 1989. Dokumentarfilm, Autor: Georg Mascolo, 4. 11. 1990. - Auf diese Darstellung stützten sich auch Süß 1990, S. 9, sowie Dümde 1990a und 1990b. Zur Aussage Jägers paßt, daß das PdVP Berlin um 21.40 Uhr anwies, die Ausländermeldestelle im Haus des Reisens mit der alleinigen Absicht zu öffnen, „Ersuchen nach sofortiger ständiger Ausreise bearbeiten zu können". Von Visa für Privatreisen war keine Rede (siehe: Fernschreiben des PdVP Berlin an MdI, 10. 11. 1989, 0.30 Uhr, Anlage zu: PdVP-Rapport Nr. 230; vgl. auch VPI Berlin-Friedrichshain, Rapport 268 / 89 für den 9. 11. 1989, 4.00 Uhr, bis 10. 11. 1989, 4.00 Uhr, Lagefilm, in dem um 21.45 Uhr unter der lfd. Nr. 29 entsprechend festgehalten wurde: „Alle Bürger, die sofort ausreisen wollen, sind an die Ausländermeldestelle zu verweisen" (ARCHIV POLPRÄS BLN / DEZ VB 132). – Alle Hervorhebungen v. Vf.
[21]
Gespräch d. Vf. mit Harald Jäger, 7. 8. 1995.
[22]
Gespräch d. Vf. mit Manfred Sens, 11. 9. 1995. – Manfred Sens bestätigt den von Jäger angegebenen Zeitpunkt der Öffnung ebenso wie eine Live-Reportage von Manfred Füger in der „Gemeinschaftssendung von RIAS I und RIAS II zur Öffnung der Berliner Mauer in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989" (Deutschland-Radio Berlin, Dokumentation / Archiv, 677-566 / A / I-II, 19 cm; 95 Min.).
[23]
Vgl. BZ am Abend, 10. 11. 1989.