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Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 19.00-20.15 Uhr: Fiktionen der Medien

Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 19.00-20.15 Uhr Fiktionen der Medien

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

19.00 – 20.15 Uhr: Fiktionen der Medien



Bei den meisten Journalisten hatte die Pressekonferenz ein großes Rätselraten über die schwer verständlichen Informationen hinterlassen. Hatte Schabowski nicht vor der Presse – wie im übrigen wenige Stunden zuvor Krenz vor dem Zentralkomitee – in seinen einleitenden Worten hervorgehoben, daß man aus dem Entwurf des Reisegesetzes lediglich „den Passus herausnimmt und in Kraft treten läßt, der (...) die ständige Ausreise regelt", und ausdrücklich den Zusammenhang hergestellt, auf diese Weise das Problem der illegalen Ausreisen über die CSSR zu lösen? Die neue Regelung mache es jedem Bürger möglich, so Schabowski, „über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen".

Die ersten Meldungen, die die Korrespondenten der Nachrichtenagentur Reuters um 19.03 Uhr, gefolgt von DPA um 19.04, über den Ticker verbreiteten, hoben auf diesen klaren Satz ab. [1] Während viele Journalisten noch debattierend im Pressezentrum standen oder sich in der Mokkabar den Kopf zerbrachen, wie es sich mit den Privatreisen verhielt, preschte Associated Press um 19.05 Uhr vor und interpretierte die Reiseregelung als „Grenzöffnung": "Die DDR öffnet nach Angaben von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski ihre Grenzen. Dies sei eine Übergangsregelung bis zum Erlaß eines Reisegesetzes, sagte Schabowski." [2] Das war zwar nicht unbedingt falsch, aber auch nicht gerade präzise. Die AP-Meldung macht jedoch deutlich, daß die Schabowski-Mitteilung einen Interpretationsspielraum enthielt, den die Journalisten in Ermangelung einer präzisen Information zu füllen begannen, womit sie auf ihre Weise das Heft des Handelns in die Hand nahmen. Die Pressemitteilung über den Ministerrats-Beschluß, von der Schabowski annahm, sie sei bereits verteilt worden, hatte noch immer niemand in der Hand.

Regierungssprecher Wolfgang Meyer allerdings lag sie vor. [3] Meyer, zuvor als Pressesprecher im Außenministerium tätig, war erst am 7. November vom Parteiapparat in diese Funktion delegiert worden [4], die zugleich die Leitung des Presseamtes des Ministerrates einschloß. Seine erste Aufgabe hatte am 7. November darin bestanden, den Rücktritt der Regierung bekanntzugeben. Als Regierungssprecher ohne Regierung saß der neue Mann zwischen Baum und Borke. Die Pressemitteilung, die am späten Nachmittag auf seinen Schreibtisch gekommen war, trug für ihn unübersehbar den handschriftlichen Sperrvermerk: 10. 11., 4.00 Uhr. Für Meyer war damit eindeutig und klar, daß die Meldung erst für die Frühsendungen des Rundfunks und die Zeitungen des nächsten Tages bestimmt war. Gegen 17.00 Uhr ließ er ein Exemplar per Kurier zum ADN befördern, denn die Monopol-Nachrichtenagentur der SED mußte es rechtzeitig vor Redaktionsschluß an die DDR-Zeitungen übermitteln. Niemand informierte ihn über den Einfall von Krenz, der Regierungssprecher möge die Pressemitteilung „gleich" verkünden. Entsprechend fiel Meyer aus allen Wolken, als er Schabowski im Fernsehen „sofort" und „unverzüglich" sagen hörte.

Auch der Generaldirektor des ADN, Günter Pötschke [5], zugleich Mitglied des Zentralkomitees, hatte die Fernsehübertragung der Pressekonferenz verfolgt. „Ich dachte, ich höre und sehe nicht richtig!" war seine erste Reaktion. Schabowskis Worte klangen noch im Raum, als Pötschke bereits mit Meyer telefonierte. „Haste gesehen?" fragte er fassungslos den Regierungssprecher. „Der muß total verrückt sein", antwortete Meyer konsterniert. „Was machen wir denn nun?" wollte Pötschke wissen. „Jetzt haben wir hier die Sperrfrist-Meldung, und an und für sich ist schon alles raus! Wir können doch jetzt nicht noch die Sperrfrist halten. Rundfunk und Fernsehen müssen doch jetzt auch berichten!" [6] Pötschke und Meyer entschieden in Windeseile, die Sperrfrist aufzuheben. Um 19.04 Uhr gab ADN die Pressemitteilung des Ministerrates an alle seine Kunden weiter – auch an seine West-Abnehmer [7]; in der folgenden halben Stunde wurde sie von den westlichen Nachrichtenagenturen verbreitet. [8] Der ADN-Meldung aber auch nur den klärenden Halbsatz voranzustellen, daß die Reiseregelung erst ab dem kommenden Tag in Kraft treten sollte – und damit Schabowskis Malheur zu korrigieren und eine Schadensbegrenzung zumindest zu versuchen –, lag so vollkommen außerhalb der Routine und der Praxis der erfahrenen Parteijournalisten, daß sie auf diesen Gedanken gar nicht kamen.

Der ADN, der Kompaß aller DDR-Medien, fiel zu diesem Thema danach völlig aus. Zunächst brachte er keine Meldungen, weil er dazu keine Anweisung erhielt. Und als er schließlich zwischen 22.00 und 23.00 Uhr Anweisungen erhielt, besagten sie, das zu machen, was er ohnehin schon tat: nämlich nichts. Zunächst hätte ihn Schabowski, später dessen Beauftragte instruiert, sagt Günter Pötschke, keinerlei korrigierende oder gar aktuelle Meldungen zu bringen, und begründend hinzugefügt: „Das heizt alles nur noch mehr an!" Ohne ADN aber fehlte den DDR-Medien die Orientierung der Partei – und ADN verfiel den ganzen Abend in ein tickerloses Schweigen, und zwar bis 2.06 Uhr am Morgen des 10. November. Einzige Ausnahme war eine Ergänzung zur Meldung von 19.04 Uhr. Hatte ADN zu diesem Zeitpunkt wortgetreu übermittelt: „Die Genehmigungen (von Privatreisen – d. Vf.) werden kurzfristig erteilt", so lieferte er um 22.55 Uhr nach, an wen sich die Bürger korrekterweise richten sollten: „Die Genehmigungen werden von den zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter kurzfristig erteilt." [9] Für diese Ergänzung war es um diese Zeit jedoch zu spät. Zu viele Ost-Berliner hatten sich zu diesem Zeitpunkt die Genehmigungen ersatzweise kurzfristig und unverzüglich selbst erteilt.

Wer an diesem feuchtkalten, diesigen Novemberabend, an dem die Temperaturen in Berlin fast auf die Frostgrenze absanken, zu Hause war, konnte ein ungewöhnliches Fernsehprogramm erleben. Den Kampf um höchste Einschaltquoten hatten in jener Zeit längst die Nachrichtensendungen für sich entschieden. Nach dem Ende der Live-Übertragung der Pressekonferenz im DDR-Fernsehen eröffnete das ZDF den Reigen der Abendnachrichten. In der „Heute"-Sendung flimmerte der Schabowski-Auftritt um 19.17 Uhr als sechste Meldung über den Bildschirm. Die ZDF-Redakteure folgten den zurückhaltenden ersten Agenturmeldungen und beschränkten sich darauf, allein die Möglichkeit der Ausreise hervorzuheben.

Bereits zu dieser Zeit wurden die Schalterbeamten der Deutschen Reichsbahn im Leipziger und Altenburger Bahnhof unruhig, denn kurz nach neunzehn Uhr stand vor den fassungslosen Reichsbahnern in den Fahrkartenschaltern eine rasch anwachsende Zahl von Kunden, die ohne Nachweis des erforderlichen Sichtvermerks in ihrem Reisepaß, mithin unberechtigt, Fahrkarten in die Bundesrepublik verlangten. Seit Jahrzehnten war dies ein zutiefst verdächtiger, weil staatsfeindlicher Wunsch, für dessen Bearbeitung nicht die Reichsbahn, sondern Volkspolizei und Staatssicherheitsdienst zuständig waren. Folgerichtig erstattete die Transportpolizei, die die Bahnhöfe kontrollierte, unverzüglich Meldung an die vorgesetzte Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) in Leipzig, die ihrerseits den unerhörten Vorgang sogleich dem Ministerium des Innern anzeigte. Wären die Reichsbahnkunden noch wenige Tage zuvor für die Äußerung ihres republikfluchtverdächtigen Ansinnens umgehend und dauerhaft polizeilich bearbeitet worden, erteilte das Ministerium an diesem Abend seiner Leipziger Bezirksbehörde nur den Befehl, nicht einzugreifen und ein klärendes Fernschreiben des MdI abzuwarten. [10] Das war um 19.20 Uhr. Um 20.00 Uhr trug der Operativ-Diensthabende der BDVP Leipzig eine Meldung seines Stabschefs in den Lagebericht ein, derzufolge die Führungsgruppe des MdI abermals mitgeteilt hatte, daß noch in der Nacht ein Fernschreiben des Minister-Stellvertreters Generaloberst Wagner über „Ausreisen gemäß Ausführungen von Gen. Schabowski" zu erwarten sei. [11]

Erst nach Schabowskis Pressekonferenz hatte Generaloberst Wagner das vorbereitete Fernschreiben von Oberst Joachim Gerbitz, dem stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung Paß- und Meldewesen, auf den Tisch bekommen. Wagners erster Stellvertreter, Generalmajor Grüning, der in die Erarbeitung des Reisegesetz-Entwurfs einbezogen war, hatte es bereits geprüft und unterschrieben. Wagner zeichnete das Papier ebenfalls ab. Um 19.30 Uhr wurde der Text in der Fernschreibstelle in Empfang genommen und anschließend in die Chiffrierstelle gegeben. In allen Bezirksbehörden der Volkspolizei einschließlich des Berliner Polizeipräsidiums ging das Fernschreiben um 21.19 Uhr ein. [12] Froh, seinen Auftrag endlich erledigt zu haben, ließ sich Wagner kurze Zeit nach der Unterzeichnung von seinem Fahrer nach Hause bringen. Die Leitung des MdI ging ab diesem Zeitpunkt auf die Führungsgruppe des Ministeriums über. [13]

In der Zwischenzeit – fast zweieinhalb Stunden nach dem Ende der Pressekonferenz – waren die für Reisen verantwortlichen Stellen der vierzehn Bezirksbehörden und des Ost-Berliner Präsidiums der Volkspolizei sowie der Räte der Bezirke und Kreise von ihrem Ministerium nicht besser informiert als die Fernsehzuschauer in beiden deutschen Teilstaaten. [14]

Wer sein Fernsehgerät auf DDR I umgeschaltet hatte, wurde um 19.30 Uhr in der „Aktuellen Kamera" – im Anschluß an die Spitzenmeldung über die Einberufung einer Parteikonferenz der SED – an zweiter Stelle über die Reiseregelung informiert. „Privatreisen nach dem Ausland", verknüpfte die Nachrichtensprecherin initiativreich die Äußerungen Schabowskis mit der ADN-Meldung, könnten „ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden." [15]

Um 19.35 traf der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, im Fernsehstudio der „Abendschau", der politischen Regionalschau des Senders Freies Berlin, ein. Walter Momper war über Schabowskis Mitteilungen und die neue Reiseverordnung, deren Text ihm als DPA-Mitteilung vorlag, einerseits erfreut, andererseits zugleich tief besorgt. Die gesamte Planung der West-Berliner Senatsverwaltungen – soweit sie insbesondere die Bereitstellung der erforderlichen Verkehrs- und Transportkapazitäten betraf – ging davon aus, daß der Ansturm aus der DDR erst im Dezember, nach der Verabschiedung des Reisegesetzes einsetzen würde. Nun sah sich der Senat von einer Minute auf die andere mit der Aufgabe konfrontiert, so verstand Momper die Meldungen, mit dem Besucherandrang bereits am nächsten Tag fertig zu werden. Mit sorgenvoller Miene bezog der Regierende Bürgermeister Stellung: „Nun", sagte er im Fernsehen, „ich glaube, man darf für alle Berlinerinnen und Berliner sagen, es ist ein Tag, den wir uns lange ersehnt haben, seit 28 Jahren. Die Grenze wird uns nicht mehr trennen." [16] Momper appellierte an die West-Berliner, trotz der auf sie zukommenden Belastungen alle Besucher aus der DDR mit offenen Armen zu empfangen: „Praktisch ab morgen geht es los!" kündigte er an. Die Ost-Berliner und alle DDR-Bürger bat Momper, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt zu kommen.

Auch der Chef der Senatskanzlei, Dieter Schröder, interpretierte die Reiseregelung angesichts solcher Einschränkungen wie Visapflicht und Besitz eines Reisepasses noch nicht als Öffnung der Mauer [17]; im Hinblick auf die am Wochenende zu erwartende Besucherzahl war Schröder die Situation jedoch dramatisch genug, um für 22.00 Uhr eine Sondersitzung des Senats einzuberufen, auf der vor allem die zu erwartenden Verkehrsprobleme mit dem Direktor der Berliner Verkehrsbetriebe und dem Polizeipräsidenten besprochen werden sollten. Daneben hielt es der Chef der Senatskanzlei für ratsam, die westlichen Alliierten über die aktuelle Entwicklung zu informieren, was sich als komplizierter und zeitraubender als gedacht erwies. Den amerikanischen Gesandten Harry Gilmore und dessen Stellvertreter erreichte er ebensowenig wie den britischen Gesandten Michael Burton; schließlich bat er dessen Stellvertreter Lamond, die alliierte Kommandantur über die politische Einschätzung des Senats in Kenntnis zu setzen.

Auch in das Ost-Berliner Präsidium der Deutschen Volkspolizei (PdVP) in der Keibelstraße kam in dieser Zeit Bewegung. Um 19.40 Uhr läutete dort das Telefon. Ein Bürger beschwerte sich, weil ihm auf einem Revier der Volkspolizei ein sofortiges Visum verweigert worden war, was – seiner Meinung nach – in krassem Gegensatz zu den Ausführungen Schabowskis stünde, denen zufolge die neuen Reiseregelungen doch „ab sofort" in Kraft träten. Der Anrufer bestand auf unverzüglicher Erteilung der Reiseerlaubnis und zeigte sich dem Vorschlag des Volkspolizisten, die Angelegenheit am nächsten Tag zu erledigen, unzugänglich. Ein Rückruf des Diensthabenden Offiziers des Ost-Berliner Polizeipräsidiums im MdI führte fünf Minuten später zur Klärung: Über das Visum, so der Diensthabende des MdI kurz und bündig, werde erst am 10. November entschieden. [18] In einem Rundspruch machte der Stellvertreter des Präsidenten der Ost-Berliner Volkspolizei [19] anschließend – es war 19.50 Uhr –, ohne daß ihm die Reiseregelung vorlag, folgende Befehlslage für alle elf Berliner Volkspolizei-Inspektionen Berlin [20] verbindlich:

„1. Bei Nachfragen von Bürgern zur Umsetzung der Veröffentlichung über die Reiseregelungen ist den Bürgern mitzuteilen, daß ihre Anträge zu den Öffnungszeiten des Paß- und Meldewesens ab 10. 11. entgegengenommen werden.

2. Entsprechend der Entwicklung der Lage ist zur Erhöhung der Sicherheit in der Tiefe der GÜST der Einsatz der Schutzpolizei durch Verstärkung des Streifeneinzeldienstes bzw. FStW (Funkstreifenwagen – d. Vf.) zu erhöhen. Die Genossen haben höflich und zuvorkommend auf die Bürger Einfluß zu nehmen und sie an die Öffnungszeiten des Paß- und Meldewesens zu verweisen.

3. Die Leiter PM haben bereit zu sein, an einer Einsatzbesprechung im Präsidium im Laufe des Abends bzw. der Nacht teilzunehmen. Die VPI haben zu sichern, daß sie zum Präsidium gebracht werden." [21]

Während die Volkspolizei in Ost-Berlin völlig ahnungslos und unvorbereitet in den Abend stolperte und noch der Ansicht war, die Lage mit einer Verstärkung des Streifeneinzeldienstes im Vorfeld der Grenzübergänge beherrschen zu können, steuerte die Verbreitung der Nachricht über das Fernsehen auf einen ersten Höhepunkt zu: Die „Tagesschau" der ARD plazierte die Reiseregelung um 20.00 Uhr als Top-Meldung an erster Stelle und blendete dazu als Schlagzeile "DDR öffnet Grenze" ein. [22] Die Hamburger Redaktion konnte sich dabei auf Meldungen der Deutschen Presseagentur stützen, die um 19.41 Uhr AP übertrumpfte und die Schlagzeile verbreitet hatte: „Die sensationelle Mitteilung: Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen!" [23] Vier Minuten vor Beginn der Tagesschau titelte DPA noch kürzer: „Sensation: DDR öffnet Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin." [24] Den anschließenden Filmbericht der Tagesschau über die Pressekonferenz krönte der Reporter mit dem Kommentar: „Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden." [25]

80 Ost-Berliner, so verzeichnet es der Lagebericht der Volkspolizei mit Uhrzeit von 20.15 Uhr, hatten sich an den Grenzübergängen Sonnenallee (acht bis zehn), Invalidenstraße (20) und Bornholmer Straße (50) zur Ausreise eingefunden, [26] aber zum Zeitpunkt des Eintrags war diese Zahl längst überholt. Und die „Tagesschau" verstärkte die Neugier und den Zustrom enorm. Die neue Höflichkeit und Zuvorkommenheit der Volkspolizisten im Vorfeld der Grenze wußten die Reiselustigen sicher zu schätzen. Zu überreden, wieder nach Hause zu gehen und auf den nächsten Tag zu warten, waren sie nicht. Sie blieben an der Grenze, und von Minute zu Minute schwoll der Strom derjenigen an, die sich von zu Hause oder aus der Kneipe, zu Fuß, mit der Straßenbahn oder per Auto, zum nächstgelegenen Grenzübergang bewegten, um die neue Reiseregelung spontan zu testen, zumindest aber sich von ihrer Handhabung unmittelbar vor Ort ein eigenes Bild zu verschaffen.

Wo die Nachrichten ankamen, entvölkerten sich ganze Kneipen. „Ich bin am 9. November abends mit Arbeitskollegen in Ostberlin in einem Tanzcafé am Baumschulenweg gewesen", berichtet ein junger Arbeiter aus Treptow. „Wir haben ein bißchen Sekt getrunken, und da kam die Kellnerin an den Tisch und sagte: 'Mensch, die Grenze ist uff, das hab ich in den Nachrichten gehört.' Ich sage: 'Nu komm, hör uff.' Sagt die: 'Warte mal, ick hab den Schluß uffjenommen.' Da holt sie ihr Tonband, spielt das ab. Und auf einmal, die ganze Kneipe, ruckizucki an den ganzen Tischen: Zahlen, zahlen, zahlen." [27]

Manche, die sich schon schlafen gelegt hatten, riß es noch mal aus dem Bett. „Ick war schon inne Heia", versicherte ein Anwohner der Bornholmer Straße einem Reporter glaubhaft, denn sein Pyjama lugte aus dem Mantel hervor, „die Alte jeht mit’m Hund runta, kommt ruff und sacht: 'Mensch, du, die jehn alle nach’m Westen!' Ick nischt wie anjezogen und rüber." [28]

Inzwischen war Generaloberst Wagner zu Hause angekommen. Doch kaum hatte er sein Haus im Berliner Stadtteil Grünau betreten, begannen seine Telefone – installiert waren ein abhörsicherer W-Tsch-Apparat und die Regierungsleitung – zu läuten. Der Operativ Diensthabende des MdI informierte ihn über die ersten Reaktionen der Bevölkerung auf die Schabowski-Pressekonferenz, mit denen er aufgrund der einlaufenden Meldungen und Anfragen aus den Bezirken und dem Berliner Polizeipräsidium konfrontiert war. Um 20.45 Uhr, so ist dem Lagefilm der Magdeburger Bezirksbehörde der Volkspolizei zu entnehmen, entschloß sich Wagner zu einem folgenreichen Schritt: „Sollten an den KP (Kontrollpunkten – d. Vf.) vor den GÜST Bürger der DDR mit PA (Personalausweis – d. Vf.) erscheinen und wollen in die BRD ausreisen, sind diese passieren zu lassen", legte Wagner fest. „Alle weiteren Maßnahmen werden in der GÜST getroffen." [29] Mit dieser Festlegung zog Wagner die Volkspolizei quasi vorbeugend aus der sich unter Umständen anbahnenden Konfrontation zwischen ausreisewilligen Bürgern und der Staatsmacht heraus und verlagerte den erwarteten Handlungs- und Entscheidungsdruck an die auf den Grenzübergangsstellen tätigen Mitarbeiter insbesondere der Paßkontrolle, also des MfS. Dann rief Neiber an und schlug Wagner zufolge vor, die Menschen in Berlin aufzuhalten und nicht an die Grenze heranzulassen. Wie aber sollte die Volkspolizei aus dem Stand heraus in kürzester Zeit alle Straßen und Wege, die zu Grenzübergängen führten, für Kraftfahrzeuge und Fußgänger sperren können? Wagner hielt Neibers Überlegung für schlechterdings undurchführbar und lehnte es ab, entsprechend tätig zu werden.

Von den pausenlosen Telefonaten entnervt und den Lageberichten des ODH seines Ministeriums beunruhigt, entschloß sich Wagner, in seine Dienststelle zurückzukehren. Mit wem er vom MdI aus in dieser Nacht auch immer telefonierte und Informationen austauschte: Von einem angeblichen Befehl zur Öffnung der Grenze erfuhr er nichts. Wagner zufolge wurde diese Frage nicht zentral entschieden, sondern erfolgte unter dem Druck der Massen. Die Konsequenzen, so Wagner, waren ihm bereits in der Nacht klar: „Das war der Untergang der DDR."

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Reuters, 9. 11. 1989, 19.03 Uhr: „Ausreisewillige DDR-Bürger können ab sofort über alle Grenzübergänge der DDR in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen." – DPA, 9. 11. 1989, 19.04 Uhr: „Von sofort an können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen." [2] Associated Press, 9. 11. 1989, 19.05 Uhr. [3] Wolfgang Meyer, Jg. 1934. Journalist, ADN-Korrespondent in verschiedenen Ländern, von 1975 bis zum 6. 11. 1989 Leiter der Hauptabteilung Presse und Information des MfAA. Ab 7. 11. 1989 bis zur Volkskammerwahl im März 1990 Regierungssprecher und Leiter des Presseamtes des Ministerrates im Range eines Ministers der DDR. [4] Die Funktion des Regierungssprechers gehörte zur Nomenklatur der ZK-Abteilung Agitation und Propaganda. [5] Günter Pötschke, Jg. 1929. Journalist; 1965 – 1968 stellvertretender Generaldirektor des ADN, 1968 – 1977 stellvertretender Leiter der ZK-Abteilung für Agitation, 1977–1989 Generaldirektor des ADN. Seit 1981 Kandidat, 1986 – 1989 Mitglied des Zentralkomitees der SED. [6] Gespräch d. Vf. mit Wolfgang Meyer, 1. 2. 1995. [7] ADN, 9. 11. 1989, 19.04 Uhr (Schlagzeile: „DDR-Regierungssprecher zu neuen Reiseregelungen"). [8] DPA übermittelte den Wortlaut der neuen Reiseregelung unter Berufung auf ADN bereits um 19.23 Uhr. [9] ADN, 9. 11. 1989, 22.55 Uhr: Berichtigung. [10] Vgl. BDVP Leipzig, Lagefilm der Führungsgruppe vom 9. 11. – 10. 11.1989, Bl. 105 (ARCHIV LAPOLDIR LPZ 11449). [11] BDVP Leipzig, Lagefilm des ODH vom 9. 11. – 10. 11. 1989 (lfd. Nr. 61 / 11) (ARCHIV LAPOLDIR LPZ 11449). [12] Warum zwischen dem Eingang des Fernschreibens, das mit der höchsten Dringlichkeitsstufe „Flugzeug" versehen war, und seinem Empfang in den BDVP annähernd zwei Stunden vergingen, ist eine Frage, die nicht zu klären war. Die Chiffrierung alleine dürfte nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch genommen haben. [13] Der etwa zehnköpfigen „Führungsgruppe" gehörte nach Angabe von Karl-Heinz Wagner jeweils ein Mitarbeiter aus den operativen Bereichen des MdI – der Kriminal-, Verkehrs- und Transportpolizei, der HA PM usw. – an; sie stand unter Leitung des Stellvertreters Operativ des Chefs des Stabes und der Abteilung Operativ. Parallel zum ODH, der überwiegend die polizeiliche Lage registrierte, hielt die Führungsgruppe des MdI den Kontakt mit den Führungsgruppen der BDVP und nahm deren Meldungen über die politischen Aktivitäten in den Bezirken entgegen (Gespräch d. Vf. mit Karl-Heinz Wagner, 12. 6. 1995). [14] Vgl. Fernschreiben des MdI an die BDVP 1 bis 15, Chef, alle VPKÄ, Ltr., RdB 1 bis 15, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres der RdB und RdK / Stadtbezirke, Betr.: Privatreisen und ständige Ausreisen nach dem nichtsozialistischen Ausland, 9. 11. 1989, Eingang: 21.19 Uhr (ARCHIV REGPRÄS. HLE; auch vorhanden in: ARCHIV POLPRÄS. PDM, Ordner FS MdI-Chef-Nachgeordnete, September 1989 bis Dezember 1990). [15] Aktuelle Kamera, 9. 11. 1989, 19.30 – 20.00 Uhr (Deutsches Rundfunkarchiv/Standort Berlin, Fernseharchiv). [16] SFB-Abendschau, 9. 11. 1989, Beginn 19.20 Uhr. [17] Gespräch d. Vf. mit Dieter Schröder, 10. 4. 1996. [18] Präsidium der Volkspolizei Berlin, Rapport Nr. 230 für die Zeit vom 9. 11. 1989, 4.00 Uhr, bis zum 10. 11. 1989, 4.00 Uhr (im folgenden zitiert als PdVP-Rapport Nr. 230), lfd. Nr. 11 (ARCHIV POLPRÄS BLN / DEZ VB 132). [19] Der Präsident des PdVP Berlin, Generalmajor Friedhelm Rausch, befand sich zu diesem Zeitpunkt seinen Angaben zufolge zwar noch in seinem Dienstzimmer, erhielt jedoch von diesem Vorbefehl seines Stellvertreters Operativ keine Kenntnis. Rausch, der die Pressekonferenz Schabowskis verpaßt hatte, begab sich gegen 20.00 Uhr auf den Heimweg nach Zeuthen. Nachdem ihm sein ODH zunächst Menschenansammlungen an der Grenze, dann die Öffnung der Bornholmer Straße gemeldet habe, so Rausch, habe er Schabowski, der als 1. Sekretär der Berliner Bezirksleitung der SED und somit auch als Vorsitzender der BEL noch nicht ersetzt worden war, angerufen und ihn nach seinem Eindruck als erster darüber informiert. 'Herrscht Ruhe? Wird geschossen? Wie ist die Lage?' habe ihn Schabowski aufgeregt gefragt, sich aber beruhigt gezeigt, als er hörte, daß alles friedlich ablaufe (Gespräch d. Vf. mit Friedhelm Rausch, 28. 6. 1995). [20] Es handelt sich um die Volkspolizei-Inspektionen in den Stadtbezirken Friedrichshain, Köpenick, Lichtenberg, Marzahn, Mitte, Pankow, Prenzlauer Berg, Treptow, Weißensee, Hohenschönhausen und Hellersdorf. [21] PdVP-Rapport Nr. 230, lfd. Nr. 12 (ARCHIV POLPRÄS BLN / DEZ VB 132). – Dem Lagefilm der VPI Friedrichshain ist zu entnehmen, daß die Leiter Paß- und Meldewesen sowie die Leitungsdienste der VPI um 21.09 Uhr aufgefordert wurden, sich um 23.00 Uhr im Polzeipräsidium einzufinden (vgl. VPI Friedrichshain / ODH, Rapport 268 / 89 für den 9. 11. 1989, 4.00 Uhr, bis 10. 11. 1989, 4.00 Uhr, Nr. 27; ARCHIV POLPRÄS BLN / DEZ VB 132). [22] Tagesschau, 9. 11. 1989, 20.00 – 20.16 Uhr. [23] DPA, 9. 11. 1989, 19.41 Uhr. [24] DPA, 9. 11. 1989, 19.56 Uhr. [25] Tagesschau, 9. 11. 1989, 20.00 – 20.16 Uhr. [26] PdVP-Rapport Nr. 230, lfd. Nr. 13 (ARCHIV POLPRÄS BLN / DEZ VB 132). [27] Conradt / Heckmann-Janz 1990, S. 7. [28] Spiegel Spezial 2 / 1990, S. 6. [29] BdVP Magdeburg / ODH, Rapport Nr. 222 / 89, 9. 11. 1989, Nr. 8 (ARCH REGPRÄS MBG DEZ 23 Nr. 17224).
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