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Hans-Hermann Hertle, 7. November 1989: Suche nach einer Ausreiseregelung

Hans-Hermann Hertle, 7. November 1989: Suche nach einer Ausreiseregelung

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

7.11.1989: Suche nach einer Ausreiseregelung



Am Morgen des 7. November 1989 trat das Politbüro um 9 Uhr zu einer fünfstündigen Sitzung zusammen. Das alles beherrschende Thema dieser Zusammenkunft war die 10. Tagung des Zentralkomitees. Sie sollte am nächsten Tag mit dem geschlossenen Rücktritt des Politbüros beginnen, und deshalb befaßte man sich mit den Vorschlägen von Krenz für die Neubesetzung des SED-Führungsgremiums. Daneben stand sein mehrstündiges Referat ebenso zur Abstimmung wie der Rücktritt der Regierung Stoph, der noch am gleichen Nachmittag bekanntgegeben werden sollte. Wolfgang Herger hatte einen Vorschlag ausgearbeitet, der ZK-Tagung nun doch die Zulassung des Neuen Forum vorzuschlagen; Krenz berichtete über seinen Besuch bei Gorbatschow, während er die Gespräche Schalcks in Bonn geheimhielt. Eingekeilt in 14 andere Tagesordnungspunkte von größter Bedeutung, nahm das Politbüro aus aktuellem Anlaß eine Information von Außenminister Fischer über „die Situation bei der Ausreise von DDR-Bürgern über die CSSR" entgegen.

Den Anstoß zur Behandlung dieses Themas, von Krenz erst während der Sitzung auf die Tagesordnung genommen, gaben die anhaltenden Beschwerden der tschechoslowakischen Partei- und Staatsführung auf mittlerweile allen politischen Kanälen und Ebenen über die neue, massenhafte Praxis der Ausreise von DDR-Bürgern durch ihr Land, von der die CSSR-Regierung ein Übergreifen der Unruhe befürchtete. Deshalb forderte sie von der SED-Spitze, den Ausreisestrom zu stoppen; anderenfalls sähe sie sich gezwungen, eigene Maßnahmen zur Grenzkontrolle – bis hin zu einer Schließung der Grenze – zu ergreifen.

Das Politbüro faßte daraufhin folgenden Beschluß:

„1. Genosse O. Fischer unterbreitet in Abstimmung mit den Genossen F. Dickel und E. Mielke einen Vorschlag für das ZK der SED, wonach der Teil des Reisegesetzes, der sich mit der ständigen Ausreise befaßt, durch eine Durchführungsbestimmung sofort in Kraft gesetzt wird.

2. Genosse O. Fischer informiert den Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der UdSSR in der DDR, Genossen W. Kotschemassow, und die tschechoslowakische Seite über den Vorschlag und den Standpunkt des Politbüros. Gleichzeitig sind Konsultationen mit der BRD zu führen.

3. In den Massenmedien ist darauf hinzuwirken, daß die Bürger der DDR ihr Land nicht verlassen. Über Rückkehrer ist zu informieren. Verantwortlich: Genosse G. Schabowski.

4. Genosse G. Schabowski wird beauftragt, diese Problematik mit den Vertretern der Blockparteien zu besprechen, um einen gemeinsamen Standpunkt herbeizuführen." [1]

Mit der Teil-Lösung, angesichts des Übersiedlerstroms über die CSSR in die Bundesrepublik nur die Regelung der ständigen Ausreise aus dem gerade erst veröffentlichten Reisegesetz-Entwurf vorzuziehen, um sich das „CSSR-Problem" vom Hals zu schaffen, einigte sich das SED-Führungsgremium wiederum lediglich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Weil der Beschluß vorsah, daß die „Durchführungsbestimmung" zur ständigen Ausreise noch dem ZK-Plenum vorzulegen war, bevor sie „sofort" in Kraft gesetzt werden sollte, war große Eile geboten. Oskar Fischer hatte die außenpolitische Flanke abzusichern. Unmittelbar nach der Behandlung des Tagesordnungspunktes im Politbüro eilte er in die sowjetische Botschaft und informierte Wjatscheslaw Kotschemassow über die Absicht des Politbüros, die ständige Ausreise vorzeitig zu regeln, ohne ihm freilich schon nähere Einzelheiten mitteilen zu können. Mit der CSSR solle beraten werden, so Fischer, „ob es ihr Entlastung bringen würde, ihre Grenzübergangsstelle zu Bayern in die Ausreise einzubeziehen". [2] Man werde die CSSR zudem fragen, „ob sie die Grenze zur DDR schließen kann". Die DDR wage dies nicht: „Würde die DDR schließen, gäbe es eine Machtprobe." [3] Begleitend werde die Kampagne gegen die „Anmaßung der Obhutspflicht" durch die Bundesregierung sowie die Dableib-Kampagne in den DDR-Medien verstärkt und versucht, „auch andere bestimmte Leute dafür zu gewinnen". [4] Krenz sei die Meinung Gorbatschows zu all dem sehr wichtig; die DDR bitte die sowjetische Führung um Unterstützung. Kotschemassow sicherte eine schnelle Rückantwort zu.

Ebenfalls noch am 7. November setzte der Gesandte der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Glienke, das Bundeskanzleramt über die Absicht des Politbüros in Kenntnis. Der Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Kanzleramt, Claus-Jürgen Duisberg, bat um kurzfristige Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Ausreiseregelung. [5]

Mit diesen Gesprächen und der Unterrichtung der CSSR war Fischers Auftrag fürs erste erledigt, denn die Federführung in allen Ausreise- und Reisefragen oblag nicht dem Außenministerium, sondern dem Ministerium für Staatssicherheit, das in diesen Fragen das formal zuständige Innenministerium steuerte. Im Arbeitsbereich von Generalleutnant Gerhard Neiber im MfS entstand noch am gleichen Tag ein erster Entwurf der vom Politbüro gewünschten Durchführungsbestimmung, der mit dem Innen- und Außenministerium abgestimmt wurde. Das Neiber-Papier sah vor, daß die Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter Visa zur ständigen Ausreise über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. West-Berlin unverzüglich erteilen sollten. Von einem gemeinsamen Willen zur schnellen Einführung einer generellen Reisefreiheit konnte somit am 7. November keine Rede sein.

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Protokoll Nr. 49 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 7. 11. 1989, S. 6. – Hervorhebung durch d. Vf. (SAPMO-BArch, ZPASED, J IV 2 / 2 / 2358). [2] Gemeint war der Übergang Brambach / Vojtanow (Cheb). Vgl.: Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Vermerk über ein Gespräch zwischen Genossen Oskar Fischer und dem sowjetischen Botschafter Genossen W. L. Kotschemassow am 7. 11. 1989, 11.45 Uhr, Berlin, 7. 11. 1989, S. 2 (BArch / P, D C-20 4933). – Was immer Fischer unter dieser Entlastung verstand: Sie war der Anlaß für ein folgenschweres Mißverständnis zwischen ihm und Kotschemassow. Vgl. dazu weiter unten. [3] Ebd., S. 2. [4] Ebd. [5] Schreiben von Oskar Fischer an Egon Krenz, 8. 11. 1989, S. 1 (BArch/ P, D C-20 4933).
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