„Die Mauer wird verschwinden müssen. Sowjetischer Außenexperte Daschitschew verblüfft in Bonn / Perestrojka verteidigt", Die Welt, 9. Juni 1988
„Die Mauer wird verschwinden müssen. Sowjetischer Außenexperte Daschitschew verblüfft in Bonn / Perestrojka verteidigt", Die Welt, 9. Juni 1988„Die Mauer wird verschwinden müssen"
Sowjetischer Außenexperte Daschitschew verblüfft in Bonn / Perestrojka verteidigt
Nea. Bonn
Daß ein sowjetischer Professor als offizieller Gast in der sowjetischen Botschaft in Bonn vor deutschen Journalisten Mauer und Stacheldraht an den Grenzen der „DDR" als „Überreste und Überlieferungen des kalten Krieges" bezeichnet, die „mit der Zeit verschwinden werden müssen", charakterisiert wie kaum ein anderes Ereignis, daß Perestrojka und Glasnost inzwischen amtlicher Bestandteil auch der sowjetischen Außenpolitik zu werden beginnen.
Professor Wjatscheslaw Daschitschew, Leiter der Abteilung Außenpolitik in der Moskauer Akademie der Wissenschaften, kam nach Köln und Bonn nicht als Unbekannter. Sein Beitrag in der „Literaturnaja Gazeta", in dem er der sowjetischen Außenpolitik vor Gorbatschow mit ihrem weltweiten Streben nach Hegemonie großes Maß an Mitschuld für die Ost-West-Spannungen gab, hatte weltweit Aufsehen erregt. Man hielt ihn freilich bisher für einen Außenseiter, dessen Thesen noch nicht repräsentativ für die Politik des Kreml seien.
Daschitschew selbst gab auf diese Frage keine klare Antwort. In fließendem Deutsch und sichtlich etwas befangen angesichts dieser für ihn ungewohnten Rolle, bezeichnete er seinen Zeitschriftenartikel als „meinen bescheidenen Beitrag zur Ost-West-Verständigung". Die Vorwürfe gegen die Außenpolitik vor Gorbatschow wiederholte er in dieser Form nicht, nahm sie allerdings auch nicht zurück. Die sowjetische Außenpolitik werde jetzt „humanisiert" und „enger mit der Moral verbunden."
In manchen Fragen blieb der Professor vorsichtig. Waffenlieferungen an Länder der Dritten Welt müßten im Rahmen einer humanisierten Außenpolitik natürlich eines Tages eingestellt werden, aber nicht einseitig, sondern nur als Folge multilateraler Abkommen. Gorbatschow befinde sich mit seiner Politik nicht in einer Krise. Das sei eine Übertreibung – „aber natürlich haben wir solche Schwierigkeiten nicht erwartet". Freilich sei die Führung der Sowjetunion „einig und entschlossen, die Perestrojka bis zum Ende zu führen". Diese Politik sei damit nicht mehr umkehrbar.
Eindeutig erklärte er die sogenannte Breschnew-Doktrin für erledigt: „Es gibt in der Frage der Übernahme der neuen Politik keine begrenzte Souveränität der sozialistischen Staaten, und auch in anderen Bereichen nicht." Vorsichtiger Zusatz: „Dies ist zur Zeit die Position der sowjetischen Politik." Ein relativierender Zusatz fehlte auch bei seinen fast sensationellen Bemerkungen über Mauer und Stacheldraht nicht: Um ihre Beseitigung zu ermöglichen, müßten zuvor „entsprechende sicherheitspolitische und wirtschaftliche Bedingungen gesichert werden". Er sei kein Prophet, fügte Daschitschew hinzu. Die Beseitigung der Mauer sei nur in einer „evolutionären Entwicklung" denkbar.
Die Probleme der neuen Politik sieht der Professor vor allem darin: Erfolge sind bisher vor allem im geistigen und psychologischen Bereich sichtbar. Der wirtschaftliche Erfolg dagegen werde möglicherweise bis zum Ende des Jahrhunderts auf sich warten lassen. Gorbatschow selbst sehe die Gefahr, die darin stecke. Auf der Allunionskonferenz am 28. Juni werde dies eines der wichtigsten Themen sein.
Daß die Perestrojka das Nationalitätenproblem verschärft habe, glaubt Daschitschew übrigens nicht. Spannungen wie jetzt in Armenien und Aserbaidschan seien bisher nur verborgen gewesen. Den Nationalitäten werde man künftig wesentlich mehr Selbständigkeit zugestehen müssen.
Quelle: Die Welt, 9.6.1988