Rundfunk- und Fernsehansprache von Bundespräsident Heinrich Lübke über die Lage in Berlin, 31. August 1961
Rundfunk- und Fernsehansprache von Bundespräsident Heinrich Lübke über die Lage in Berlin, 31. August 1961Eine menschliche Tragödie größten Ausmaßes
Die Berliner Visitenkarte des kommunistischen Systems — Unsere Freunde stehen zu ihrem Wort
Der Bundespräsident an das deutsche Volk
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Über alle deutschen Sender und Fernsehsender hielt der Bundespräsident am 31. August folgende Ansprache:
Ich bin gekommen, um mir selbst einen Eindruck von dem Leid und der grenzenlosen Not zu verschaffen, die kommunistischer Terror erneut über diese Stadt, ihre Menschen und über unser ganzes Volk gebracht hat.
Was ich gestern bei meinen Fahrten entlang der Sektorengrenze gesehen habe, läßt sich nur schwer in Worte fassen. Quer durch diese Stadt läuft eine blutende Grenze: versperrte Straßen, zugemauerte Hauseingänge und Fenster, Betonmauern und Stacheldraht trennen Männer von ihren Frauen, Eltern von ihren Kindern.
Man hat mir berichtet, daß bis zum 13. August täglich in beiden Richtungen etwa fünfhunderttausendmal die Sektorengrenze überschritten worden ist, sei es auf dem Wege vom oder zum Arbeitsplatz, zu Besuchen von Verwandten oder Freunden, zur Teilnahme an kulturellen oder geselligen Veranstaltungen. Die Ost-Berliner hatten also bis dahin Anteil an der Freiheit der West-Berliner.
Dies hat sich mit dem 13. August grundlegend geändert: viele Alte und Kranke können nicht mehr gepflegt werden, gerade angemeldete Aufgebote wurden zunichte; Ost-Berliner verloren ihren oft jahrzehntelang innegehabten Arbeitsplatz. Menschen, die bisher als Pensionäre oder Rentner angemessen versorgt waren, sahen sich plötzlich auf Sozialunterstützung oder gar auf die Annahme demütigender Arbeit angewiesen.
Viele haben trotz aller Schwierigkeiten den Weg in die Freiheit gesucht. Aber nicht für jeden endete dieser Versuch glücklich; mindestens drei Menschen, von denen wir wissen, haben die Flucht in diesen Tagen als Deutsche nach Deutschland mit dem Tode bezahlt. An manchen Stellen sind drei Stacheldrahtsperren hintereinander errichtet, die Mauern werden ständig höher, Wohnungen und Häuser unmittelbar an der Sektorengrenze werden rücksichtslos geräumt. Hauseingänge, Fenster, Friedhofspforten und Kirchentore sind zugemauert. — Wir sahen, wie Kleingärten dem Erdboden gleichgemacht, Obstbäume umgelegt und Lauben rücksichtslos abgerissen wurden. Hinter jedem Bewacher steht mindestens noch einer, um die Erfüllung der brutalen Anweisungen zu erzwingen. Wenn trotzdem noch jeden Tag an dieser oder jener Stelle einem Menschen der Sprung in die Freiheit glückt, dann darf man nicht vergessen, wieviel Mut, aber auch wieviel Schrecken sich in jedem solchen Schicksal offenbart.
Es ist ein Übermaß von Leid, Not und Sorge, eine menschliche Tragödie größten Ausmaßes heraufbeschworen worden, die fast noch schwerer wiegt als der bedenkenlose Bruch geltender Verträge und die leichtfertige Bedrohung des Friedens. Was soll die Welt von einem Regime halten, das mit solchen Mitteln die Sehnsucht nach Freiheit unterdrücken muß, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten!
Das kommunistische System hat damit seine Visitenkarte ausgewechselt, ohne den Charakter geändert zu haben: Waren bis zum 13. August die Flüchtlingsmassen in Marienfelde das sprechende Symbol des Unrechtsregimes in der Zone, dann sind es heute Mauern, Stacheldrähte und Maschinengewehre. Waren bis dahin die überfüllten Lager Stätten der Anklage gegen das Zonenregime, dann ist nunmehr die kommunistische Brutalität bereits an den Grenzmauern, Stacheldrähten und Todesstreifen um West-Berlin herum sichtbar geworden. Morgen schon werden Zeugen dieser Untaten die Grabsteine derer sein, die unter den Schüssen der Schergen gefallen sind oder die als letzten Weg in die Freiheit den Weg in den Tod gewählt haben.
Nach allen Meldungen, die hier eintreffen, herrschen in Ost-Berlin und in der Zone Angst und tiefe Verzweiflung. Daraus ergibt sich die Aufgabe aller Menschen im freien Teil Deutschlands, jeden gangbaren Weg zu beschreiten, um die Mitbürger in Ost-Berlin und in Mitteldeutschland von unserer unerschütterlichen Verbundenheit mit ihnen zu überzeugen. Gerade jetzt darf weniger denn je zu dem Schrecken auch noch das Gefühl der Verlassenheit hinzutreten.
In der Bundesrepublik, in den uns befreundeten Ländern, aber auch in der ganzen übrigen Welt haben die Ereignisse seit dem 13. August eine deutlich spürbare, ja manchmal durchschlagende Wirkung hinterlassen. Den Bürgern von Berlin und unseren Landsleuten in der Zone schlägt eine Welle der Verbundenheit, der Hilfsbereitschaft und des Opferwillens entgegen. Noch nie haben die Menschen in der Bundesrepublik so deutlich gespürt, daß die Not an dieser Grenze des Terrors auch ihre Not ist, daß mit der Freiheit Berlins auch ihre Freiheit verteidigt wird, daß die unbeschreiblichen Opfer unserer Landsleute in der Zone und in Ost-Berlin auch von ihnen die Bereitschaft zu großen Opfern verlangt und verlangen wird.
Auch diejenigen Völker, die erst seit kurzem das Recht auf Selbstbestimmung durchgesetzt haben, nehmen wachsenden Anteil an der Unterdrückung unserer Landsleute. Sie geht ja von denselben Machthabern aus, die vor dem Forum der Weltpolitik so wortreich das Selbstbestimmungsrecht für alle fordern.
Besonders dankbar aber sind wir für die Hilfsbereitschaft und Entschlossenheit derjenigen Mächte, die uns freundschaftlich verbunden sind. — Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat erst vor kurzem durch seinen Vertreter, Vizepräsident Johnson, hier in Berlin erklären lassen: "Dem überleben und der schöpferischen Zukunft dieser Stadt haben wir Amerikaner das verpfändet, was unsere Vorfahren bei der Gründung der Vereinigten Staaten verpfändet haben: Unser Leben, unser Gut und unsere heilige Ehre."
Die feierliche Form dieser Erklärung gibt uns die unerschütterliche Gewißheit, daß unsere Freunde zu ihrem Wort stehen, aber auch von uns erwarten, daß wir alles tun, was zum Gelingen unserer Vorhaben beiträgt. Die neueste Nachricht von der Berufung des verdienten Generals Clay zum Bevollmächtigten des Präsidenten Kennedy in Berlin ist hierfür eine erneute Bestätigung.
Wir werden in dieser Zuversicht auch dadurch bestärkt, daß Gewalt und Terror in der Geschichte noch nie von Dauer gewesen sind. Wer die Sektorengrenze in Berlin gesehen hat, der weiß, daß sie keinen Bestand haben kann. Sie ist von Grund auf unnatürlich.
Es ist unsere Pflicht, in der Not dieser Tage mit Entschlossenheit und besonnener Zurückhaltung dahin zu wirken, daß keine Verzweiflungsakte hervorgerufen werden. Von uns allen wird in der kommenden Zeit eine starke innere Widerstandskraft gefordert werden. Eine solche Haltung kann nicht allein aus dem Zwang der Geschehnisse erwachsen. Sie bedarf vielmehr der Mobilisierung all unserer geistigen und seelischen Kräfte. Dann werden wir die kommende Zeit, in der große Entscheidungen heranreifen, leichter bewältigen können. Dazu gehört festes Vertrauen zu Gott, der einzelnen und ganzen Völkern schwere Prüfungen auferlegt, der aber auch mit der Bewährung den Tag der Freiheit anbrechen läßt.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 164, 2.9.1961, S. 1574.