Material > Dokumente > 1961 > Mai 1961 > Rede von Ernst Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, über den DDR- Flüchtlingsstrom in den Westen, 13. Mai 1961

Rede von Ernst Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, über den DDR- Flüchtlingsstrom in den Westen, 13. Mai 1961

Rede von Ernst Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, über den DDR-Flüchtlingsstrom in den Westen, 13. Mai 1961

Flüchtlingsstrom – die Schuld des SED-Regimes


Das schreiende Unrecht ist eine Frage von internationaler Bedeutung

    Der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, hielt am 13. Mal 1961 über den Sender RIAS II folgende Ansprache:
Es ist für mich eine Pflicht, der ich mich nicht freudig, sondern mit Traurigkeit unterziehe, wenn ich heute an dieser Stelle meine Stimme zur Anklage erheben muß, zur Anklage gegen ein Regime, das die Menschen in Massen seit Jahr und Tag immer weiter zur Flucht treibt.

Wir haben schon oft die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diesen schandbaren Zustand in unserer Heimat gelenkt. Wenn ich es heute zum wiederholten Male tue, so fast mit einiger Resignation. Es hat den Anschein, als sei die Partei Ulbrichts so sehr in ihre Ziele, vor allem auch in ihre Methoden verrannt, daß ein Ende des Flüchtlingsstroms leider nicht abzusehen ist.

Halten wir uns doch die erschreckenden Zahlen vor Augen: In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind bereits 66.000 Menschen aus der Sowjetzone geflüchtet. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 50.000, und damals stiegen im März und April bekanntlich die Ziffern infolge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, auf Grund also einer wachsenden Zahl flüchtender Bauern, erheblich an. In diesem Jahre aber nun sind es schon wieder 66.000. Und das geschieht bei sinkender Bevölkerungszahl und bei immer rigoroseren Kontrollmaßnahmen des gesamten Verkehrs nach Berlin.

Nein, wir dürfen nicht schweigen angesichts dieser Situation, die nur mit dem Wort Katastrophe zu bezeichnen ist. Schwiegen wir, so machten wir uns schuldig; denn die Betroffenen, unsere Landsleute in Leipzig, in Rostock, in Erfurt und in Cottbus — sie sind zum Schweigen verurteilt, sie können sich nicht wehren gegen das ununterbrochene Unrecht, das ihnen angetan wird.

Es wird wahrlich schwer sein, mit einer Ausrede zu erklären, warum der Flüchtlingsstrom aus einem Landesteil mit fallender Bevölkerungsdichte weitergeht. Ulbricht selbst hat die Schuld des Regimes zugeben müssen. Es war am 22. März auf der 12. Tagung des ZK der SED, als er wörtlich eingestand: „Es kommt immer wieder vor, daß wertvolle Bürger die DDR verlassen, weil sie von Dienststellen des Staates und manchmal auch von Organen der Partei bürokratisch und lieblos behandelt, weil ihre berechtigten Wünsche mißachtet werden." Dieses Eingeständnis ist einer der zahllosen Widersprüche, in die sich die Machthaber in der SBZ immer wieder verwickeln müssen. Hier das zutreffende Eingeständnis, die Flucht verursacht zu haben, dort aber nach wie vor eine Justizpraxis, die Menschen wegen „Republikflucht", wie sie es nennen, oder „versuchter Republikflucht", wegen „Beihilfe" oder „Mitwisserschaft" zu schweren Strafen verurteilt.

Die SED könnte dabei durchaus Voraussetzungen dafür schaffen, daß der Umfang der Flucht wesentlich nachließe. Man brauchte beispielsweise nur die Reisebeschränkungen aufzuheben, die es den Menschen so schwer machen, ihre Verwandten im anderen Teil Deutschlands wiederzusehen.

Jüngst haben die Polen sich dem Internationalen Herbergsverband angeschlossen, damit grundsätzlich ihr Land den jugendlichen Wanderern aus aller Welt geöffnet und auch der polnischen Jugend das Wandern In anderen Ländern ermöglicht. Die sowjetzonalen Behörden verweigern diese Möglichkeit aber sogar innerhalb Deutschlands, und zwar seit Jahr und Tag, und reden gleichzeitig von Verständigung, von Frieden und von Koexistenz. Sie werfen der Bundesrepublik vor, Kalten Krieg zu betreiben.

Meine Landsleute, wenn nicht die Zerreißung der verwandtschaftlichen Bande in Deutschland Kalter Krieg ist — was dann? Auch die Sperrmaßnahmen an der Zonengrenze und um Berlin tragen zur Fluchtbewegung in starkem Maße bei. Müssen sich die Menschen nicht wie eingekerkert vorkommen angesichts des Stacheldrahts und der hermetischen Sperrzone auf der sowjetzonalen Seite der Zonengrenze und um Berlin? Ruft nicht die SED durch Stacheldraht und Wachttürme, durch Bunker und Erdwälle, durch all' diese Sperren und Isolierungen jene psychologische Bereitschaft hervor, die zu dem Entschluß führt: „Lasset uns weggehen aus diesem Land?" Hunderttausenden getrennt lebenden Familien wäre unmenschliches Leid genommen, wenn wenigstens die Reisebeschränkungen und die Sperrmaßnahmen wegfielen. Durch Stacheldrahtverhaue kann man ein Volk, das nicht aufgehört hat, sich auch noch nach 16 Jahren als eine Nation zu fühlen, seelisch und geistig doch nicht auseinanderreißen.

Solange die SED dem anhaltenden, ja noch angeschwollenen Flüchtlingsstrom nur mit Deklamationen, mit Drohungen oder gar mit der Vertiefung der Spaltung begegnet, so lange können wir nicht aufhören, nicht nur die deutsche, sondern auch die internationale Öffentlichkeit auf dieses schreiende Unrecht aufmerksam zu machen. Das Problem dieser seit 16 Jahren andauernden Fluchtbewegung aus der Zone nach dem Westen hin ist nicht nur ein deutsches, es ist seinem Umfang und auch seiner Größenordnung nach eine Frage von europäischer Bedeutung, und es ist hohe Zeit, daß sich internationale Gremien diesem traurigen Vorgang mehr widmen. Wenn Millionen Menschen mitten im Frieden bei Nacht und Nebel ihre Heimat fluchtartig und unter Zurücklassung von Hab und Gut verlassen, dann müssen die Verhältnisse unerträglich sein. Hier geht es um eine ununterbrochene flagrante Verletzung von Menschenrechten. Dagegen ist Protest zu erheben; diesen Protest nachdrücklicher zu wiederholen, ist meine Pflicht.

Meine Landsleute in der Zone sollen wissen, daß wir uns im Bundesgebiet und in West-Berlin nicht gleichgültig verhalten. Bundesregierung und Bundestag haben schon oft ihre Stimme erhoben. Das ganze deutsche Volk hat ein Recht darauf, so zu leben, daß bis zur Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit eine Flucht Deutscher vor Deutschen nicht mehr möglich sein sollte. An dem kommunistischen Regime in Ost-Berlin liegt es, aus den unbestreitbaren Tatbeständen die gebotenen Folgerungen zu ziehen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 90, 17.5.1961, S. 865.
Zum Seitenanfang