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Aufzeichnungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer über seine Besprechungen mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, 9. Dezember 1961

Aufzeichnungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer über seine Besprechungen mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, 9. Dezember 1961

Abschrift

Am 9. Dezember 1961 traf ich mit Staatspräsident de Gaulle zu ausführlichen Besprechungen zusammen. Es war die erste Begegnung mit de Gaulle nach Bildung der neuen Bundesregierung.

Eintreffen auf dem Flugplatz in Orly. De Gaulle holte mich vom Flugzeug mit betonter Freundlichkeit und Wärme ab. Fahrt zum Elysée; an einzelnen Stellen Menschenansammlungen, die mich zum Teil sehr herzlich und freundschaftlich begrüßten. De Gaulle bemerkte, wenn man in Paris gewußt hätte, daß wir diesen Weg fahren würden, wären die ganzen Straßen voll gewesen. Ich hätte hoffentlich meinen Staatsbesuch nicht vergessen. Ich würde dann in Paris und in Frankreich die Zuneigung der Bevölkerung in großartiger Weise kennenlernen.

Von 11 Uhr bis 13 Uhr war im Elysée eine Besprechung zwischen de Gaulle und mir. Anwesend waren die Dolmetscher Mayer für de Gaulle, Kusterer für mich.

Ich nahm zuerst das Wort und trug de Gaulle meine Sorgen und Gedanken vor. Ich begann mit der Feststellung, daß die Außenpolitik der Bundesregierung die gleiche bleibe wie bisher. Ich würde diesem Punkt absolut entscheidenden Wert beimessen.

Dann schnitt ich das Thema Vereinigte Staaten von Amerika an. Ich sagte de Gaulle, im Sommer und Herbst 1961 hätte die amerikanische Regierung mir große Sorgen bereitet. Es redeten dort zu viele Menschen mit. Acheson und Norstad hätten mir gesagt, es werde etwa ein Jahr dauern, bis die überflüssigen Leute ausgeschaltet seien. Hinzu komme, daß zu viele Senatoren zu viel redeten. Die Notwendigkeit für die amerikanische Regierung, sich erst einmal einzuarbeiten, zeige die Rede Rusks, die er vor zwei oder drei Monaten gehalten und in der er erklärt habe, zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gebe es keine Gegensätze, die Gegensätze bestünden zwischen Sowjetrußland und Deutschland und Sowjetrußland und Formosa. Rusk habe offensichtlich nicht verstanden, daß der sowjetische Druck sich letzten Endes gegen die Vereinigten Staaten richte.

Meine Sorge werde noch dadurch gesteigert, daß sich Frankreich in den äußerst brennenden Fragen zurückhalte. Es sei zwar dabei, aber nicht aktiv, und hiermit berührte ich ein Anliegen, das mir sehr am Herzen lag: Der französische Botschafter Alphand in Washington nahm an den Sitzungen eines speziellen Botschafterausschusses teil, aber nur rezeptiv. Er äußerte sich nicht. Wenn sich Frankreich bei der Erörterung wichtiger Fragen abseits hielt und dadurch Deutschland als kontinental-europäische Macht den beiden angelsächsischen Mächten allein gegenüberstand, fürchtete ich, würde mit der Zeit doch ein Abbröckeln oder ein Erkalten der Gemeinschaft gegenüber Sowjetrußland eintreten. Chruschtschow würde mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß im Laufe der Zeit die Front der freien Völker auseinanderfallen werde.

Ich berichtete de Gaulle in großen Zügen über die Unterredungen, die ich anläßlich meines Besuches in Washington im November 1961 mit Kennedy geführt hatte. Ich begann mit der Bemerkung, daß Kennedy stets von de Gaulle und Frankreich nur mit großer Hochachtung gesprochen habe. Ein besonders vertraulicher Gesprächspunkt mit Kennedy sei die militärische Stärke der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gewesen. Dabei seien jedoch zwischen der deutschen und der amerikanischen Delegation gewisse Bewertungsunterschiede aufgetaucht. Nach meiner Meinung überschätzten die Vereinigten Staaten die Stärke des Westens und ihre eigene Stärke.

Dann schnitt ich die Berlinfrage an. Ich erwähnte zunächst die Tatsache, daß die Note Chruschtschow nunmehr drei Jahre alt sei. Im November 1958 sei meines Erachtens die militärische Stärke der Sowjetunion beträchtlich geringer gewesen als die Stärke aller NATO-Mitglieder. In diesen drei Jahren hätten die Russen jedoch auf dem nuklearen Gebiet große Fortschritte erzielt und ihre Ausrüstung auf dem konventionellen Gebiet wesentlich modernisiert. Jedenfalls stehe die Sowjetunion jetzt stärker da als vor drei Jahren. Eine eventuelle amerikanische Überlegenheit auf nuklearem Gebiet sei auch deswegen etwas fragwürdig, weil ein wesentlicher Teil der Träger Flugzeuge seien und man nicht wissen könne, welche besonderen Vorkehrungen die Russen zu deren Abschuß hätten. Aller Wahrscheinlichkeit nach seien die interkontinentalen Raketen von entscheidender Bedeutung. Zu berücksichtigen sei auch, daß nach meiner Überzeugung die Sowjetunion auf konventionellem Gebiet gegenüber der NATO über eine starke Überlegenheit verfüge.

Ich kam dann auf die Frage zu sprechen, ob man im gegenwärtigen Zeitpunkt bezüglich Berlins in Moskau etwas tun solle oder nicht. Nach meiner Meinung sei bei all den Diskussionen in den verschiedenen Ausschüssen in Washington bisher nicht viel Korn gedroschen worden. Äußerst wichtig sei, daß man das Vertrauen der Berliner stärke. Bei allem, was man unternehme, müsse man sich fragen, welche Wirkung dieser oder jener Schritt auf das Vertrauen der Berliner habe. Andernfalls könnte es zu einer sehr schnellen und schlechten Entwicklung in Berlin kommen. Der bekannte Meinungsunterschied zwischen Frankreich einerseits und den angelsächsischen Mächten andererseits schwäche natürlich das Vertrauen der Berliner, vielleicht sogar der Deutschen insgesamt. Gleichzeitig werde die Zuversicht Chruschtschows gestärkt, daß der Westen eines Tages doch auseinanderfallen werde. Die Einigkeit des Westens sei von ausschlaggebender Bedeutung.

Ich verstünde de Gaulle sehr gut, wenn er sich an den jetzigen außenpolitischen Schritten nicht beteiligen wolle. Ich hätte aber den Eindruck, daß die Amerikaner begriffen hätten, daß die Zeit des außenpolitischen Suchens vorbei sei. Es sei nötig, den Einfluß des kontinentalen Europa unter den vier Mächten zu stärken. Im Augenblick sehe sich die Bundesrepublik den angelsächsischen Mächten allein gegenüber, und kein Mensch wisse so recht, was die Engländer wollten. Ich würde es für gut halten, wenn ein beständiger kontinentaleuropäischer Einfluß sich stärker offenbare als in den vergangenen Monaten. Man dürfe nicht vergessen, daß die Sowjets immer die Möglichkeit hätten, Zwischenfälle zu provozieren. Einstweilen hätten die Sowjets die Unterzeichnung eines separaten Vertrages mit der "DDR" zurückgestellt. Es werde aber der Zeitpunkt kommen, in dem die Sowjets der SZB eine sogenannte Souveränität geben und sich dann auf den Standpunkt stellen würden, wenn die Westmächte einen Zugang nach Berlin wollten, müßten sie das mit der SBZ ausmachen. Solange ein separater Vertrag nicht existiere, könne eine künftige Einigung zwischen den Westmächten und der Sowjetunion einem Friedensvertrag der Sowjetunion mit der SBZ als Anhang beigegeben werden.

Die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion zwinge Chruschtschow dazu, stärkere Investierungen auf dem Landwirtschaftssektor und in der Konsumgüterindustrie vorzunehmen. Damit werde die Investitionsmöglichkeit für die Schwerindustrie und die chemische Industrie eingeschränkt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion lasse Chruschtschow einen Krieg unerwünscht erscheinen. Hinzu komme das Verhältnis der Sowjetunion zu Rotchina. Aus einer Artikelreihe des "Figaro" vom September 1961 hätte ich entnommen, daß die Sowjets begonnen hätten, Ostsibirien zu entwickeln, um einer rotchinesischen Infiltration vorzubeugen. Ich glaubte, daß der Tag kommen werde, an dem die Sowjetunion, wenn auch unfreiwillig, der Schutzwall der weißen Welt gegen China sein werde. Die Sowjetunion werde auf die Dauer durch die Entwicklung Rotchinas bedroht. Sie werde eines Tages, wann, wisse man nicht, froh sein, ihre ganze Kraft im Osten gegen Rotchina einsetzen zu können. Bezeichnend für diese These sowie auch für die ganze Taktik der Russen sei ein Gespräch, das ich vor zwei Tagen mit dem sowjetischen Botschafter in Bonn, Smirnov, geführt hätte. Der Inhalt dieses Gespräches sei gewesen: Rußland wolle keinen Krieg. Es wolle die Gegensätze durch Verhandlungen aus der Welt schaffen. Smirnov sei so offen wie nie zuvor gewesen. Ich hätte Smirnov erwidert, die Sowjetunion habe den Bau der Mauer in Berlin zugelassen und damit das westliche Mißtrauen gegen Rußlands Friedensbereitschaft erheblich gestärkt. Nach meiner Ansicht müsse Berlin als Testfall gelten. Es müsse daher in Verhandlungen festgestellt werden, ob eine vernünftige Abmachung möglich sei. Gelinge dies, werde das gegenseitige Vertrauen wachsen, und man könne dann an die großen Probleme wie kontrollierte Abrüstung und die Deutschlandfrage herangehen. Smirnov habe mich gefragt, ob er dies als Anregung Chruschtschow weitergeben dürfe. Ich hätte dies nicht verneint. Smirnov habe mich dann gefragt, ob ich in diesem Sinne mit General de Gaulle sprechen würde. Auch dies hätte ich nicht verneint. Man müsse nunmehr Chruschtschows Reaktion abwarten.

Ich beschwor de Gaulle eindringlich, sich nicht nur beobachtend gegenüber den schwebenden Fragen, insbesondere der Berlinfrage, zu verhalten. Meine Befürchtung sei, daß bei einem Ausbleiben von Verhandlungen die Lage im nächsten Jahr nur noch schlechter sein werde. Die Russen seien militärisch und taktisch im Vorteil, und Kennedy habe gesagt, daß das amerikanische Volk sich erst an den Gedanken eines möglichen großen Krieges gewöhnen müsse.

De Gaulle erwiderte, er wolle mir mit der gleichen Offenheit antworten, die ich soeben bewiesen hätte. Er verstehe meine Ausführungen vollkommen. Zunächst müsse er bemerken, daß dieselbe Frage bereits im vergangenen Jahr schon einmal zur Debatte gestanden habe und daß es damals die Russen gewesen seien, die eine Verhandlung unmöglich gemacht hätten. Frankreich sei mit Deutschland in dieser Frage absolut solidarisch. Er, de Gaulle, lasse sich von dem Gedanken leiten, wenn der Westen der Sowjetunion gegenüber Schwäche zeige, werde die Sowjetunion nicht haltmachen wollen und auch nicht können.

Hinsichtlich Berlins gebe es eine bestimmte Rechtslage, die in Abkommen definiert sei. Diese Rechtslage rolle die Sowjetunion jetzt auf und wolle sie durch eine neue ersetzen. Dabei gehe sie davon aus, daß der Westen nichts anderes zu tun habe, als die russische Lösung anzunehmen. Wie diese Lösung genau aussehe, wisse er nicht, aber er sei nicht sicher, ob man damit die bisherige Stellung in Berlin halten könne.

Wenn man beginne, mit der Sowjetunion zu verhandeln, habe man schon nachgegeben, und zwar nur, weil die Sowjets es gefordert haben. Er sehe keinerlei Gründe, warum Rußland dann haltmachen sollte. Es würde dann eine neue Lage entstehen, und die Sowjetunion würde wieder etwas Neues fordern, diesmal in bezug auf Deutschland. Das könnte dann sehr wohl die Forderung auf Neutralisierung Deutschlands sein. Sei Deutschland aber einmal de jure oder de facto als Ergebnis langer oder immer wieder erneuter Verhandlungen mit der Sowjetunion neutralisiert, dann glaube er, daß Frankreich auch seinerseits keine andere Wahl mehr hätte, als sich neutralisieren zu lassen. Dann aber wäre das Spiel für den Westen verloren. Vielleicht sei es für den einzelnen dann noch möglich, in einer solchen Situation weiterzuleben, nicht aber weiterleben könne man dann als Staat, als freies Volk. Dann wäre Europa erledigt und damit die ganze westliche Welt.

Die Frage sei also, ob man annehme, was Rußland fordere, nämlich über eine neue Lage in Berlin zu verhandeln, nur weil Rußland es verlange. So sehe er das Problem. Die Frage sei für die Engländer bereits entschieden. Mir sei selbstverständlich bekannt, sagte de Gaulle, daß England ein neues Arrangement wolle, dessen Inhalt ihm gleichgültig sei, denn es wolle wegen Berlin einfach keinen Arger mehr haben. Er habe das bei seinem letzten Besuch bei Macmillan wieder erkennen müssen. Das liefe aber darauf hinaus, daß England das zu akzeptieren wünsche, was Rußland fordere.

Für ihn sei wesentlich, ob Frankreich sich unter diesen Umständen zu Verhandlungen bereitfinden solle. Er wisse sehr wohl, daß Amerika und England allein verhandeln könnten. Ich hätte gesagt, daß dies Nachteile mit sich bringe. Wenn aber England und Amerika entschlossen seien, mit der Berlinfrage Schluß zu machen, so würden sie es tun, ob Frankreich dann dabei sei oder nicht. Die einzige Art und Weise, dies vielleicht zu verhindern, bestehe darin, daß Frankreich sage, es wolle nicht mitmachen. Aufhalten könne man England und Amerika nach seiner Überzeugung nämlich höchstens dadurch, daß man sage, man mache nicht mit. Der Beweis liege auf der Hand, denn die Angelsachsen warteten immer noch. Im übrigen warte auch Chruschtschow noch.

Er, de Gaulle, glaube nicht, daß jetzt die Zeit für Verhandlungen mit Rußland gekommen sei. Rußland habe die Mauer in Berlin gebaut - in diesem Zusammenhang erklärte de Gaulle, daß nach seiner Ansicht jetzt schon Berlin in der Hand der Russen sein würde, wenn man ihnen am 13. August mit Gewalt entgegengetreten wäre -, es habe seine Multimegatonnenbomben explodieren lassen. Und in dieser Atmosphäre solle der Westen nun über Berlin verhandeln? Der sichere Ausgang dieser Verhandlungen wäre die Annahme der russischen Lösung. Frankreich habe sich immer auf den Standpunkt gestellt und dies auch den Amerikanern und Briten mitgeteilt, daß sie gern für sich feststellen könnten, was Chruschtschow eigentlich wolle. Gromyko sei nach Washington gekommen, habe mit Kennedy, Rusk und sogar Macmillan gesprochen. Botschafter Thompson, der amerikanische Vertreter in Moskau, sei zu Chruschtschow gegangen. Frankreich habe sich niemals gegen diese Kontakte ausgesprochen. Das Ergebnis dieser Kontakte sehe aber so aus: Die Sowjetunion wolle die alliierte Besatzung in West-Berlin beenden, die politischen Bindungen an die Bundesrepublik abschneiden und die Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Berlin unmittelbar oder mittelbar über Pankow ihrem eigenen Ermessen unterwerfen. Kein Mensch könne Verhandlungen wollen, die in der Tat einer glatten Annahme dieser Forderungen entsprächen.

Den Russen sei bekannt, daß sie in Berlin im Vorteil seien, denn es liege inmitten der SBZ. Zweifellos könnten sie viele irritierende Schritte unternehmen. Er glaube aber, daß auch der Westen irritierend wirken könne, wenn nicht in Berlin, so an anderen Stellen. Man könne die Sowjets daran hindern, mit ihren Schiffen überall hinzufahren, mit ihren Düsenmaschinen überall hinzufliegen, man könne sehr wohl die schlechte Behandlung in Berlin mit schlechter Behandlung an anderen Stellen erwidern. Aber er erkenne an, daß in Berlin selbst die Sowjetunion in einer günstigeren Position stehe. Das habe ja auch zu einer Beunruhigung der Berliner geführt, die zum Teil Berlin schon verließen. Wäre es aber nicht besser, diese ärgerlichen Dinge auf sich zu nehmen, jene, die ohnehin gehen wollten, gehen zu lassen, anstatt daß der Westen kapituliere?

Ich erwiderte, de Gaulle sage, eine Einigung mit den Russen bringe Nachteile, auf der anderen Seite müsse man aber auch bedenken, daß die Russen über die Abwesenheit Frankreichs glücklich seien. Die Abkühlung zwischen Frankreich und den angelsächsischen Mächten sei spürbar. Dies aber sei ein Gewinn für Chruschtschow.

Wenn man anderer Ansicht sei, müsse man versuchen, die anderen Gesprächspartner von dieser Ansicht zu überzeugen. Man müsse mitmachen und dürfe nicht die Angelsachsen allein lassen. In der amerikanischen Administration hätten in den vergangenen Wochen bedeutende Schwankungen stattgefunden, die als ernsthaft angesehen werden müßten. General de Gaulle möge vielleicht recht haben, daß es eine wahre Einigung zwischen den Sowjets und dem Westen über Berlin nicht geben könne. Es sei aber notwendig, diese Tatsache den Berlinern, den Deutschen, den Franzosen, den Engländern klar vor Augen zu führen. Dies könne man nur dann tun, wenn man dabei sei. Deshalb sei ich der Ansicht, Frankreich müsse seine Meinung äußern, denn nur so könne es gelingen, falsche Ansichten zu korrigieren. Ich hielte die Mitarbeit Frankreichs für absolut notwendig. Frankreich könne gern widersprechen, aber es müsse dabei sein, und es dürfe sich nicht desinteressieren. Meine Sorge gehe dabei weiter, über die reine Berlinfrage hinaus.

De Gaulle erwiderte erregt, daß er nicht glaube, ich hätte irgendeine Berechtigung zu der Erklärung, Frankreich desinteressiere sich. Wenn Berlin noch in den Händen des Westens sei, so sei es weitgehend auf seine Einstellung zurückzuführen. Denn wenn auch Frankreich sich auf Verhandlungen gestürzt hätte, wären die Dinge schon lange in Bewegung geraten; nur weil er nicht mitgemacht habe, befinde sich Berlin noch in der Hand des Westens. Von Desinteresse könne daher nicht gesprochen werden.

Frankreich riskiere heute sehr viel für Berlin, mehr als England, mehr als Amerika. Ich hätte gesagt, die Russen freuten sich, daß Frankreich nicht mit England und Amerika zu Verhandlungen bereit sei. Er sei vielmehr der Überzeugung, daß es den Russen Freude machen würde, wenn auch Frankreich zu Verhandlungen, das heißt zur Aufgabe Berlins bereit wäre. Deshalb glaube er nicht, daß dies eine gute Politik für Frankreich sei. Selbstverständlich könne Frankreich sich nicht allein durchsetzen. Wenn England, Amerika und die Bundesrepublik bereit seien, Berlin herzugeben, könne Frankreich sich dem nicht widersetzen, aber es wolle daran keinen Anteil haben. Damit gingen wir auseinander.

Ich war höchst unbefriedigt von der Unterredung, war sehr verärgert. Dies um so mehr, als Couve de Murville drei Tage vor meiner Ankunft in Paris vor dem Senat in Washington Erklärungen über Berlin abgegeben hatte, die sich in der Sache zwar mit dem deutschen Standpunkt deckten, unseren Ansichten über das weitere Verfahren aber diametral widersprachen.

Wir gingen zum Frühstück. Ich äußerte mich zu einigen Herren meiner Begleitung über die Situation und ließ meine Erregung über diese Entwicklung offen erkennen. Ich erklärte, daß bei diesem Verlauf der Unterredung sich eine katastrophale Entwicklung auch zwischen den Deutschen und den Franzosen anbahnen könne.

Meine Bemerkungen sind sicher sofort französischen Herren weitergegeben und de Gaulle mitgeteilt worden. Auch muß de Gaulle bei Tisch, ich saß ihm ja gegenüber, meine Verärgerung aufgefallen sein. Unerwartet brachte er zum Schluß des Frühstücks einen Tischspruch aus auf Deutschland und auf mich, und zwar in warmen Worten. Er hatte sich nicht erhoben. Ich antwortete ihm, ebenfalls sitzend, in ähnlicher Weise.

Die Besprechung ging nach einer kurzen Pause nach dem Essen in de Gaulles Arbeitszimmer weiter. Ich erklärte ihm, daß mich unsere Besprechung vom Vormittag beunruhige. Ich hätte mich anscheinend nicht klar genug ausgesprochen und wolle deshalb ganz präzisiert meine beiden Hauptanliegen an ihn noch einmal vortragen:

1. Zur Frage Berlin: Sich passiv zu verhalten bedeute, die Initiative an die Sowjetunion zu geben, und dann werde verhandelt werden unter ungünstigen Bedingungen.

2. Frankreich müsse aus der Rolle des Beobachters heraustreten, hinein in die Rolle des sich aktiv Betätigenden. Dabei sei außer Betracht, ob das Ziel sei, Verhandlungen mit den Russen oder keine Verhandlungen. Frankreich könne die Verantwortung nicht ablehnen. Andernfalls seien die Folgen bei uns und überall sehr ernst. De Gaulle möge doch seinen Außenminister entsprechend beauftragen.

De Gaulle griff das Thema von Verhandlungen mit der Sowjetunion auf und wiederholte, daß niemand, auch er nicht, Präsident Kennedy, Macmillan und mich daran hindere zu sondieren, zu erforschen, festzustellen, ob die Sowjetunion zu echten Verhandlungen bereit sei. Wenn bei den Sondierungen sich ergeben sollte, daß bei Verhandlungen etwas Ehrbares möglich sei, werde Frankreich an den Verhandlungen teilnehmen. Er sei allerdings der Überzeugung, daß das Ergebnis der Sondierungen nicht so aussehen werde. Aber grundsätzlich: Er sei für eine Konferenz über Berlin, wenn sich bei Fühlungnahmen, die wohl am besten auf diplomatischen Wegen erfolgen sollten, abzeichne, daß eine Konferenz mit den Russen erfolgreich sein würde. Er halte es aber nicht für gut, daß man sich unter den augenblicklichen Umständen Hals über Kopf in Verhandlungen stürze. Es gebe Botschafter, es gebe diplomatische Kanäle, die seit langem dazu gedient hätten, festzustellen, ob es der Mühe wert sei, eine Konferenz zu organisieren und eine Vereinbarung auszuhandeln, aber in unseren Tagen stürze man sich. ohne jegliche Sicherheit in riesige Konferenzen. Dies habe Nachteile, aber keine Vorteile. Er sehe nicht ein, warum nicht auf diplomatischem Wege die entsprechenden Vorbereitungen getroffen werden könnten.

Ich wiederholte dann meine Bitte zu dem zweiten Punkt unserer Kontroverse. Ich bat noch einmal, daß Frankreich seine Beobachterrolle verlassen und an den Gesprächen der Westmächte aktiv teilnehmen möge.

De Gaulle erklärte, er sei überzeugt, daß man eines Tages werde verhandeln müssen. Er wiederholte aber, daß der Zeitpunkt und die Umstände für Verhandlungen ihm im Augenblick nicht zufriedenstellend erschienen. Er versicherte mir, daß Frankreich in dieser Angelegenheit alles andere als abwesend sei. Gleichgültig, ob man jetzt verhandele oder nicht, ob man zu einem Abschluß gelange, es handele sich um eine Tragödie, in der Frankreich nicht abwesend sein könne, ganz im Gegenteil. De Gaulle versicherte mir, daß, was immer geschehen möge, Frankreich nichts akzeptieren, nichts verhandeln werde im Zusammenhang mit Deutschland und Europa, ohne daß die Bundesrepublik beteiligt sei.

Ich dankte de Gaulle für diese Zusicherung und die Erklärung, daß Frankreich nicht beiseite stehe, sondern mithandele. De Gaulle fand hierzu eine sehr gute Formulierung, die in das Abschlusskommuniqué wörtlich, seinem Vorschlag entsprechend, aufgenommen worden ist.

General de Gaulle kam auf das zurück, was ich ihm bezüglich Kennedys Meinung über Frankreich gesagt hatte. Er wolle in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, so sagte er, daß Kennedy bisher noch niemals seinen Auffassungen beigepflichtet habe, wenn er sie ihm mündlich oder schriftlich in irgendeiner konkreten Frage vorgetragen habe, sei es zum Beispiel hinsichtlich Berlins, sei es hinsichtlich des Kongo. Dies sei eine Tatsache, aber Politik sei nun einmal Politik. Amerika sei nicht Europa. Man könne daher nicht erwarten, daß Kennedy sich seiner Meinung anschließe. Kennedy handele so, wie er es für sein Land für richtig halte. So mache es auch er, de Gaulle, und ich desgleichen.

Ich bedauerte außerordentlich, daß Kennedy bisher nicht auf den Rat de Gaulles gehört habe. Ich hätte jedoch den Eindruck gewonnen, daß Kennedy Rat wünsche. Ich hätte den Eindruck, der sich mir bei meinem letzten Aufenthalt in Washington bestätigt habe, daß Kennedy jetzt die ungeheuren Schwierigkeiten kennenlerne, die es mit sich bringe, wenn man sich mit zu vielen Beratern umgebe. Es sei notwendig, daß de Gaulle und selbstverständlich auch Deutschland mit den Vereinigten Staaten sprächen. Die Notwendigkeit dafür spüre auch Kennedy. Ich schätzte Präsident Kennedy sehr. Kennedy habe außenpolitische Niederlagen erleben müssen, in Laos, in Kuba, und auch innenpolitisch sehe er sich großen Problemen gegenüber, so in der Schulfrage und in sozialen Fragen. Kennedy müsse mit aller Kraft nach allen Seiten kämpfen. Amerika halte heute das Schicksal aller in der Hand. Man müsse ihm daher verständnisvoll begegnen.

De Gaulle bemerkte, Kennedy habe es selbstverständlich nicht leicht an seiner Stelle. Vielleicht habe es keiner leicht an seinem Platz. Er wolle mir jedoch gern folgendes erklären: Er, de Gaulle, verspreche, in allernächster Zukunft öffentlich etwas Freundliches, Entgegenkommendes über die Vereinigten Staaten und Präsident Kennedy zu sagen, damit man nicht etwa glaube, daß, weil man über den Zeitpunkt von Verhandlungen nicht gleicher Meinung sei, ein Widerstreit der Meinungen vorliege. Er habe immer das dafür Nötige gesagt und werde gern bei nächster Gelegenheit noch mehr Öl in das Ruderwerk gießen. Ich fügte noch hinzu, Kennedy habe im nächsten Jahr Kongreßwahlen. Er werde von den Republikanern angegriffen, weil er in der Außenpolitik unsicher sei. Ich sei überzeugt, daß Kennedy jetzt noch mehr auf den deutschen und auf den französischen Rat Wert legen werde. Im Hinblick auf diese Wahlen im Jahre 1962 könne man hoffen, die amerikanische Regierung zu einer Anschauung zu bringen, wie sie der deutsch-französischen Betrachtung entspreche. (…) Am Schluß der Unterredung fragte ich de Gaulle nach seiner Auffassung über das sowjetisch-chinesische Verhältnis.

De Gaulle erklärte, er sei wie ich der Meinung, daß es eine Angelegenheit sei, die im Augenblick zwar rein theoretischer und doktrinärer Natur sei, daß es aber in einer zur Zeit noch nicht näher zu bestimmenden Zahl von Jahren zum großen Faktor in der Welt werde. Rotchina könne nicht das bleiben, was es sei. Dazu sei die Bevölkerungszahl zu groß, dazu sei es zu ehrgeizig, zu stolz. Es werde eines Tages den ersten Platz einnehmen wollen. Dadurch werde sich zweifellos ein Gegensatz zwischen China und seinen Nachbarn Indien, Japan, Amerika und Rußland entwickeln. Man müsse dies in sein Kalkül mit einbeziehen. Es könne der Tag kommen, an dem Rußland uns brauche, um der asiatischen Bedrohung Herr zu werden. Auch das sei ein Grund, der zur Einigung Westeuropas auffordere, denn dann könne man mit den Russen die europäischen Angelegenheiten von einem Standpunkt der Stärke aus diskutieren. Denn in einigen Jahren werde Europa sehr stark sein. Stärker sogar als Amerika. Seine industrielle, politische und kulturelle Macht werde den Einfluß Amerikas übersteigen, und Europa werde dann das erste Element sein, das die Russen brauchten. Man dürfe nur den Russen nicht gestatten, Europa vorher zu überrollen. Er, de Gaulle, glaube übrigens nicht, daß der Kommunismus ewig währen werde. Auch die Kommunisten würden sich ändern, auch Frankreich unterliege einer Veränderung. Es handele sich nur um historische Augenblicke, niemals um die Ewigkeit. Die Sowjets seien vor allem Russen. Eines Tages aber werde dieses große Rußland sich einem ungeheuren Asien, vor allem China, gegenübersehen. Es gäbe aber im Kommunismus keinen Platz für zwei Herrscher. China sei Anwärter auf die Herrschaft. Wenn es zum Konkurrenzkampf komme, sei es notwendig - das liege in der Natur der Dinge -, daß Rußland mit dem Westen einiggehe.

Um aber zusammengehen zu können, hätte er, de Gaulle, Chruschtschow gesagt, müsse Westeuropa erst einmal bestehen. Denn es gäbe kein Gleichgewicht in Europa, wenn es nur ein armes Frankreich, ein armes Deutschland, ein armes Italien gegenüber einem enormen Rußland gäbe. Er hätte versucht, Chruschtschow klarzumachen, daß es sogar im russischen Interesse liege, wenn Westeuropa entstünde. Deswegen solle sich Chruschtschow nicht dagegenstellen, sondern im Gegenteil dieses Entstehen unterstützen. De Gaulle schloß seine Schilderung dieser Unterredung mit Chruschtschow, indem er meinte, er habe Chruschtschow selbstverständlich nicht überzeugen können, aber nein habe Chruschtschow auch nicht gesagt.

Zur Person Chruschtschows bemerkte de Gaulle, Chruschtschow sei keine kriegerische Natur. Erstens sei er aus dem Alter heraus, in dem man Kriege machen wolle, zweitens sei er zu dick und drittens liege es überhaupt nicht in seiner Natur. Aber es gäbe jedoch, das müsse man bedenken, Umstände, unter denen der reine Wille nicht viel zähle, auch der Chruschtschows nicht. Deshalb müsse man äußerste Vorsicht walten lassen.

Bei der Verabschiedung, als de Gaulle mich zur Tür geleitete, zögerte er. Er blieb stehen und sagte dann plötzlich: "Ganz offen gesagt, es hat mir etwas weh getan, zu sehen, als die Berlinkrise mit den Bundestagswahlen zusammenfiel, daß ich keine Geschlossenheit des deutschen Volkes hinter Ihnen, Herr Bundeskanzler, habe feststellen können." Ich bemerkte, dies sei aus der großen Enttäuschung über die Vereinigten Staaten zu erklären. Das sei in den ersten Tagen nach Errichtung der Berliner Mauer sehr offen ausgesprochen worden. Kennedy habe das erkannt und habe Johnson nach Berlin geschickt. Ich fügte hinzu, man müsse in der Berlinfrage aufpassen.

Über die Entwicklung dieser zweiten Unterredung war ich beruhigt. Zum Schluß wurde Premierminister Debré hinzugezogen. De Gaulle unterrichtete ihn über das Wesentlichste unseres Gespräches. Anschließend wurden die beiden Außenminister hinzugebeten, auch sie wurden kurz unterrichtet. Es folgte noch eine etwa halbstündige Besprechung im größeren Kreis, in der de Gaulle ein sehr gutes Referat über unsere fast vierstündigen Besprechungen gab. Er vermied dabei - was ich durchaus verstand -, zu sagen, daß Frankreich seine bisherige Haltung zu Verhandlungen über die Berlinfrage geändert habe.

Ich kam aber auf dieses Thema noch einmal zurück und auf die Frage des Aufgebens der passiven Rolle Frankreichs. De Gaulle meinte hierauf, das brauche man ja im Pressekommunique nicht so deutlich zu sagen. Ich stimmte dem zu, einmal aus Rücksichtnahme auf de Gaulle und Frankreich und zweitens, weil der von mir bereits erwähnte Passus des Pressekommuniques für jeden, der die Dinge etwas tiefer betrachtete, den Wechsel klarmachte. Die Atmosphäre war außerordentlich herzlich.

Quelle: Konrad Adenauer, Erinnerungen 1959 - 1963. Fragmente. Stuttgart 1968, S. 119 ff., dok. in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe/Band 7, zweiter Halbband, 2. Oktober - 31. Dezember 1961, hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Fra

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