Erinnerungen von Hans Kroll, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Moskau, an eine Unterredung mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow am 9. November 1961
Erinnerungen von Hans Kroll an eine Unterredung mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow am 9. November 1961Abschrift
Zwei Tage später, am 9. November, trafen wir uns in Chruschtschows Arbeitszimmer im Kreml. Ich hatte mich sehr eingehend, in nächtelangem Nachdenken auf die Begegnung vorbereitet, da ich angesichts der Sackgasse, in die die Besprechungen unserer Verbündeten mit den sowjetischen Politikern geraten waren, nun entschlossen war, von dem üblichen, konventionellen Weg abzugehen und "den Stier bei den Hörnern zu packen". Die vorausgegangenen laufenden Beratungen mit meinen Freunden Thompson, Roberts und Dejean hatten mich in dieser Absicht bestärkt. Thompson gab mir freimütig zu, daß man westlicherseits mit seinem Latein am Ende sei. Man wisse in Washington nicht mehr, wie es weitergehen solle. Sir Frank Roberts war entgegen seiner sonstigen Art gleichfalls betont pessimistisch. Dejean zeigte sich verlegen. Er war offenbar mit der Haltung seiner Regierung nicht einverstanden, konnte es aber verständlicherweise nicht offen zugeben. Alle drei beklagten auch die angeblich zu starre Haltung der Bundesregierung. Nach einer gründlichen Analyse der Lage waren wir Botschafter übereingekommen, daß es vor allem darauf ankomme, Chruschtschow von seiner Absicht abzubringen, den Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Denn sonst würden wir in die ernsteste Krise der Nachkriegszeit hineinschliddern.
Nach der Erörterung des Gesamtstandes unserer Beziehungen, vor allem auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, ging Chruschtschow zu dem eigentlichen Thema der Unterredung über. Er wolle mir, bevor ich nach Bonn fliege, seine Gedanken mitteilen. Ich erklärte, daß ich keinen amtlichen Auftrag hätte, ihn aufzusuchen, noch könne ich konkrete Vorschläge unterbreiten, also nur meine ganz persönliche Auffassung zu den schwebenden Fragen äußern, ohne Verbindlichkeit für die Bundesregierung und für unsere Verbündeten. Chruschtschow bestätigte dies ausdrücklich. Auch er denke nur an einen unverbindlichen Gedankenaustausch.
Im Verlauf einer längeren Diskussion trug ich dem sowjetischen Ministerpräsidenten eine Reihe persönlicher Anregungen vor, die zum Ziel hatten, seine Einstellung zur Frage eines Separatfriedensvertrages mit der Zone im einzelnen zu eruieren und ihn auf die bedenklichen Folgen einer solchen Aktion hinzuweisen. Aus naheliegenden Gründen muß ich es mir versagen, auf meine Vorschläge hier im einzelnen einzugehen. Chruschtschow hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er ließ sich meine Anregungen nochmals wiederholen. Nach einigem Überlegen sagte er, dies sei das erste Mal in den Nachkriegsjahren, daß man von deutscher Seite Gedanken vorgebracht habe, die ihm konstruktiv, praktisch und im Aufbau logisch erschienen. Er könne natürlich im Augenblick nur seine persönliche Meinung dazu sagen. Aber er stimmte ihnen grundsätzlich zu. Anschließend machte Chruschtschow einige ergänzende Bemerkungen: "Ich habe nichts gegen enge wirtschaftliche und finanzielle Bindungen Berlins an die Bundesrepublik, doch muß ich auf einer klaren Trennung in politischer und administrativer Hinsicht bestehen. In dieser Beziehung kann ich nicht nachgeben und werde ich auch nicht nachgeben. West-Berlin ist kein Teil der Bundesrepublik, auch nach Auffassung der drei Westmächte nicht." Ich widersprach: "Berlin ist ein Land der Bundesrepublik, aber mit einem besonderen Status." Chruschtschow wollte dies nicht gelten lassen und fuhr fort: "Das Besatzungsstatut muß in Fortfall kommen und durch das neue Statut der Freien Stadt ersetzt werden. Die alliierten Garnisonen müssen abgezogen werden; sie sind unter militärischen Gesichtspunkten für die Verteidigung der Stadt ohnehin wertlos. Ich bin dafür, daß sie durch Streitkräfte der Vereinten Nationen ersetzt werden. Falls der Westen dies ablehnt, werden wir auf einem symbolischen Sowjetkontingent für West-Berlin bestehen."
Auf meine Bemerkung, die Trennungsmauer müsse unter allen Umständen wieder verschwinden, erklärte Chruschtschow wörtlich: "Die Mauer ist auf dringenden Wunsch Ulbrichts von mir angeordnet worden. Sie ist eine häßliche Sache. Aber Sie kennen die Gründe, weswegen ich sie für notwendig hielt. Ich brauche mich darüber jetzt nicht näher auszulassen. Sorgen Sie dafür, daß es zu einer allgemeinen deutsch-sowjetischen Verständigung und zu einem besseren Einvernehmen zwischen der Bundesrepublik und der DDR kommt. Dann wird die Mauer wieder verschwinden." Chruschtschow stimmte meiner Ansicht zu, daß bei der Regelung der Berlin-Frage und bei Abschluß eines Friedensvertrages auf die nationalen Gefühle des deutschen Volkes Rücksicht genommen werden müsse. Es dürfe keine Sieger und keine Besiegten geben. Er sei selbstverständlich bereit, auch westliche und deutsche Gegenvorschläge als Diskussionsbasis zu erörtern.
Ich bedeutete ihm in diesem Zusammenhang, daß die Sowjetregierung ihre Bewegungsfreiheit für etwaige Friedensverhandlungen mit uns erheblich einschränken würde, wenn sie bereits vorher einen Separatvertrag mit Ost-Berlin abgeschlossen hätte und dann darauf bestehen würde, daß wesentliche Teile auch in den Friedensvertrag mit der Bundesrepublik aufgenommen würden.
Chruschtschow lächelte verschmitzt: "Sie sind ein schlauer Teufel. Sie wollen mich vom Abschluß eines Friedensvertrages mit der DDR abhalten. Aber vom sachlichen und logischen Standpunkt aus haben Sie recht." Ich stritt natürlich ab, daß dies mein Hintergedanke gewesen sei, aber Chruschtschow fuhr fort: "Auch mir ist ein einheitlicher, gleichzeitig abgeschlossener Friedensvertrag mit einer deutschen Konföderation oder einem deutschen Bund am liebsten. Falls sich dies allerdings als unmöglich erweisen sollte, dann müssen wir eben zu getrennten Verhandlungen kommen."
Die Gesamtbereinigung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses im Sinne einer Normalisierung und schrittweisen freundschaftlichen Gestaltung der Beziehungen sei die mit Abstand wichtigste internationale Aufgabe. Ihre Lösung werde den Weg für aussichtsreiche Abrüstungsverhandlungen frei machen. "Ich sage Ihnen in aller Offenheit und Aufrichtigkeit: Die endgültige Versöhnung des deutschen und des sowjetischen Volkes würde die Krönung meiner außenpolitischen Lebensarbeit bedeuten. Ich wäre glücklich, wenn ich dieses Versöhnungswerk mit Ihrem Bundeskanzler persönlich zuwege brächte." Und mit feierlichem Ernst fuhr Chruschtschow fort: "Ich möchte Sie bitten, diesen Appell zur Zusammenarbeit für das hohe Ziel an Ihren Bundeskanzler weiterzuleiten. Dr. Adenauer hat Autorität und Mut, um dieses Werk zu vollbringen. Die bisherige deutsche Haltung hat auch bei den Westmächten bereits Verstimmung hervorgerufen. Eine Verständigung zwischen unseren beiden Ländern würde bedeuten, daß alle Völker Europas befreit aufatmen. Denn dann wäre der Angsttraum eines künftigen Atomkrieges auf dem europäischen Kontinent endgültig gebannt." Ich habe nach Schluß der Unterredung erneut betont, daß meine Erklärungen lediglich als persönlicher Diskussionsbeitrag zu werten seien. Chruschtschow bestätigte ausdrücklich, daß er unsere Unterredung nicht anders aufgefaßt habe.
Der sowjetische Ministerpräsident hatte den taktischen Zweck meiner Sondierungsvorschläge natürlich durchschaut. Das sollte er auch. Mir kam es angesichts der Fruchtlosigkeit der bisherigen Notenwechsel und persönlichen Kontakte zwischen den westlichen Außenministern und ihrem Kollegen Gromyko darauf an, den Abschluß eines Separatfriedensvertrages mit der SBZ zu vertagen, in der Berlin-Frage das Eis zu brechen und eine Lösung zu erreichen, die Berlin endgültig gegen einen kommunistischen Zugriff abschirmte. Dies war auf der Grundlage der westlichen Forderungen, der drei "Essentials", selbst für den völlig unwahrscheinlichen Fall, daß die Sowjets sie ohne Einschränkung annahmen, nicht möglich. Denn diese Vorschläge enthielten leider keine Sicherung gegenüber der sowjetischen Forderung nach einer klaren Trennung der administrativen und politischen Bindungen Berlins an die Bundesrepublik. Dies aber war der wesentliche Punkt. In West-Berlin befanden sich zu jenem Zeitpunkt etwa achtzig verschiedene Vertretungen amtlicher und halbamtlicher Stellen der Bundesrepublik, an der Spitze der Bevollmächtigte Vertreter, damals Herr Dr. Vockel, später Herr von Eckardt, Vertreter verschiedener Ministerien, Bundesanstalten und Institutionen. Die Zahl ihrer Mitglieder belief sich auf einige Tausend. Nach dem sowjetischen Berlin-Plan hatten diese Menschen West-Berlin zu verlassen. Die Alliierten hatten keine Verpflichtung übernommen, für ihren Verbleib in der bedrohten Stadt kompromißlos einzutreten!
Quelle: Hans Kroll, Lebenserinnerungen eines Botschafters, Köln 1967, 525 ff., dok. in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe/Band 7, zweiter Halbband: 2.10.-31.12.1961, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Frankfurt/Main 1976, S. 923-92