Non-Paper der Regierung der UdSSR an die DDR-Regierung zu Fragen der deutschen Einheit, 16. April 1990
Non-Paper der Regierung der UdSSR an die DDR-Regierung zu Fragen der deutschen Einheit, 16. April 1990Abschrift
Die sowjetische Führung wünscht L. de Maizière und seiner Regierung Erfolg beim Wirken für das Wohl der Bevölkerung der Republik im Interesse der internationalen Sicherheit, guten Nachbarschaft und des gegenseitigen Verständnisses. Sie geht davon aus, daß zwischen der UdSSR und der DDR in Übereinstimmung mit den abgeschlosssenen Verträgen und Abkommen freundschaftliche Bündnisbeziehungen bestehen und ist bereit zu weiterer Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens, der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung der Interessen.
Die UdSSR war stets bestrebt, die vielfältigen Beziehungen auf dem Gebiet der ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten und auszubauen und ist bereit, die übernommenen Verpflichtungen auch unter Berücksichtigung einer möglichen Veränderung der Umstände strikt zu erfüllen.
Die Sowjetunion steht positiv zu den Vereinigungsprozessen zwischen den beiden deutschen Staaten, wobei sie davon ausgeht, daß sich in geordneten Bahnen und unter Achtung der Interessen der anderen Völker und Länder vollziehen werden. Von den Regierungen der UdSSR und der DDR als Teilnehmer der „Sechs“ wird in nicht geringem Maße abhängen, ob die Entwicklung optimal verläuft und im Endergebnis zu einer der Situation sowohl in Deutschland als auch in Europa insgesamt führt.
Wie bekannt, wurde die prinzipielle sowjetische Position zu den deutschen Angelegenheiten in der Vergangenheit wiederholt erläutert, einschließlich auf Ebene des Präsidenten und des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. In Entwicklung und unter Berücksichtigung des Gesagten möchten wir die Aufmerksamkeit der Regierung der DDR auf folgendes lenken:
- Die Sowjetunion hat wiederholt bewiesen, daß ihr die Idee der Vereinigung Deutschlands nicht fremd ist und hat dazu eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die leider seinerzeit nicht die erforderliche Resonanz im Westen gefunden haben. Die UdSSR hat auch jetzt keinen Grund dafür, ihren Standpunkt zu ändern, da die Stabilität in Europa und die Schaffung von Bedingungen, die den Frieden gewährleisten, nicht nur die Existenz einer einheitlichen deutschen Nation und ihres Staates nicht ausschließen, sondern voraussetzen. Die Frage, in welcher Form das deutsche Volk sein Recht auf staatliche Einheit realisiert, müssen die Deutschen selbst beantworten.
- Gleichzeitig hat das deutsche Problem nicht nur eine innere Dimension, sondern ist auch untrennbar mit einer ganzen Reihe äußerer Aspekte verbunden, die die Interessen eines breiten Kreises von Staaten direkt berühren. Deshalb sind wir der Auffassung - und anders kann das auch gar nicht sein -, daß diese beiden Prozesse - der innere und äußere - miteinander verbunden sind und synchron gelöst werden müssen. Die Vereinigung Deutschlands darf nicht zu einer Verringerung der Sicherheit irgendeines Staates führen - sei das nun im Westen, Osten, Norden oder Süden - und darf die Bilanz der Interessen nicht zum Schaden irgendeiner Seite verletzen. Das ist eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung der Stabilität in Europa und für die Fortführung des gesamteuropäischen Prozesses, mit dem die Völker ihre Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft verbinden.
- Die Sowjetunion hat bereits im Verlaufe der letzten Monate bewiesen, daß sie die Lösung praktischer Fragen der Annäherung der deutschen Staaten und die Schaffung von Bedingungen für ihre Vereinigung auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und anderen Gebieten in keiner Weise behindert. Sie hat auch in Zukunft nicht die Absicht, auf diesem Wege Hindernisse zu errichten. Diese Position wurde von der Sowjetunion unter der Voraussetzung bezogen, daß die DDR wie auch die BRD ihre Verpflichtungen erfüllen und die Rechte und Interessen der UdSSR aus den entsprechenden ökonomischen, politischen und militärischen Verträgen und Abkommen von grundlegender Bedeutung in Rechnung stellen werden, die durch äußere Aspekte der deutschen Vereinigung berührt werden könnten.
- Bei der Übergabe der Verwaltungsfunktionen an die provisorische Regierung der DDR im Oktober 1949 durch die Sowjetunion wurde die Absicht der DDR zur Kenntnis genommen, zu den Positionen des Beschlusses der Potsdamer Konferenz zu stehen und die Verpflichtungen zu erfüllen, die sich aus den gemeinsam angenommenen Beschlüssen der vier Mächte ergeben. Diese Prinzipien haben in der Folgezeit stets ihre Widerspiegelung im gesamten System der Vereinbarungen der UdSSR mit den beiden deutschen Staaten gefunden. Die UdSSR hat ein fundamentales Interesse daran, daß es vor einer zukünftigen Annahme allumfassender Beschlüsse zu diesem Fragenkomplex nicht zu irgendwelchen Abweichungen von diesen Vereinbarungen kommt. In diesem Zusammenhang darf nicht zugelassen werden, daß die Verpflichtungen der DDR gegenüber der UdSSR und anderen Staaten im Osten Europas im Vergleich zu den Verpflichtungen der BRD im Westen ein geringeres Gewicht haben. Das Prinzip „pacta sunt servanda" darf nicht verletzt oder umgangen werden, wenn man bestrebt ist, in Europa die Schaffung eines Systems der zwischenstaatlichen Beziehungen anzusteuern, das auf dem Recht und der strikten Erfüllung der Verpflichtungen durch jeden Staat beruht.
- Die Eingliederung eines vereinigten Deutschlands in die NATO ist unannehmbar, und daran ändern auch keinerlei Vorbehalte über eine zeitweilige bzw. ständige Ausklammerung des gegenwärtigen Territoriums der DDR aus der Einflußsphäre der NATO etwas. Die NATO ist ein wichtiger Faktor des Kräfteverhältnisses nicht nur in Europa, sondern auch im Weltmaßstab. Nicht ausgewogene Veränderungen in diesem Verhältnis hätten unvorhersehbare Konsequenzen, deren Vermeidung Aufgabe aller am gesamteuropäischen Prozeß Beteiligter ist. Wenn man konsequent ist, kann man nicht umhin, anzuerkennen, daß eine Aufrechterhaltung der NATO bei Auflösung des Warschauer Vertrages und die Eingliederung eines vereinigten Deutschlands in die NATO durchaus kein positiver Beitrag zur gesamteuropäischen Sicherheit und zur Schaffung von Strukturen sein werden, die den Interessen der Stabilität und des Friedens in stärkerem Maße entsprechen.
- Es ist wichtig, dass alle Staaten ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Stoßrichtung in ihren politischen Bemühungen sowohl heute als auch in der Zukunft haben. Nur unter diesen Bedingungen kann man damit rechnen, daß die von den Staaten eingeleiteten Schritte zur Rüstungsreduzierung und Abrüstung fruchtbar und konsequent sein können, und daß im Ergebnis des Durchbruchs der in 40 Jahren entstandenen Strukturen kein neues verhängnisvolles Wettrüsten in Europa beginnen wird.
- Die Frage nach dem militärpolitischen Status Deutschlands und nach der Zukunft sowohl der NATO als auch des Warschauer Vertrages betrifft alle Teilnehmer dieser Organisationen, und es wäre äußerst unerwünscht, wenn von Beginn an einer der deutschen Staaten seine Loyalität gegenüber derjenigen Militärorganisation demonstrieren würde, deren Gründungsbeschluß seinerzeit zur Spaltung Deutschlands geführt hat, während der andere Staat sich bewußt von seinen Verbündeten entfernen würde, obwohl der Warschauer Vertrag bekanntlich als Antwort auf die Eingliederung der BRD in die NATO geschaffen wurde. Wir können das nicht vergessen. Illoyalität gegenüber dem Warschauer Vertrag wäre ein schlechter Dienst an der gesamteuropäischen Sache.
- Der Ausweg ist die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. Einen Übergang vom gegenwärtigen System zweier Bündnisse zu einer kollektiven Sicherheitsstruktur zu finden - dieses Ziel erschließt breite Möglichkeiten. Die Hauptsache ist, daß dabei keiner Seite Schaden zugefügt wird.
- Unter einer Vereinigung Deutschlands versteht die Sowjetunion - und möchte das auch zukünftig verstehen - das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten zu einem einheitlichen neuen Staat, und nicht die Einverleibung des anderen, kleineren Staates durch den größeren. Es ist für niemanden ein Geheimnis, daß die Idee der Anwendung von Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD auf die DDR, welche Vorbehalte dabei auch gemacht werden mögen, mit dem Ziel entstanden ist, die Verpflichtungen der DDR gegenüber der Sowjetunion und den anderen Verbündeten der DDR zu löschen, bei Aufrechterhaltung der Verpflichtungen der BRD, einschließlich militärpolitischen Charakters, bezüglich des Territoriums der heutigen DDR. Vom Standpunkt des Rechts aus gesehen ist das nichts anderes, als ein Versuch eines NATO-Landes, die souveränen Rechte eines Landes des Warschauer Vertrages zu usurpieren, als ein Anschlag des NATO-Blocks auf die ureigensten Rechte und die Verantwortung der UdSSR gegenüber Deutschlands, die Teil des geltenden Völkerrechts und in der UNO-Charta fixiert sind. Die UdSSR kann durch ihre Zustimmung die Anwendung des Einspruch Artikels 23 wie auch jedes beliebigen anderen Artikels der Verfassung der BRD auf den Prozeß der Vereinigung Deutschlands nicht absegnen. Es genügt, darauf zu verweisen, daß in dieser Verfassung von der Fortführung der Existenz des deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 die Rede ist. Faktisch geht es darum, daß die Verfassung der BRD die Verfassung eines vereinigten deutschen Staates wird, obwohl in der Vergangenheit bekanntlich diese Verfassung die Grundlage für die Annahme einer Reihe innenpolitischer Entscheidungen von durchaus nichtdemokratischen Charakter in der BRD war. Außerdem ist nicht bekannt, ob diese Verfassung demjenigen deutschen Friedensvertrag entspricht, der noch auszuarbeiten und abzuschließen ist.
- Die UdSSR steht fest auf der Position, die vorsieht, daß der 2. Weltkrieg durch den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland abgeschlossen werden muß. In diesem Vertrag oder in einem anderen adäquaten Dokument müssen die Verpflichtungen Deutschlands gegenüber den anderen Staaten ihre entsprechende Widerspiegelung und ihren Ausdruck finden, die die Völker Europas von der Sorge um die Möglichkeit einer Wiederholung der Schrecken einer deutschen Aggression befreit. Wir gehen davon aus, daß ein Friedensvertrag im Rahmen der Verhandlungen Zwei plus Vier ausgearbeitet wird und daß die beiden deutschen Staaten sehr aktiv an der Formulierung seiner Grundsätze teilnehmen werden, die Deutschland nicht diskriminieren und die nationale Würde der Deutschen nicht verletzen dürfen. Dieser Vertrag muß in einwandfreier juristischer Form das Problem der Nachkriegsgrenzen in Europa lösen und den legitimen Interessen der Staaten Genüge tun, die Opfer der Hitleraggression und Okkupation waren. Die Sowjetunion ist zu engster Zusammenarbeit mit der Regierung der DDR bei der Ausarbeitung entsprechender Grundsätze eines solchen Vertrages bereit.
- Die UdSSR und die DDR sind zwei sehr große ökonomische Partner, und die Veränderung der Situation für die DDR befreit selbstverständlich die Seiten nicht von den übernommenen Verpflichtungen, von denen eine Reihe langfristigen Charakter hat und sogar bis ins 21. Jahrhundert reicht.
Quelle: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, dok. in: Texte zur Deutschlandpolitik Reihe III/Band 8a – 1990, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1990, S. 161-166.