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Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz und Michail Gorbatschow in Moskau, 1. November 1989

Niederschrift des Gesprächs von SED-Generalsekretär Egon Krenz und KPdSU- Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau, 1. November 1989

Abschrift [1]

Berlin, 1.11.1989

N i e d e r s c h r i f t
des Gesprächs des Genossen Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, mit Genossen Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 1.11.1989 in Moskau



Nach der äußerst herzlichen Begrüßung wies Genosse Egon Krenz darauf hin, er habe die Losungen des ZK der KPdSU zum 72. Jahrestag der Oktoberrevolution in der „Prawda" gelesen. Besonders habe ihn die Losung „Gruß dem Oktober, Gruß den sozialistischen Ländern" berührt.

Genosse Michail Gorbatschow gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß Genosse Krenz noch vor den Oktoberfeiertagen nach Moskau gekommen sei. Dies symbolisiere, daß beide Parteien und Staaten nach Verwirklichung der Ideale der Oktoberrevolution streben.

Er hieß Genossen Krenz im Namen aller Genossen des Politbüros des ZK der KPdSU und der Führung der Sowjetunion sowie in seinem eigenen Namen auf das herzlichste in Moskau willkommen. Man habe trotz eines äußerst angespannten Zeitplanes versucht, Umstellungen vorzunehmen, um diesen Tag für ausführliche Gespräche mit Genossen Krenz zu gewinnen. Er hoffe vor allem auf eine lebendige Information über die Entwicklung in der DDR. Obwohl Informationen darüber eingegangen seien, sei der Bericht des Genossen Krenz darüber für ihn von außerordentlicher Bedeutung. Jede noch so ausführliche Information erfordere eine gründliche Einschätzung, und wer könne diese präziser vornehmen als die Genossen aus der DDR.

Gegenwärtig sehe alle Welt, daß die SED einen Kurs auf rasche Veränderungen eingeschlagen habe. Jedoch auch die Ereignisse entwickelten sich sehr schnell, und man dürfe nicht hinter ihnen zurückbleiben, dies sei eine langjährige Erfahrung der Sowjetunion. Genosse Gorbatschow wies darauf hin, er habe bereits in Berlin gesagt, daß der Zeitpunkt für Veränderungen nicht verpaßt werden dürfe. Ein Dialog mit der Gesellschaft sei erforderlich. Anders könne eine führende Partei nicht handeln. Sie müsse sich einerseits die Zeit nehmen, die Lage gründlich zu analysieren und ihre politische Orientierung auszuarbeiten. Andererseits entwickle sich das Leben mit eigener Dynamik, und man müsse verhindern, daß ein Knäuel von Problemen entstehe, das nicht mehr entwirrt werden kann.

Genosse Gorbatschow empfahl, sich von den komplizierten Problemen keinen Schrecken einjagen zu lassen. Aus eigener Erfahrung wisse er, daß Genossen zuweilen niedergedrückt seien, weil man in der Sowjetunion nach mehreren Jahren Umgestaltung noch so große Probleme zu lösen habe. Er sage ihnen dann immer, die Partei selbst habe die Umgestaltung gewollt. Sie habe die Volksmassen in die Politik einbezogen. Wenn jetzt manche Prozesse nicht so laufen, wie man sich das vorgestellt habe, wenn es stürmische und emotionsgeladene Auseinandersetzungen gebe, dann müsse man auch damit fertig werden, und dürfe keine Angst vor dem eigenen Volk bekommen.

Er wolle damit nicht sagen, in der Sowjetunion habe man die Perestroika schon voll gepackt. Das Pferd sei gesattelt, aber der Ritt noch nicht vollendet. Man könne immer noch abgeworfen werden. Andererseits seien bereits umfangreiche Erfahrungen gesammelt worden, die große Bedeutung haben. Jetzt beginne in der Sowjetunion die Etappe der vertieften Arbeit zur Fortsetzung der Umgestaltung.

Volk und Partei der DDR stehen gegenwärtig ebenfalls vor grundlegenden Veränderungen. Dazu wünsche er Genossen Krenz Erfolg. Die Sowjetunion werde natürlich in diesem Prozeß an der Seite der Genossen in der DDR stehen. Dies sei niemals in Frage gestellt worden, auch dann nicht, als Probleme auftauchten, die eigentlich hätten offen beraten werden müssen. Es habe für die Sowjetunion und die KPdSU niemals einen Zweifel daran gegeben, daß die Deutsche Demokratische Republik ihr engster Freund und Verbündeter sei. Nach dem Volk der DDR sei das sowjetische Volk wahrscheinlich dasjenige, das der DDR bei ihren Vorhaben am meisten Erfolg wünsche. In diesem Sinne wolle er Genossen Krenz zu seinem Besuch in Moskau begrüßen.

Genosse Egon Krenz dankte für diese Begrüßung und übermittelte herzliche Grüße aller Genossen des Politbüros des ZK der SED. Er dankte dafür, daß Genosse Gorbatschow so schnell Zeit für dieses Gespräch gefunden habe. Des weiteren dankte er ihm für seinen Besuch anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR in Berlin und besonders für das Gespräch mit dem gesamten Politbüro des ZK der SED, das viele Dinge vorangebracht habe. Dies betreffe vor allem die Bemerkung, daß man nicht zu spät kommen darf, sonst werde man vom Leben bestraft werden.

Genosse Gorbatschow warf ein, damit habe er eigentlich über sich selbst gesprochen.

Genosse Krenz legte dar, diese Bemerkung des Genossen Gorbatschow und sein gesamtes Auftreten hätten im Politbüro großen Widerhall gefunden. Dadurch sei der Prozeß der Auseinandersetzung über die weitere Politik der Partei eingeleitet worden.

Die SED könne mit Fug und Recht feststellen, daß seit ihrem letzten Parteitag große Erfolge errungen wurden. Anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR konnte die Bilanz gezogen werden, daß sehr viel Gutes und Bleibendes für die Menschen geschaffen wurde. Man könne also auf einem guten Fundament aufbauen.

Die Bevölkerung habe der Partei jedoch übel genommen, daß insbesondere durch die Massenmedien eine Scheinwelt geschaffen wurde, die mit den praktischen Erfahrungen der Menschen im Alltagsleben nicht übereinstimmte. Dadurch kam es zu einem Vertrauensbruch zwischen Partei und Volk. Dies sei eigentlich das Schlimmste, was einer Partei passieren kann.

Manche sagen, die Ursache dafür sei darin zu suchen, daß die Parteiführung in den letzten drei Monaten die innenpolitische Lage nicht richtig eingeschätzt habe. Sie habe Sprachlosigkeit demonstriert, als so viele Menschen die DDR verließen. Dies sei ein schlimmer Vorwurf. Hinzu kam, daß in dieser schwierigen Situation neben politischen Fehlern auch ein wichtiger psychologischer Fehler gemacht wurde: In der Presse wurde geschrieben, daß wir diesen Leuten keine Träne nachweinen. Das verletzte tief die Gefühle vieler Mütter und Väter, Verwandter, Freunde und Genossen dieser Menschen, denen ihr Weggang großen Schmerz bereitete.

Trotz dieser Tatsachen sei man sich im Politbüro des ZK der SED einig, daß die politische Krise, in der sich die DDR jetzt befinde, nicht erst im Sommer dieses Jahres entstanden sei. Viele Probleme hätten sich seit längerer Zeit angesammelt.

Heute könne man sagen, die Hauptursache bestehe darin, daß der Ansatz für den XI. Parteitag der SED nicht richtig war, nicht auf einer realen Einschätzung der Lage beruhte. Bei der Lösung ökonomischer Fragen ging man von subjektiven Auffassungen aus, die zu wenig die in der Partei und im Volke verbreiteten Meinungen widerspiegelten. Aus bedeutsamen internationalen Entwicklungen - in der Sowjetunion, in anderen sozialistischen Ländern - und auch aus der innenpolitischen Entwicklung der DDR wurden nicht die richtigen Schlußfolgerungen gezogen.

Genosse Krenz bat, ihn richtig zu verstehen: Wenn man einen Verbündeten hat und mit diesem durch dick und dünn gehen will, darf man diese Freundschaft nicht nur in Deklarationen und Kommuniqués festschreiben und darf nicht auf Distanz gehen, wenn es um die Lösung konkreter ökonomischer und anderer Fragen geht, sondern muß als Freund fest zueinander stehen und die auftauchenden Probleme gemeinsam lösen.

Er sehe heute ein großes Problem darin, daß sowohl junge als auch ältere Leute zur Entwicklung des Sozialismus in der DDR Vorbehalte haben, weil sie plötzlich spürten, daß in Grundfragen der Entwicklung des Sozialismus zwischen der Sowjetunion und der DDR kein Schulterschluß mehr vorhanden war. Dies sei ein Problem der DDR; die Barrieren seien von ihrer Seite aufgebaut worden. Die Menschen aber seien heute gebildet und klug. Sie sahen sehr gut, daß zwar die richtigen Worte gebraucht wurden, die Taten jedoch dem nicht entsprachen.

Genosse Gorbatschow warf ein, die Menschen in der DDR erhielten außerdem auch Informationen aus der Sowjetunion, die sie selbständig analysierten. Sie wurden auch aus dem Westen informiert und zogen ihre Schlußfolgerungen.

Genosse Krenz stellte fest, man habe in der DDR leider viele Fragen der Umgestaltung in der Sowjetunion der Beurteilung des Gegners überlassen und nicht den Dialog mit den Menschen darüber geführt. Dies geschah ungeachtet dessen, daß Genosse Gorbatschow Genossen Erich Honecker bei einem der ersten Treffen geraten hatte, daß man sich mit Auffassungen durchaus auseinandersetzen solle, die in sowjetischen Publikationen auftauchten und mit denen man nicht einverstanden sei.

Genosse Krenz wies darauf hin, das Verbot des „Sputnik" in der DDR habe dazu geführt, daß der Gegner die Frage nach der Mündigkeit der DDR-Bürger aufwerfen konnte. Den Genossen und parteilosen Bürgern, die sich darüber empörten, ging es nicht in erster Linie um den Inhalt des „Sputnik". Das Problem bestand darin, daß die Führung der DDR einerseits zusah, wie die Bevölkerung jeden Abend viele Stunden Sendungen des Westfernsehens empfängt, es andererseits aber verbot, eine sowjetische Zeitschrift zu lesen. Dies war ein tiefer Einschnitt im politischen Denken der Bürger der DDR. Deshalb habe man nach dem 9. Plenum des ZK der SED als einen der ersten Schritte auch die Wiederaufnahme des „Sputnik" in die Postzeitungsliste angeordnet.

Genosse Gorbatschow warf ein, die DDR habe auch jetzt das Recht, Kritik an Äußerungen sowjetischer Presseorgane zu üben, mit denen sie nicht einverstanden sei. In der sowjetischen Presse könne man heute die verschiedensten Dinge lesen, in dieser Hinsicht könne ihn kaum noch etwas erschüttern. Als Beispiel fügte er an, daß kürzlich eine Zeitung aus einer baltischen Republik einen bekannten sowjetischen Ökonomen dahingehend zitierte, in Moskau werde eine Verschwörung vorbereitet.

Genosse Krenz stimmte zu, wenn Zeitungen im eigenen Lande kritische Fragen aufgreifen, dann komme man sehr schnell in den Dialog. Heute sei unter den DDR-Bürgern zu hören, daß die „Aktuelle Kamera" schon jetzt interessanter sei als das Westfernsehen.

Genosse Krenz betonte, bei allen Unvollkommenheiten und Problemen in der DDR sowie angesichts der Tatsache, daß noch keine geschlossene Konzeption für die weitere Entwicklung vorliege, sei doch eines erreicht worden: Die Probleme der DDR werden jetzt nicht mehr über den Westen in die DDR hereingetragen, sondern in unserem Lande selbst erörtert.

Das ist sehr wichtig, warf Genosse Gorbatschow ein. Genosse Krenz legte dar, obwohl er wisse, daß Genosse Gorbatschow gut über die Vorgänge informiert sei, denn er selbst habe mit Botschafter Genossen Kotschemassow viele ausführliche Gespräche geführt, wolle er dennoch sagen, daß der Weg zum 9. Plenum des ZK der SED sehr kompliziert war.

Als Genosse Krenz von seiner Reise aus China zurückkehrte, hatte er sich entschlossen zu handeln. Nach Beratung mit Genossen Willi Stoph kam man überein, daß er eine Erklärung des Politbüros zu aktuellen Problemen der Entwicklung in der DDR vorschlagen werde. Der Entwurf dieser Erklärung war im Grunde genommen sehr verwässert, weil zunächst die Absicht bestand, die Situation der Sprachlosigkeit gemeinsam mit Genossen Erich Honecker zu überwinden. Deshalb war man bereit, auf eine Reihe Kompromisse einzugehen.

Genosse Krenz übergab den Entwurf der Erklärung Genossen Honecker. Dieser rief ihn später an und erklärte folgendes:
  1. Wenn Genosse Krenz die Erklärung im Politbüro einbringe, werde er dies als einen Schritt gegen sich persönlich betrachten. Er selber habe niemals etwas gegen die Genossen Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht unternommen.
    Genosse Krenz kommentierte, das sei zwar nicht die Wahrheit, wurde aber so gesagt.
    Genosse Gorbatschow warf ein, an die Sache mit Genossen Ulbricht erinnere er sich selbst noch sehr genau.
  2. Genosse Honecker erklärte, wenn Genosse Krenz die Erklärung im Politbüro einbringe, werde er die Führung der Partei spalten. Genosse Honecker werde sich dafür einsetzen, daß diese Erklärung nicht beschlossen werde.
  3. Wenn Genosse Krenz die Erklärung im Politbüro einbringe, habe er damit zu rechnen, daß die Kaderentscheidungen, die früher oder später im Politbüro eingebracht würden, anders aussehen als bisher geplant. Damit meinte er Genossen Krenz persönlich.
Genosse Krenz legte den Entwurf der Erklärung gegen den Willen des Genossen Honecker dem Politbüro zur Beratung vor. Genosse Honecker, der die Sitzung leitete, erklärte dies ausdrücklich. Nach langer Beratung ergab sich die Situation, daß mit Ausnahme eines Genossen alle anderen Mitglieder des Politbüros sich für die Erklärung aussprachen. Am Abend des ersten Tages dieser zweitägigen Sitzung des Politbüros wurde der Versuch unternommen, eine Kommission zu bilden, der neben Genossen Krenz noch die Genossen Günter Mittag und Joachim Herrmann angehören sollten. Das Ziel bestand darin, die Erklärung weiter zu verwässern. Auf Forderung des Genossen Krenz wurde Genosse Günter Schabowski zur Mitarbeit in der Kommission herangezogen. Beide kämpften gemeinsam für die Annahme dieser Erklärung, was schließlich auch erreicht wurde.

Genosse Gorbatschow bemerkte dazu, politisch sei ihm dies alles klar. Menschlich betrachte er die Entwicklung jedoch als ein großes persönliches Drama des Genossen Honecker. Er habe zu ihm stets gute menschliche Beziehungen unterhalten, und es habe auf diesem Gebiet keine Probleme gegeben. Er habe jedoch bei Genossen Honecker in den letzten Jahren mit Erstaunen bestimmte Veränderungen festgestellt. Wenn dieser auf eigene Initiative vor zwei oder drei Jahren grundlegende Korrekturen an der Politik angebracht hätte, wären solche Verluste und Schwierigkeiten wie gegenwärtig nicht notwendig und möglich gewesen. Genosse Erich Honecker habe sich offensichtlich für die Nummer 1 im Sozialismus, wenn nicht sogar in der Welt gehalten. Er habe nicht mehr real gesehen, was wirklich vorgehe.

Genosse Egon Krenz legte dar, er selbst sei von dieser Entwicklung persönlich sehr betroffen, da sein Lebensweg lange Zeit eng mit dem des Genossen Erich Honecker verbunden war.

Genosse Gorbatschow warf ein, dies habe im Westen auch bestimmte Spekulationen hervorgerufen. Davor solle man jedoch keine Furcht haben.

Genosse Krenz fuhr fort, die Veränderung sei mit Genossen Honecker im Jahre 1985 vor sich gegangen, als Genosse Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wurde. Plötzlich sah sich Genosse Honecker einem jungen dynamischen Führer gegenüber, der neue Fragen auf sehr unkonventionelle Weise anpackte. Bis zu dieser Zeit habe er sich selbst in dieser Rolle gesehen. Allmählich ging ihm der Realitätssinn verloren. Das schlimmste war, daß er sich zunehmend nicht mehr auf das Kollektiv, sondern nur noch auf Genossen Günter Mittag stützte.

Genosse Gorbatschow stellte die Frage nach der Rolle des Genossen Joachim Herrmann.

Genosse Krenz erläuterte, Genosse Herrmann habe im wesentlichen Weisungen des Genossen Honecker ausgeführt, ohne eigenes einzubringen. Genosse Mittag habe dagegen Genossen Honecker beeinflußt, Mißtrauen gegenüber anderen Mitgliedern des Politbüros geschürt und auf taktische wie strategische Entscheidungen des Genossen Honecker in egoistischer Weise Einfluß genommen.

Genosse Krenz berichtete, am Vortage sei im Politbüro eine Analyse der wirtschaftlichen Situation behandelt worden. Im Vorfeld wurde gefordert, ein ungeschminktes Bild der realen Situation der Volkswirtschaft der DDR zu erhalten. Eine solche Analyse sei im Politbüro noch niemals diskutiert worden.

Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß er sich in derselben Lage befunden habe. Er kannte auch den Staatshaushalt nicht, als er Generalsekretär wurde. Bereits zur Amtszeit des Genossen Andropow hätten er und Genosse Ryshkow den Auftrag erhalten, die Lage in der Volkswirtschaft zu untersuchen, weil man spürte, daß dort etwas faul war. Als sie jedoch die volle Wahrheit herausfinden wollten, wurden sie zurückbeordert. Heute sei ihm klar, warum das geschah. Im Grunde genommen existierte der Staatshaushalt damals gar nicht mehr. Die Folgen davon habe man heute noch auszubaden.

Genosse Krenz erläuterte, man sei auf dem 9. Plenum mit dem Vorsatz angetre­ten, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Wenn er jedoch die Wahrheit über die Volkswirtschaftslage vor dem ZK darlege, dann könne dies einen Schock mit schlimmen Folgen auslösen.

Genosse Gorbatschow warf ein, in der Sowjetunion sei die reale Lage der Volkswirtschaft der DDR bekannt gewesen. Man sei auch über die Beziehungen zur BRD und darüber informiert gewesen, was dort für Probleme heranreiften. Die Sowjetunion sei immer bemüht gewesen, ihre Pflichten gegenüber der DDR zu erfüllen. Abgesehen von der Tatsache, daß wegen großer innerer Schwierigkeiten 2 Millionen Tonnen Erdöl gestrichen werden mußten, habe man stets verstanden, daß die DDR ohne die Sowjetunion nicht funktionieren kann. Diese Unterstützung sei die internationalistische Pflicht der Sowjetunion. Man habe sich jedoch gleichzeitig gefragt, warum die Sowjetunion in dieser Lage ständig in so auf­dringlicher Weise mit den Erfolgen der DDR traktiert wurde. Dies war besonders schwer zu ertragen, weil man die wirkliche Lage der DDR kannte. Genosse Gorbatschow sagte, er habe einmal versucht, mit Genossen Honecker über die Verschuldung der DDR zu sprechen. Dies sei von ihm schroff zurückgewiesen worden, da es solche Probleme nicht gebe. Genosse Honecker habe sich offensichtlich als Retter des Vaterlandes gefühlt. Die ganze Entwicklung sei ein großes persönliches Drama für ihn.

Da er eine hohe Funktion innehatte, wurde daraus ein großes politisches Drama. Genosse Gorbatschow betonte, er habe sich bis zum Schluß stets um ein gutes menschliches Verhältnis bemüht. Dies war nicht leicht, weil er die Aussprüche und die wirkliche Meinung des Genossen Honecker kannte. Er habe dies jedoch toleriert, weil es wichtigere Dinge gab.

Genosse Krenz betonte, man müsse auch berücksichtigen, daß viele Genossen die Probleme seit langem erkannt hatten. Sie schwiegen jedoch, um die Einheit und Geschlossenheit der Partei zu wahren. In der Sitzung des Politbüros am 31.10.1989 habe er zum ersten Mal so deutlich empfunden, wie sehr das richtige Prinzip der Einheit und Geschlossenheit der Partei in bestimmten Situationen zum Hemmnis werden kann, wenn die Probleme nicht offen und ehrlich beim Namen genannt werden.

Genosse Gorbatschow äußerte die Überzeugung, wenn Genosse Honecker nicht so blind gewesen wäre und sich nicht nur auf Genossen Mittag gestützt, sondern sich auch mit Genossen Krenz oder Genossen Stoph beraten hätte, dann hätte es eine andere Entwicklung geben können. Besonders Genosse Willi Stoph habe ihm leid getan, weil er in den letzten Jahren von Genossen Honecker faktisch sehr erniedrigt worden sei. Genosse Gorbatschow bemerkte, er sei besonders negativ davon berührt gewesen, wie man mit Genossen Modrow umgesprungen sei.

Genosse Krenz informierte dazu, er habe vor zwei Jahren bereits einmal faktisch den Auftrag erhalten, Genossen Modrow abzusetzen. Damals forderten die Künstler zweier Dresdner Theater, die Perestroika auch in der DDR durchzuführen. Genosse Honecker war zu dieser Zeit gerade im Urlaub. Er rief Genossen Krenz an und beauftragte ihn, nach Dresden zu fahren. Dort sollte er die Auseinandersetzung mit dem Ziel der Ablösung des Genossen Modrow führen. Genosse Krenz fuhr nach Dresden und führte ein sehr offenes Gespräch mit Genossen Modrow. Man fand eine taktische Lösung, die darauf hinauslief, Genossen Modrow zwar zu kritisieren, ihn aber nicht von seiner Funktion abzulösen.

Genosse Gorbatschow sagte, Genosse Krenz habe einen sehr tiefen und wichtigen Gedanken ausgesprochen, daß man nämlich keine formale Einheit der Partei zu­lassen dürfe. Auf der Grundlage verschiedener Meinungen, der Achtung der Auffassung anderer müsse sich diese Einheit herausbilden. Probleme entstünden immer dann, wenn ein Führer versuche, seine Position um jeden Preis zu halten, und nur noch Zustimmung von seiner Umgebung erwarte. Man habe in der Sowjetunion gesehen, wie Genosse Honecker das Politbüro immer mehr erweiterte, um in diesem großen Gremium einen Genossen gegen den anderen ausspielen zu können. Das sei nicht richtig gewesen.

Genosse Gorbatschow berichtete, im Politbüro des ZK der KPdSU sage heute jeder offen, was er denke. Wenn das jemand hören würde, würde er glauben, die Partei stehe vor dem Zusammenbruch. Dies sei aber nicht der Fall. Selbst Mitarbeiter der Genossen, die an den Sitzungen teilnehmen, erhielten zuweilen das Wort. Genosse Krenz warf ein, für eine solche Arbeitsweise sei viel Zeit notwendig.

Genosse Gorbatschow erläuterte, im Politbüro des ZK der KPdSU nehme man sich diese Zeit. Manchmal würde er die langen Debatten gern stoppen. Dann nehme er sich zusammen und achte darauf, wenn er Schlußfolgerungen ziehe, die Genossen nicht zu verletzen. Die Linie, die er als richtig erkannt habe, setze er durch, aber stets unter Berücksichtigung der Meinung der anderen Genossen. Dies habe eine völlig neue Situation geschaffen. Dadurch werde verhindert, daß große Fehler gemacht werden.

Genosse Schachnasarow, persönlicher Mitarbeiter des Genossen Gorbatschow, der an dem Gespräch teilnahm, ergänzte, die Linie werde nicht mit administrativen Mitteln, sondern durch Argumentation und Überzeugung durchgesetzt.

Genosse Krenz brachte zum Ausdruck, er habe das Politbüro des ZK der SED noch niemals so emotionalisiert erlebt wie in der letzten Zeit.

Genosse Gorbatschow warf ein, solche kontroversen Sitzungen, die über zwei Tage andauern, habe es im Politbüro des ZK der KPdSU auch gegeben - einmal bei der Diskussion über den Brief von Nina Andrejewa und ein weiteres Mal bei der Erörterung der langfristigen ökonomischen Orientierung.

Genosse Krenz erläuterte, die sowjetischen Genossen seien zwar über die ökonomische und politische Lage der DDR gut informiert, er wolle trotzdem die gegenwärtige ökonomische Situation charakterisieren, weil sie der Führung der SED gegenwärtig bei politischen Entscheidungen, die dringend notwendig sind, die Hände bindet.

Genosse Gorbatschow habe zu Recht darauf hingewiesen, daß die sozialökonomische Lage in der DDR anders sei als in der Sowjetunion. Die DDR verfüge über eine sehr gut ausgebildete Arbeiterklasse, die bereit sei, Leistungen zu vollbringen, und Besorgnis äußerte, daß das Leistungsprinzip schlecht angewendet wird.

Genosse Gorbatschow ergänzte, auch westdeutsche Vertreter hätten gegenüber sowjetischen Genossen geäußert, die Sowjetunion solle doch das System der Berufsausbildung aus der DDR übernehmen. Dies werde dort hoch eingeschätzt. Für die Sowjetunion sei es einfacher, dieses System aus einem Land mit gleicher Gesellschaftsordnung zu übernehmen, als Erfahrungen aus der BRD.

Genosse Krenz betonte, Genosse Gorbatschow habe auch mit der Feststellung recht gehabt, daß die Situation auf dem Lande in der DDR anders sei, als in der Sowjetunion. Die Klasse der Genossenschaftsbauern in der DDR sei mit dem Dorf fest verbunden. Die Intelligenz sei bereit, ihren Beitrag zu leisten. Jeden Tag erhalte Genosse Krenz zwischen 600 und 800 Briefe. Darunter befänden sich zahlreiche Studien von Wissenschaftlern, die seit langem in bestimmten Schubladen ruhen. So habe er kürzlich eine sehr interessante Studie von Genossen Koziolek, Direktor des Instituts für sozialistische Wirtschaftsführung, auf den Tisch bekommen, die drei Jahre in der Schublade von Genossen Mittag lag.

Die ökonomische Situation der DDR sei dadurch gekennzeichnet, daß die Akkumulationsrate für produktive Investitionen stark zurückging, was sich auch in einem Absinken des Wirtschaftswachstums insgesamt ausdrückte. Der gegenwärtige Fünfjahrplan werde nicht erfüllt werden. In den Zeitungen wurde bis vor kurzem jedoch ständig von einer Erfüllung und Übererfüllung der Pläne berichtet.

Genosse Gorbatschow warf ein, in der Sowjetunion sei immer eingeschätzt worden, daß die veröffentlichten Zuwachsraten in der DDR um ca. 2 Prozent zu hoch seien. Genosse Krenz stellte fest, da habe man noch gut gerechnet. Vieles sei in diesem Bereich durch die Industriepreisreform verdeckt worden. Durch höhere Industriepreise konnten zwar die Zuwachsraten ausgewiesen werden, die realen Waren waren aber nicht vorhanden.

Die Kosten der Erzeugnisse der Mikroelektronik betragen ein Mehrfaches des internationalen Standards. Ihr Einsatz in der Volkswirtschaft der DDR und im Export müsse gegenwärtig mit über 3 Milliarden Mark jährlich gestützt werden.

Für die DDR gebe es jedoch keinen anderen Weg als den, die Schlüsseltechnolo­gien zu entwickeln. Es sei auch erforderlich, bei der Mikroelektronik weiter voranzuschreiten. Man dürfe die Kostenfrage dabei jedoch nicht unterschätzen. Es dürfe auch nicht außer acht gelassen werden, daß die Bevölkerung Fragen stelle. Einerseits werde über die Entwicklung des 1-Megabit-Speicherschaltkreises und andere Errungenschaften der Mikroelektronik berichtet, andererseits mangele es an Konsumgütern, die dieses Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts widerspiegeln. Dies sei ein weiterer Ausdruck des Widerspruchs zwischen Wort und Tat.

Hier sei man bei einer Kernfrage angelangt. Es seien Gefahren für die Stabilität im Lande und für die weitere Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland entstanden.

Zur Zahlungsbilanz der DDR gab Genosse Krenz folgende Information: Bis Ende des Jahres 1989 werde die Auslandsverschuldung auf 26,5 Milliarden US-Dollar, das heißt, 49 Milliarden Valutamark anwachsen.

Die Bilanz in konvertierbaren Devisen sehe Ende 1989 folgendermaßen aus:
Einnahmen: 5,9 Milliarden US-Dollar.
Ausgaben: 18 Milliarden US-Dollar.

Das Defizit betrage also 12,1 Milliarden US-Dollar. Dies bedeute, daß neue Kre­dite aufgenommen werden müssen. Es sei abzusehen, daß dieses Mißverhältnis noch weiter anwachsen werde.

Genosse Gorbatschow fragte erstaunt, ob diese Zahlen exakt seien.
So prekär habe er sich die Lage nicht vorgestellt.

Genosse Krenz legte dar, man müsse jetzt Kredite aufnehmen, um alte Schulden zu begleichen. Gegenwärtig müßten allein für die Zinszahlungen 4,5 Millionen US-Dollar [2] aufgewendet werden, was 62 Prozent des jährlichen Exporterlöses der DDR in Devisen entspreche.

Genosse Krenz betonte, die hohe Auslandsverschuldung sei vor allem dadurch zustande gekommen, daß in der Zeit der Kreditblockade gegenüber den sozialistischen Ländern Kredite zu sehr hohen Zinsen aufgenommen werden mußten. Die Situation werde dadurch besonders prekär, daß gleichzeitig neue Anforderungen an die Volkswirtschaft entstanden und neue Erwartungen in der Bevölkerung aufgetaucht sind, die nicht befriedigt werden können. Der Zustand der Zahlungsbilanz sei gegenwärtig in der DDR nicht bekannt. Wenn man real vorgehen und das Lebensniveau ausschließlich auf die eigene Leistung gründen wollte, müßte man es sofort um 30 Prozent senken. Dies sei jedoch politisch nicht zu verantworten.

Genosse Gorbatschow gab zu dieser Problematik aus eigener Erfahrung fol­gen­den Rat: Genosse Krenz und die Führung der SED müsse jetzt in allgemeiner Form einen Weg finden, um der Bevölkerung mitzuteilen, daß man in den letzten Jahren über seine Verhältnisse gelebt habe. Dies könne Genossen Krenz persönlich jetzt noch nicht angelastet werden. Allmählich sei es jedoch notwendig, die ganze Wahrheit auszusprechen. Zunächst brauche man Zeit für eine umfassende Analyse. Später sei jedoch eine volle Information nicht zu umgehen, weil man sonst die zunehmenden Schwierigkeiten Genossen Krenz selbst anlasten werde. Die Gesellschaft müsse jedoch heute bereits allmählich an diesen Gedanken gewöhnt werden.

Genosse Krenz wies darauf hin, man wolle auf der nächsten Tagung des ZK der SED darauf hinweisen, daß man über die Verhältnisse gelebt habe. Er berichtete, auf einer der letzten Sitzungen des Politbüros habe Genosse Alfred Neumann darauf verwiesen, daß die Situation, in der Genosse Erich Honecker die Funktion des Generalsekretärs übernahm, sich von der heutigen grundsätzlich unterschied. Er nannte drei Unterschiede:
  1. waren 1971 die Staatsfinanzen in Ordnung.
  2. bestand damals eine intakte Regierung, die sofort Maßnahmen einleiten konnte.
  3. hatte man eine intakte Partei.
Genosse Gorbatschow wies erneut darauf hin, daß diese Lage ihn sehr an die Sow­jetunion erinnere. Als in den 60er Jahren Genosse Breschnew die Funktion des Generalsekretärs übernahm, wurde zwar schlecht über Genossen Chruschtschow gesprochen, aber die Läden waren damals voll von Waren. Als 2. Sekretär des Parteikomitees der Region Stawropol mußte er sich damals mit dem Problem beschäftigen, wo die großen Mengen Butter und Fleisch, die man produziert hatte, gelagert werden könnten. Damals wurde der Fettgehalt der Milch erhöht, um dieses Problem zu lösen. Man plante sogar, Fleisch und Butter in den Glet­schern des Elbrus im Kaukasus zu lagern. Der Verbrauch betrug damals allerdings 42 Kilogramm Fleisch pro Kopf. In der Region wurden 750.000 Tonnen Butter produziert. Heute würden 66 Kilogramm Fleisch pro Kopf verbraucht, dazu 18 Kilogramm Fisch. Die Region produzierte 1,5 Millionen Tonnen Butter. Trotzdem seien die Läden leer. Die Hauptursache bestehe darin, daß der Markt gestört sei. Die Menschen hätten viel Geld in den Händen, und es mangele an Waren.

Genosse Krenz erläuterte, eine weitere Aufgabe der DDR auf ökonomischem Gebiet bestehe darin, die Zahlungsfähigkeit der DDR zu erhalten. Wenn der IWF ein Mitspracherecht bekomme, dann könnte eine äußerst ungünstige politische Situation eintreten.

Genosse Gorbatschow äußerte dazu, eine wichtige Sicherung für die Volkswirtschaft der DDR seien die Rohstofflieferungen aus der UdSSR. Diese seien für den nächsten Fünfjahrplan abgestimmt worden. Die Sowjetunion werde alles daran setzen, um ihre eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies werde die Lage der DDR etwas erleichtern.

Wichtig sei jedoch auch die Fortführung der prinzipiellen und flexiblen Politik gegenüber der BRD. Es müsse vermieden werden, daß die BRD über die bekannten Mechanismen Druck auf die DDR ausüben könne. Natürlich müsse man stets so handeln, daß die Entscheidungen in Berlin und nicht in Bonn gefällt werden. Aber man müsse die Beziehungen erhalten und dabei große Flexibilität zeigen.

Genosse Krenz stimmte dem voll zu. Was die Rohstoffe betreffe, so sei die DDR für diese Lieferungen außerordentlich dankbar. Leider wüßten nicht alle Menschen genau, was dies für die DDR bedeute. Genosse Schürer habe einmal eine Rechnung zusammengestellt, welche Kosten entstehen würden, wenn die DDR diese Rohstoffe auf dem kapitalistischen Markt kaufen müßte. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre habe man in der Propaganda auch offen gesagt, daß die DDR ohne diese Rohstoffe nicht leben könnte. Man werde nunmehr diese und ähnliche Tatsachen wieder stärker betonen.

Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß dies in realistischer Weise ohne großes Getöse geschehen müsse.

Genosse Krenz betonte, eine außerordentlich wichtige Frage sei die weitere Kon­kretisierung der Arbeitsteilung zwischen der DDR und der UdSSR. Man müsse die Barrieren abbauen, die in der ökonomischen Zusammenarbeit entstanden seien. Einziges Kriterium sei die ökonomische Effektivität der Zusammenarbeit und der gegenseitige Nutzen.

Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß die Arbeitsteilung auch in der Sowjetunion selbst ein großes Problem sei. Beim Übergang zur regionalen wirt­schaftlichen Rechnungsführung stellten viele Republiken, die vorwiegend Rohstoffe lieferten, die Frage der Neuaufteilung des Nationaleinkommens mit den Republiken, wo die Finalproduktion konzentriert sei. Sie drohten, wenn diese Proportionen nicht verändert würden, könne es zu einer Einstellung der Rohstofflieferungen kommen. Darüber werde im Obersten Sowjet beraten.

Vor einigen Tagen habe im Obersten Sowjet der bekannte Ökonom Schmeljow gefordert, daß ein realer Bericht über die ökonomischen Beziehungen der Sowjetunion zum Ausland, besonders zu den sozialistischen Ländern, vorgelegt werden sollte.

Genosse Krenz erklärte die Bereitschaft der DDR, die Arbeitsteilung weiter zu verstärken.

Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß er Genossen Honecker lange Zeit zu überzeugen versucht habe, die Kooperationsbeziehungen zur Sowjetunion zu verstärken. Dieser sei zwar für Direktbeziehungen, aber nicht für die Entwicklung der Kooperation gewesen. Als Beispiel für eine gut funktionierende Kooperation nannte Genosse Gorbatschow das Lada-Werk, das aus Ungarn und Polen Zulieferteile erhalte, wofür in diese Länder Pkw geliefert würden. Allein durch den Verkauf von Rohstoffen aus der Sowjetunion könne der Handel nicht wesentlich erweitert werden.

Genosse Krenz stimmte dem zu. Er erklärte sich auch mit den Bemerkungen des Genossen Gorbatschow über die Beziehungen zur BRD einverstanden. Er bat darum, klarer darzulegen, welchen Platz die SU der BRD und der DDR im gesamteuropäischen Haus einräumt. Dies sei für die Gestaltung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD von großer Bedeutung. Er erläuterte weiter, daß zwischen der DDR und anderen sozialistischen Ländern ein wichtiger Unterschied bestehe. Die DDR sei in gewisser Weise das Kind der Sowjetunion, und die Vaterschaft über seine Kinder müsse man anerkennen.

Genosse Gorbatschow stimmte dem zu und verwies auf ein Gespräch des Genos­sen Jakowlew mit Zbigniew Brzezinski. Dort wurde unter anderem die Frage erörtert, ob man sich eine Situation vorstellen könne, in der die Wiedervereinigung Deutschlands Realität werde. Brzezinski betonte, für ihn wäre das der Zusammenbruch.

Genosse Gorbatschow begrüßte, daß Genosse Krenz diese Frage aufgeworfen habe. Bisher haben die DDR, die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder in dieser Frage eine richtige Linie verfolgt. Diese habe zur Anerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten, zur internationalen Anerkennung der DDR, zu ihrer aktiven Rolle in der Welt, zum Abschluß des Moskauer Vertrages und anderer Verträge sowie letztendlich zur Konferenz von Helsinki geführt.

In jüngsten Gesprächen mit Margaret Thatcher, François Mitterrand, aber auch mit Jaruzelski und Andreotti sei klar geworden, daß all diese Politiker von der Bewahrung der Realitäten der Nachkriegszeit einschließlich der Existenz zweier deutscher Staaten ausgehen. Die Fragestellung nach der Einheit Deutschlands werde von ihnen allen als äußerst explosiv für die gegenwärtige Situation betrachtet. Sie wollten auch nicht, daß der Warschauer Vertrag und die NATO aufgelöst werden, deshalb seien sie für ein Verbleiben Polens und Ungarns im Warschauer Vertrag. Das Gleichgewicht in Europa sollte nicht gestört werden, weil niemand wisse, welche Folgen dies habe.

Auch die USA bezogen bisher eine ähnliche Haltung. Gegenwärtig gäbe es je­doch unter den Verbündeten der BRD viele Diskussionen. Man sympathisiere in Worten mit den Sorgen der BRD über das geteilte Deutschland. In den USA gab es dazu in der letzten Zeit einige Nuancen, die noch zu untersuchen seien.

Genosse Schachnasarow warf ein, diese Aussagen seien doch wohl mehr für das breite Publikum bestimmt.

Genosse Gorbatschow stimmte zu und betonte, in der Praxis setzten die USA ihre alte Linie weiter fort. Nach seiner Meinung bestehe in der Gegenwart die beste Politik darin, die bisherige Linie weiterzuführen.

Der gleichen Meinung sei auch Willy Brandt. Er habe erklärt, für ihn wäre das Verschwinden der DDR eine eklatante Niederlage der Sozialdemokratie, denn sie betrachte die DDR als eine gewaltige Errungenschaft des Sozialismus. Wenn er sich auch von den Kommunisten abgrenze, so betrachte er die Sozialdemokratie doch als einen Zweig der Arbeiterbewegung und halte an der sozialistischen Idee fest. Bahr habe dies offen im Klartext ausgesprochen.

Für die sozialistischen Länder, so betonte Genosse Gorbatschow, sei es am besten zu betonen, daß die gegenwärtige Lage ein Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung sei. Niemand komme jedoch darum herum, daß zwischen den beiden deutschen Staaten mannigfaltige menschliche Kontakte bestehen. Diese könnten nicht verhindert werden, man müsse sie unter Kontrolle halten und steuern. Dazu sei es notwendig, einige Korrekturen an der Politik anzubringen, um das Verständnis des Volkes zu erlangen. Genosse Gorbatschow bot an, daß darüber mit den sowjetischen Genossen beraten werden könne.

Es wäre sehr schädlich, die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD zu verringern oder gar abzubrechen. Er wolle in diesem Zusammenhang auf fol­gende Momente hinweisen:
  1. Es komme darauf an, die Beziehungen im Dreieck DDR - BRD - Sowjetunion besser zu koordinieren. Darüber habe er auch mit Genossen Honecker gespro­chen. Die Sowjetunion wußte aus anderen Quellen, wie sich die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD entwickeln. Sie wisse sogar nach drei Tagen, was im Nationalen Sicherheitsrat der USA beraten wurde. Andererseits wüßten auch die USA über die Entwicklung in der Sowjetunion gut Bescheid, so sei nun einmal die Lage. Deshalb sei es völlig unnötig, unter engen Bündnispartnern voreinander Geheimnisse zu haben.
    Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß es vor Jahren ein gemeinsames Büro gab, das die Beziehungen der DDR und der Sowjetunion zur BRD koordinierte. Seinerzeit sei es von den Genossen Mittag und Tichonow geleitet worden. Es habe seine Tätigkeit stillschweigend eingestellt, müsse jedoch wiederbelebt werden.
    Genosse Krenz erwähnte, Genosse Honecker sei froh gewesen, daß er die Entscheidungen über Reisen in die BRD oder nach China allein treffen konnte. Er sei sehr dafür, Formen auf Arbeitsebene zu finden, durch die die gemeinsame Politik gegenüber der BRD und Westberlin besser abgestimmt und koordiniert werden könne.
    Genosse Gorbatschow empfahl, diese Frage im Politbüro des ZK der SED oder in einem noch engeren Kreis zu beraten.

  2. Es gelte auch, die Beziehungen in diesem Dreieck genau zu betrachten. Die Sowjetunion sei bestrebt, den Partner BRD enger an sich zu binden. Dann werde auch die DDR eine günstigere Position in diesem Dreieck haben. In der BRD gebe es Bestrebungen in dieser Richtung. Sie sei bereit, mit der Sowjetunion breit zusammenzuarbeiten, erwarte jedoch, daß die Sowjetunion bei der Wiedervereinigung Hilfestellung leiste. Man spreche davon, daß der Schlüssel dafür in Moskau liege. Dies sagten auch die Amerikaner. Dies sei für sie eine sehr bequeme Ausrede. Sie sprächen gegenüber der BRD von ihrer Unterstützung für die Wiedervereinigung, verwiesen jedoch stets auf die Schlüsselrolle Moskaus. Moskau solle den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen. Andererseits seien die USA nicht erfreut darüber, daß es zu einer Annäherung zwischen Bonn und Moskau auf ökonomischem und politischem Gebiet komme. In der Praxis sei allerdings bisher noch nicht viel geschehen. Man dürfe auf diesem Gebiet auch nichts übereilen, denn die Vertreter der BRD brauchten ihre Zeit.
    Für die DDR sei es wichtig, ihre Beziehungen zur BRD zu erhalten und kontinuierlich weiter zu entwickeln. Dabei sei Vorsicht geboten, damit der ideologische Gegner keine Positionen erhalte, die er ausnutzen könne. Es werde also dabei bleiben, daß die DDR die Rohstoffe aus der Sowjetunion erhalte und gleichzeitig ihre Beziehungen zur BRD weiter entwickle, um andererseits zu vermeiden, in die Umarmung der BRD zu geraten.

  3. Für die DDR sei es wichtig, auch mit anderen Ländern außer der BRD die Beziehungen zu entwickeln. Auch hier könne mit der Sowjetunion eng zusammengearbeitet werden. Ungarn und Polen seien auf diesem Gebiet bereits sehr aktiv. Ihnen bleibe auch gar nichts anderes übrig. Oft werde die Frage gestellt, was die Sowjetunion in dieser Situation tue. Sie könne ökonomisch jedoch sehr wenig tun. Es sei absurd, sich vorzustellen, die Sowjetunion könne 40 Millionen Polen aushalten. Die Ursache liege bereits bei Gierek, der Kredite in Höhe von 48 Milliarden Dollar aufnahm. Nunmehr haben die polnischen Genossen bereits 52 Milliarden zurückgezahlt und haben immer noch 49 Milliarden Schulden.
    Im Januar 1987 erhielt Genosse Kadar ein Ultimatum vom IWF, in dem zahlreiche Forderungen gestellt waren, bei deren Nichterfüllung mit der Einstel­lung der Kredite gedroht wurde.
Genosse Krenz wies darauf hin, daß dies nicht unser Weg sei.

Genosse Gorbatschow betonte, in den Beziehungen DDR-BRD gäbe es solche Probleme auch. Man wußte in der Sowjetunion, daß die Mikroelektronik der DDR in starkem Maße auf westlicher Elementebasis aufgebaut wurde. Genosse Krenz bemerkte, daß daran auch Genosse Mielke mit seinem Ministerium Anteil habe. Außerdem wurden auch sowjetische Elemente verwendet. Daraus ergebe sich heute, daß man stärker zusammenarbeiten muß. Es müsse jedoch eine ausgewogene Zusammenarbeit sein, in der deutliche Prioritäten gesetzt werden.

Zusammenfassend bemerkte Genosse Gorbatschow, es gehe darum, die bisherige Politik weiterzuführen, die Erfolge gebracht habe. Darauf könne die DDR und ihr Volk stolz sein.

Es gebe keinen Grund, Vermutungen anzustellen, wie sich die deutsche Frage einmal lösen wird. Die gegenwärtigen Realitäten müßten berücksichtigt werden. Dies sei das wichtigste.

Wenn die Tendenz der Annäherung in Europa mehrere Jahrzehnte lang anhalte und sich die Integrationsprozesse unabhängig von den Gesellschaftssystemen, jedoch bei eigenständiger Entwicklung der Politik, Kultur, des Entwicklungsweges und der Traditionen fortsetzen und der Austausch von geistigen und materiellen Gütern sich entwickle, dann könne die Frage möglicherweise eines Tages anders stehen. Aber dies sei heute kein Problem der aktuellen Politik. In der aktuellen Politik müsse die bisherige Linie weitergeführt werden. Genosse Gorbatschow bat Genossen Krenz, dies den Genossen des Politbüros zu übermitteln. Darüber gäbe es auch Verständigung der Sowjetunion mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Antihitlerkoalition.

Genosse Krenz wies darauf hin, daß diese Politik ideologisch abgesichert werden muß. Genosse Honecker habe Anfang der 80er Jahre die bekannten fünf Geraer Forderungen gestellt. In der Folgezeit habe die DDR zwar einerseits mit der BRD zahlreiche gegenseitig vorteilhafte Verträge abgeschlossen, die BRD habe sich aber bei keiner der fünf Forderungen bewegt. Dies habe in der DDR zu bestimmten falschen Vorstellungen geführt. Da zahlreiche prominente Vertreter der DDR in die BRD reisten, stellten auch die einfachen Bürger diese Forderung. Man spreche viel von allgemein menschlichen Werten, hier sei jedoch ein allgemeines deutsches Problem entstanden. Deshalb sei die Entideologisierung der Beziehungen für das Verhältnis BRD-DDR eine sehr komplizierte Frage. Sie stehe anders als in den Beziehungen zwischen anderen Staaten. Entideologisierung würde hier den Verzicht auf die Verteidigung des Sozialismus bedeuten. Fragen wie die Mauer und das Grenzregime zur BRD würden neu aufgeworfen. Die DDR befinde sich in der komplizierten Situation, diese nicht mehr recht in die heutige Zeit passenden aber weiterhin notwendigen Dinge zu verteidigen.

Genosse Gorbatschow äußerte die Meinung, daß dies alles neu durchdacht werden müsse. Die Zeit sei dafür reif. Wenn die DDR nicht die Formel dafür finde, die es ermögliche, daß die Menschen ihre Verwandten besuchen könnten, dann wäre das für die Gesellschaft der DDR ein sehr unbefriedigender Zustand. Die DDR werde erneut Ultimaten gestellt bekommen. Sie müsse jedoch die Initiative selbst in die Hand nehmen. In der Sowjetunion sei man bereit, über solche Maßnahmen zu beraten. Die DDR spüre jedoch besser, was zu tun sei. Es sei sicher notwendig, einige konkrete Schritte zu tun, die man aber stets mit bestimmten Verpflichtungen und Aktionen der anderen Seite verknüpfen müsse. Es sei an der Zeit, auf Kanzler Kohl, der nun Kontakt zu Genossen Gorbatschow und Genossen Krenz hergestellt habe, stärkeren Druck auszuüben. In der BRD werde die nationale Problematik sehr stark in der Politik ausgenutzt. Es gebe Leute in den Regierungsparteien, die Kohl loswerden wollten. Er habe jedoch auf das Pferd des Nationalismus gesetzt. Es gebe auch noch schärfere Forderungen aus dem rechten Lager. Der CDU-Abgeordnete Todenhöfer habe sich mit einem Brief an die USA und die Sowjetunion gewandt und dort die sofortige Wiedervereinigung Deutschlands gefordert. In der BRD werde mit diesem Thema wild spekuliert.

Genosse Krenz erläuterte vorgesehene Maßnahmen der DDR zu diesem Fragenkomplex:
  1. Die DDR werde versuchen, jeden Schußwaffengebrauch an der Grenze zu verhindern. Entsprechende Weisung sei an die Grenztruppen ergangen. Es werde nur geschossen, wenn akute Gefahr für Leben und Gesundheit der Grenzsoldaten bestehe.
  2. Der Entwurf des neuen Reisegesetzes sei im Politbüro verabschiedet und dem Ministerrat übergeben worden, der ihn zur öffentlichen Diskussion stellen werde. Er solle noch vor Weihnachten in der Volkskammer angenommen werden.
    Nach diesem Gesetz werde jeder DDR-Bürger die Möglichkeit erhalten, einen Paß und ein Ausreisevisum für Reisen in alle Länder zu erwerben. Der Kreis der aus Sicherheitsgründen davon Ausgenommenen werde sehr eng gehalten.
  3. Leider sei die DDR nicht in der Lage, Reisende mit genügend Valutamitteln auszustatten. Man könne nicht weiter über seine Verhältnisse leben. Mit der Veröffentlichung des Reisegesetzes werde ein Kommentar erscheinen, in dem dargelegt werde, daß die aus dem Umtausch bei Reisen von BRD-Bürgern in die DDR erlösten Mittel nicht ausreichen, um DDR-Reisende mit Valuta aus­zustatten.
Genosse Gorbatschow schlug vor hinzuzufügen, daß ein Weg die allmähliche Herstellung der Konvertierbarkeit der Mark der DDR wäre. Dies wäre ein Anreiz für die Werktätigen, besser zu arbeiten, eine höhere Arbeitsproduktivität und Qualität anzustreben, wodurch solche Ziele erreichbar würden.

Genosse Krenz legte weitere Schritte der Führung der SED in den nächsten Tagen und Wochen dar. Am 8. November 1989 werde das 10. Plenum des ZK einberufen werden. Dort solle die Frage beantwortet werden, wie es in der DDR weitergeht. Wenn auf diese Frage keine seriöse Antwort erfolge, werde die Parteiführung weiterhin vom ZK unter Kritik genommen werden.

Genosse Gorbatschow berichtete, die internationale Reaktion vor allem auf die Rede des Genossen Krenz vor der Volkskammer sei sehr positiv gewesen. Nach seiner Rede auf dem 9. Plenum des ZK der SED herrschte Skepsis vor. Die Reaktion war sehr vorsichtig. Nunmehr gehe es darum, den positiven Eindruck weiter zu vertiefen.

Genosse Krenz wies darauf hin, die an die sowjetischen Botschafter in den verschiedenen Ländern ausgegebenen Weisungen hätten dazu viel beigetragen.

Genosse Gorbatschow informierte, er habe von allen wichtigen Staatsmännern, an die er sich wandte, positive Antworten erhalten.

Genosse Krenz berichtete, er habe von ihnen allen Glückwunschtelegramme erhalten, darunter auch von Bundeskanzler Kohl. Mit letzterem hatte er ein kurzes Telefongespräch. Kohl verwies auf seinen ständigen Kontakt mit Genossen Gorbatschow und empfahl, diesen auch mit Genossen Krenz aufzunehmen. Genosse Krenz erwiderte, es sei immer besser, miteinander zu reden als übereinander. Kohl brachte sogleich konkrete Vorschläge zum Reiseverkehr, zu Umweltfragen, zu den Beziehungen zu Westberlin u.a. vor. Genosse Krenz sagte zu, mit dem Beauftragten des Bundeskanzlers alle konkreten Fragen zu erörtern. Kohl wollte vor allem über Fragen sprechen, zu denen man sich einigen könne, nicht zu solchen, wo man nicht übereinstimme. Genosse Krenz wies Kohl ausdrücklich darauf hin, sowohl die DDR als auch die BRD hätten eigene Interessen. Er müsse damit rechnen, daß er die Interessen der DDR konsequenter als bisher vertreten werde. Kohl sei während des Gesprächs sehr aufgeregt gewesen. Er habe die Sätze häufig nicht beendet.

Genosse Gorbatschow schätzte ein, Kohl sei keine intellektuelle Leuchte, sondern ein Kleinbürger. Von diesen Schichten werde er auch am besten verstanden. Aber er sei trotz allem ein geschickter und hartnäckiger Politiker. Schließlich sei auch Reagan populär gewesen und habe sich relativ lange gehalten. Das treffe auch auf Kohl zu.

Genosse Krenz schätzte ein, das 10. Plenum des ZK der SED werde sehr stürmisch verlaufen. Viele Genossen bereiteten sich vor und wollten sprechen. Die Diskussion sei nicht offiziell vorbereitet worden. Die Zeiten der Ergebenheit gegenüber dem Politbüro seien vorbei. Es werde scharf die Frage der Verantwortung des Politbüros als Kollektiv für die entstandene Lage gestellt werden. Das betreffe auch seine eigene persönliche Verantwortung. Er hoffe, man werde eine kluge Antwort auf diese Frage finden.

Auf dem Plenum soll ein Aktionsprogramm beschlossen werden. Die Ursache liege darin, daß das 7. und 8. Plenum des ZK vom Leben überholt wurden. Das vorgesehene Aktionsprogramm soll die Richtung der weiteren Arbeit kurz umreißen. Man werde versuchen, die Frage zu beantworten, worin ein besserer, modernerer und attraktiverer Sozialismus bestehe, welche Werte des Sozialismus verteidigt werden müßten und welche diskussionswürdig seien.

Auf dem Plenum werde über eine radikale Wirtschaftsreform gesprochen werden. Die Regierung erhalte den Auftrag, die Hauptrichtungen auszuarbeiten. Klar sei, daß man die Antworten im Sozialismus und nicht in der freien Marktwirtschaft suchen werde.

Die zweite Frage sei die breite Entfaltung der sozialistischen Demokratie. Eine Reihe neuer Gesetze sei in Vorbereitung. Ein großes Problem seien die Wahlen. Hier wurde bereits erklärt, daß wir alle Erfahrungen früherer Wahlen ausnutzen und ein neues Wahlgesetz vorbereiten wollen. Es werde auch um Fragen der Verfassung, so die Pressefreiheit, die Offenheit und die Freiheit und Würde der Persönlichkeit gehen. Die Frage der führenden Rolle der Partei unter den neuen Bedingungen müsse erörtert werden. Es gelte Kritik und Selbstkritik stärker zu ent­wickeln, um Subjektivismus auszuschließen. Die Veränderungen gingen bis zu dem Vorschlag, die Amtsperiode für die Funktion des Generalsekretärs und für weitere hohe Funktionen zeitlich zu begrenzen.

Auf dem Plenum werden auch Kaderfragen behandelt werden, informierte Genosse Krenz. Zu denen, die um ihre Entbindung von den Funktionen gebeten haben, gehören die Genossen Mielke, Neumann, Mückenberger, Hager und Axen.

Genosse Sindermann begründete seine Absicht, noch bis zum Parteitag im Amt zu bleiben. Die Forderungen der Partei nach Kaderveränderungen gehen jedoch noch weiter.

Genosse Gorbatschow schätzte Genossen Stoph sehr hoch ein. Er sei in den letzten Jahren in einer schwierigen Situation gewesen. Er habe seine Würde auch bewahrt, als er durch Genossen Mittag förmlich an die Wand gespielt wurde. Er habe jedoch stets in entscheidenden Situationen eine sehr prinzipielle Position bezogen. Man dürfe nicht alle alten Genossen in einen Topf werfen.

Genosse Krenz brachte sein Bedauern über den Fall des Genossen Tisch zum Ausdruck. Er sei nunmehr zum Rücktritt gezwungen. Der Grund bestehe darin, daß er in einer Fernsehübertragung einen schweren politischen Fehler begangen habe. Er lastete die Verantwortung für die entstandene Lage vor allem den Kadern an der Basis an. Die Gewerkschaftsfunktionäre hätten nach seinen Worten ihre Pflichten deswegen nicht erfüllt, weil sie zu sehr auf die Parteisekretäre in den Betrieben gehört hätten. Dies habe große Empörung unter den Gewerkschaftsmitgliedern hervorgerufen. Im Politbüro sprach man sich dafür aus, diese Frage nicht hier zu entscheiden, um die Selbständigkeit der Gewerkschaften nicht zu beeinträchtigen. Der Bundesvorstand des FDGB habe seine Entscheidung zu dieser Frage zunächst bis zum 17.11. vertagt. Auch das wurde jedoch von den Gewerkschaftsmitgliedern weithin nicht akzeptiert. Man sprach sogar von der Möglichkeit einer Spaltung der Gewerkschaft, wenn Genosse Tisch nicht zurücktrete. Nunmehr habe Genosse Krenz einen Anruf erhalten, daß Genosse Tisch umgehend zurücktreten werde.

Zu den in der DDR weiterhin stattfindenden Demonstrationen äußerte Genosse Krenz, die Situation sei nicht einfach. Die Zusammensetzung der Demonstranten sei unterschiedlich. Unter ihnen wirkten einige wirkliche Feinde. Ein großer Teil seien Unzufriedene oder Mitläufer. Die Führung der SED sei entschlossen, politische Probleme mit politischen Mitteln zu lösen. Die Demonstrationen würden legalisiert und man werde keine Polizei gegen sie einsetzen.

Die Lage entwickle sich jedoch nach einer eigenen Dynamik. Für das Wo­chenende sei eine große Demonstration mit möglicherweise einer halben Million Teilnehmer in Berlin geplant. Initiatoren seien die Künstler und einige ihrer Ver­bände.

Genosse Gorbatschow gab hierzu folgende Information:
Vor seinem Besuch in der DDR erhielt er über Raissa Maximowna Gorbatschowa in ihrer Funktion im sowjetischen Kulturfonds einen Brief des Kulturbundes der DDR zugeleitet. Dort wurde die Situation in der DDR geschildert und darauf hingewiesen, daß der Kulturbund sich mit einem Appell an das Volk der DDR wenden werde, wenn zum Jahrestag keine Reaktion der Parteiführung erfolge.

Genosse Krenz bekräftigte, wenn Erich Honecker zum Jahrestag eine andere Rede gehalten hätte, hätte sich die Lage anders gestalten können. Zur Demonstration habe das Politbüro entschieden, die Parteimitglieder zur Teilnahme aufzurufen. Unter den 17 Rednern werde auch Genosse Schabowski sein, um zu verhindern, daß die Opposition auf dieser Demonstration unter sich bleibe. Man wolle alles für einen friedlichen Ablauf tun, habe jedoch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Durch eine Maßnahme solle verhindert werden, daß ein Massendurchbruch durch die Mauer versucht werde. Das wäre schlimm, denn dann müßte die Polizei eingesetzt und müßten gewisse Elemente eines Ausnahmezustandes eingeführt werden. Eine solche Entwicklung sei nicht sehr wahrscheinlich, aber man müsse darauf vorbereitet sein.

Bei der Demonstration seien folgende Losungen zu erwarten:
  1. Nennen der Verantwortlichen für die entstandene Lage
  2. Rücktritt der Alten im Politbüro
  3. Veränderungen der Zusammensetzung der Regierung
  4. Reisemöglichkeiten
  5. Veränderung der Stellung der Gewerkschaft und des Jugendverbandes
  6. Neues Wahlrecht
  7. Zulassung einer Opposition
  8. Abschaffung von Privilegien
  9. Presse- und Meinungsfreiheit
  10. Verbesserung der Versorgung und kontinuierlichere Produktion.
Gegenwärtig sei man bemüht, keine Kriminalisierung der Demonstranten zuzulassen und sehr vorsichtig vorzugehen. Die Frage der Anerkennung des „Neuen Forums" sei noch nicht entschieden. Bisher könne man deren Orientierung noch nicht voll einschätzen. Es müsse verhindert werden, daß sich etwas ähnliches entwickle wie die Solidarnosc in Polen.

Genosse Gorbatschow teilte sowjetische Erfahrungen aus der ersten Etappe der Umgestaltung zu diesen Fragen mit. Damals entstanden viele informelle Organisationen und andere Bewegungen. Die Führung stand ihnen skeptisch gegenüber. Gute und schlechte wurden dabei in einen Topf geworfen. Dabei wurde in einigen Republiken Zeit verloren. Diese Bewegungen wurden nicht mit der Tätigkeit der Partei verbunden, wodurch es zu einer Polarisierung kam. Einige dieser Kräfte entwickelten sich zu einer Opposition gegen die Politik der Umgestaltung und vertreten separatistische, nationalistische und antisozialistische Auffassungen.

Man dürfe in solchen Fragen keine Zeit verlieren. Antisozialistische und kriminelle Elemente seien die eine Seite. Aber insgesamt könne man das Volk nicht als Feind betrachten. Wenn es sich gegen die Politik auflehne, müsse man überlegen, was an der Politik zu ändern sei, damit sie den Interessen des Volkes und dem Sozialismus entspricht. Man dürfe den Zeitpunkt nicht verpassen, damit solche Bewegungen nicht auf die andere Seite der Barrikade geraten. Die Partei dürfe solchen Problemen nicht ausweichen, sie müsse mit diesen Kräften arbeiten. In der Sowjetunion tue man das jetzt, aber es sei bereits sehr spät. Diese Organisationen hätten bereits ihre eigenen Führer hervorgebracht und ihre eigenen Prinzipien ausgearbeitet.

Wo es sich um Antisowjetismus handle, dort hätten Kommunisten nichts zu suchen. Aber in der Mehrheit seien dies beunruhigte Werktätige, die sich um zahlreiche vernachlässigte Fragen sorgen.

Genosse Krenz bekräftigte, daß die SED in diesem Sinne an das Problem herangehen wolle. Dies werde jedoch ein langer Prozeß sein.

Anknüpfend an diese Äußerungen des Genossen Gorbatschow bat Genosse Krenz zu prüfen, ob der Erfahrungsaustausch mit den Abteilungen des ZK der KPdSU zu einer Reihe von Fragen, in denen in der Sowjetunion bereits jahrelange Erfahrungen vorliegen, intensiviert werden könnte. Dies betreffe die Bereiche Parteiorgane, Sicherheitsfragen u.a. Generell sollte der Erfahrungsaustausch zwischen den Abteilungen der Zentralkomitees wieder verstärkt werden.

Genosse Gorbatschow begrüßte dies.

Genosse Krenz teilte mit, die SED werde in nächster Zeit erneut Kader zur Ausbildung an sowjetische Parteischulen entsenden.

Genosse Krenz verwies auf einige gegenwärtig offene Probleme auf dem Gebiet der ökonomischen Zusammenarbeit. Dazu gehören:
  • eine bessere Auslastung der Fährverbindung Mukran-Klaipeda, die für den Import und Export von großer Bedeutung sei,
  • bessere gegenseitige Vertragstreue,
  • Prüfung der Möglichkeit für eine weitere Erhöhung der Erdgaslieferungen aus der UdSSR, wofür die DDR sehr dankbar wäre,
  • eine Vereinbarung über weitere Lieferungen von Pkw „Lada" in die DDR, da im Moment Fragen der Versorgung der Bevölkerung, u.a. mit Pkw, in der Diskussion eine sehr brisante Rolle spielen. Hier wirke sich aus, daß die Spareinlagen in der DDR außerordentlich hoch und die innere Staatsverschuldung gewaltig seien. Unter der Bevölkerung sei sehr viel Geld im Umlauf. Dazu komme ein systematischer Abkauf von Waren insbesondere durch pol­nische Bürger.
Genosse Gorbatschow bestätigte dies auch für die Sowjetunion.

Genosse Krenz betonte, für die SED bleibe es das Entscheidende, den Gleichklang der Herzen mit der KPdSU und der UdSSR wieder herzustellen, der für uns lebenswichtig sei. Die Bereitschaft dazu sei auf sowjetischer Seite immer vorhanden gewesen, auf unserer Seite habe es jedoch bestimmte Störungen gegeben. Er wolle im Auftrage des Politbüros des ZK der SED erklären, daß beide Parteien wieder zu den Methoden zurückkehren sollten, alle Fragen, die uns bewegen, offen und ehrlich aufzuwerfen. Die Rufe „Gorbi, Gorbi" während der Demonstrationen in Berlin hätten gezeigt, daß es unmöglich sei, das gute Verhältnis der jungen Leute und der gesamten Bevölkerung der DDR zur Sowjetunion zu zerstören, auch wenn die Führung hier versagt habe.

Genosse Gorbatschow berichtete, das schwierigste bei der Teilnahme am 40. Jahrestag der DDR sei für ihn gewesen, daß er diese Stimmung spürte und sich an der Seite Erich Honeckers dabei sehr unwohl gefühlt habe.

Genosse Krenz warf ein, ihm sei sogar vorgeworfen worden, diese Stimmung, insbesondere der Jugendlichen, organisiert zu haben. Es war jedoch einfach der Ausdruck der wahren Haltung der Menschen.

Genosse Gorbatschow betonte, daß der Besuch des Genossen Krenz so kurz nach seiner Wahl außerordentlich notwendig für die gegenseitige Abstimmung am Beginn der neuen Etappe gewesen sei. Es gehe darum, gemeinsam zu demonstrieren, daß man zusammenstehe, daß die Entwicklung in der Sowjetunion der DDR sehr nahe sei und umgekehrt. Dies sei wichtig auch für die anderen sozialistischen Länder und für die ganze Welt. Auch in der BRD werde man sich dafür interessieren, worüber sich Gorbatschow und Krenz abgestimmt haben.

Genosse Gorbatschow hob hervor, daß er alle geäußerten Gedanken des Genossen Krenz im Prinzip teile. Sie seien von der realen Situation diktiert. Für die SED sei es jetzt sehr wichtig, nicht die Initiative zu verlieren. Die Prozesse verliefen sehr dynamisch und könnten sich weiter beschleunigen. Die Führung der Partei müsse entsprechend reagieren. Wenn die Prozesse an Spontaneität gewinnen oder die politische Orientierung verlieren, dann wäre das ein großes Unglück. Es könne dadurch eine ausweglose Lage entstehen. Dann wäre es möglich, daß falsche Losungen die Lage bestimmen und die Situation von anderen Kräften ge­nutzt werden könne.

Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß er in dieser Sache eigene Erfahrungen gemacht habe. Durch das Zögern der Führung hätten sich in der Sowjetunion ei­nige Probleme stark zugespitzt, das betreffe insbesondere die Wirtschaft. Genosse Krenz habe mit Recht betont, das kommende Plenum müsse eine Einschätzung der komplizierten Lage treffen. Diese Einschätzung müsse ausgewogen aber entschieden sein. Genosse Gorbatschow erinnerte in diesem Zusammenhang an das Januar-Plenum des ZK der KPdSU von 1987. Dort war zum ersten Mal formuliert worden, daß die Partei die Verantwortung für die bisherige Entwicklung übernimmt. Gleichzeitig wurde ein konkretes Programm der Umgestaltung vorgeschlagen. Möglicherweise werde die Entwicklung in der DDR in anderen Etappen verlaufen. Für das Ansehen des Generalsekretärs sei es jedoch außerordentlich wichtig, daß der Generalsekretär sehr verantwortungsbewußt und mit großer Achtung vor der Wahrheit an die Probleme herangehe. Sonst werde ihm keiner Glauben schenken.

Genosse Krenz warf ein, es gäbe jetzt schon Kritik dafür, daß der Rücktritt des Genossen Honecker mit gesundheitlichen Gründen erklärt wurde.

Genosse Gorbatschow meinte, auch hier würden weitere Erklärungen notwendig werden.

Genosse Gorbatschow bezeichnete es als richtig, auf dem Plenum erste Konturen der Politik der nächsten Periode anzudeuten und ein entsprechendes Aktionsprogramm anzunehmen. Ein detaillierter Plan sollte noch nicht ausgegeben werden, weil dies den Generalsekretär als überheblich erscheinen lassen könnte, da er offensichtlich sich keine Zeit nehme, um Vorschläge und Empfehlungen von allen Seiten gründlich zu studieren und zu überdenken. Die Hauptrichtungen des Aktionsprogramms zeichneten sich jedoch schon klar ab - mehr Sozialismus, Erneuerung, Demokratisierung. Man werde das, was in der Vergangenheit gut und nützlich war, übernehmen. Dies betreffe z.B. die soziale Orientierung der Wirtschaft der DDR, die stets ihre starke Seite war. Das dürfe nicht aufgegeben werden. Dies sei ein Potential der DDR, mit dem sie wuchern könne.

Auf dem Gebiet der Kaderpolitik würden sicher entscheidende Veränderungen auf dem Plenum bevorstehen. Genosse Mielke wollte mit seinem Rücktrittsgesuch sicherlich als alter Kommunist anderen ein Beispiel geben. Dies ermögliche es Genossen Krenz, die Kaderfragen von den inhaltlichen Fragen der Erneuerung zu trennen. Sicherlich könne man nicht die Frage des kollektiven Rücktritts des Politbüros oder der Regierung stellen, aber tiefgreifende Kaderveränderungen seien zweifellos notwendig. Das Plenum müßte dazu den ersten Schritt tun. Es wäre zu empfehlen, einige kluge und originelle Köpfe aus dem ZK in das Politbüro zu wählen und auch prominente Vertreter der Kultur und der Wissenschaft als Mitglieder oder Kandidaten in das ZK aufzunehmen. Das würde das Ansehen dieser Gremien erhöhen. Was die Person des Genossen Honecker betreffe, so könne man ihn im Plenum sicher weiterhin verteidigen, es sei jedoch fraglich, ob das gegenüber der Gesellschaft weiterhin möglich sei. Das Volk habe sich erhoben und sage heute offen seine Meinung. Man dürfe sich also nicht nur auf das Plenum des ZK, sondern müsse sich auch auf die Gesellschaft orientieren. Auch hier gelte es, die Zeichen der Zeit nicht zu verpassen. Die Gesellschaft werde weiterhin die Frage nach der Verantwortung für die Lage stellen, und auch aus diesem Grunde seien tiefgreifende Kaderveränderungen notwendig.

Bei den konsequenten Veränderungen der Politik dürfe es nicht zu einer vollstän­digen Negation der Vergangenheit kommen. Das wäre auch eine Mißachtung des Volkes, das die bisherigen Errungenschaften der DDR geschaffen hat. Man sollte also eine Form der dialektischen Negation finden, bei der das Gute beibehalten wird, was zur Stärkung des Sozialismus beiträgt, und Neues hinzugefügt wird, was das Leben hervorbringt.

Genosse Gorbatschow betonte, Genosse Krenz stehe in dem Ruf, ein mutiger Mensch zu sein. Ein Generalsekretär könne den Problemen auch nicht ausweichen, sondern müsse sie auf sich nehmen, er müsse stets unter Berücksichtigung der konkreten Situation handeln und die Entwicklungen in der Gesellschaft sehr genau berücksichtigen. Das Hervorbringen neuer Ideen und ihre Durchsetzung - all das erwarte man von einem Generalsekretär.

Genosse Gorbatschow äußerte seine volle Zustimmung zu den Gedanken des Genossen Krenz über die Beziehungen zur BRD. Es gelte, auf diesem Gebiet die Zusammenarbeit und die Koordinierung zwischen der DDR und der Sowjetunion wieder zu beleben. Jeder wisse über die Beziehungen des anderen zur BRD gut Bescheid. Man sollte also kein Geheimnis daraus machen, sondern zusammenarbeiten und daraus Nutzen ziehen. Auch die BRD verfüge über die notwendigen Informationen und sei an der Zusammenarbeit sehr interessiert. Richtig sei auch die Überlegung des Genossen Krenz, die Zusammenarbeit stärker unter die Kontrolle der Parteien zu nehmen. Deshalb begrüße er den Vorschlag, den Erfahrungsaustausch zwischen den Abteilungen der Zentralkomitees wieder zu intensivieren. Dasselbe treffe auch auf die Sekretäre der ZK zu. Die Arbeitsebene und enge Kontakte in diesem Bereich seien jedoch das wichtigste. Auch die gemeinsame Arbeit der Akademien für Gesellschaftswissenschaften sollte wieder verstärkt werden. In diesem Zusammenhang erkundigte sich Genosse Gorbatschow nach dem Schicksal von Genossen Otto Reinhold. Er galt stets als einer, der Genossen Honecker besonders intensiv zugearbeitet habe.

Genosse Krenz teilte mit, Genosse Reinhold habe ebenfalls die „Wende“ vollzogen. Dies sei quasi über Nacht geschehen. Man habe ihm eine Formulierung in einer Fernsehdiskussion übelgenommen, in der er sich für frühere Äußerungen entschuldigte, die ihm genau vorgeschrieben worden seien.

Genosse Gorbatschow erwähnte im Scherz, daß Genosse Otto Reinhold 10 Abweichungen des Genossen Gorbatschow vom Marxismus-Leninismus ausgearbeitet hatte.

Genosse Krenz informierte auch über das Schicksal des Genossen Hans Albrecht, bisher 1. Sekretär der Bezirksleitung Suhl. Er bewältigte seine Arbeit nicht mehr. Außerdem nahm man ihm im ZK eine Äußerung übel, die es bisher über einen Generalsekretär des ZK der KPdSU noch nicht gab. Er hatte nämlich auf dem letzten Plenum des ZK geäußert, Genosse Gorbatschow sei während seines Besuches in der BRD nicht klassenmäßig aufgetreten. Genosse Albrecht werde bereits in den nächsten Tagen als 1. Sekretär der Bezirksleitung nicht mehr zur Verfügung stehen.


Genosse Gorbatschow legte dar, es komme jetzt darauf an, den schöpferischen Marxismus, den Sozialismus im Leninschen Sinne, das heißt den humanen und demokratischen Sozialismus wiederzubeleben, in dem der Mensch wirklich spüre, daß dies seine Gesellschaft ist und nicht die Gesellschaft einer Elite. Dieser Prozeß sei jedoch nicht leicht durchzusetzen. Dies habe er zum Beispiel während seines Besuchs in Kuba gespürt. Dort habe zunächst eine sehr angespannte Atmosphäre geherrscht. Er selbst legte jedoch dar, daß die Umgestaltung aus Entwicklungsfaktoren der Sowjetunion resultiere und für die Lösung der sowjetischen Probleme erforderlich sei. Die Frage, ob der Sozialismus in der Sowjetunion gelinge oder mißlinge, habe jedoch für die ganze Welt Bedeutung, darunter auch für Kuba. Die Sowjetunion begrüße andererseits alle Maßnahmen, die die KP Kubas unter ihren Bedingungen für notwendig halte. Sie vertraue ihrer Verantwortlichkeit und ihrer Kompetenz. Es gehe darum, erläuterte Genosse Gorbatschow, daß die revolutionäre Perestroika niemandem aufgezwungen werden könne. Auch in der DDR mußte die Situation dafür erst heranreifen, dafür sei der Prozeß jetzt sehr kompliziert und schmerzhaft.

Genosse Gorbatschow wies darauf hin, daß er gegenüber den Genossen aus der DDR stets größte Zurückhaltung geübt habe. Das Ziel habe darin bestanden, keine Mißstimmung in den Beziehungen aufkommen zu lassen, obwohl die Lage in der DDR sehr gut bekannt war. Man habe Geduld gezeigt, weil man verstand, daß die Partei und die ganze Gesellschaft für diese Veränderungen erst heranreifen mußten.

Heute geht es in den sozialistischen Ländern darum, daß jeder selbst nachdenkt. Andererseits existierten bestimmte Kriterien und Grundzüge für den Sozialismus in allen Ländern.

Genosse Gorbatschow berichtete zum Abschluß des Gesprächs über innere Probleme der Sowjetunion. Er informierte, daß er am gleichen Tage die Diskussion mit führenden Ökonomen fortsetzen werde. Gegenwärtig gebe es in allen Bereichen sehr kontroverse Debatten über die weitere Entwicklung der Sowjetunion. Manche forderten die Wiedereinführung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Nutzung kapitalistischer Methoden, andere forderten die Zulassung weiterer politischer Parteien, man streite darum, ob die Sowjetunion sich als Föderation oder als Konföderation weiterentwickeln soll. Besonders auf ökonomischem Gebiet nehmen diese Auseinandersetzungen immer stärker prinzipiellen Charakter an. Es gebe bereits Genossen, die eine andere Vorstellung von der Wirtschaftsentwicklung haben und aus Enttäuschung über die bisherigen Mißerfolge versuchten, der KPdSU kapitalistische Rezepte aufzuzwingen. Die Arbeiterklasse habe das sofort erkannt und reagiere darauf mit Aufrufen, die Diktatur des Proletariats zu verstärken. Es gebe auch Forderungen, wieder zum alten administrativen Befehlssystem zurückzukehren. Dies wäre jedoch für die Sowjetunion ein Unglück.

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen zeigten deutlich, daß es sich bei der Perestroika um eine echte Revolution handelt. Genosse Gorbatschow brachte mit aller Entschiedenheit zum Ausdruck, daß er jedoch nicht zulassen werde, daß sich die Konfrontation bis zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder anderen Formen blutiger Ereignisse entwickle. Die Lage sei jedoch sehr zugespitzt, und es hanle sich um einen echten politischen Kampf. Deshalb sei es erforderlich zu beweisen, daß der Sozialismus in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln, sich zu vervollkommnen und sein Potential voll zu entfalten. Eine Schwäche des Sozialismus bestehe darin, daß Veränderungen in der Führung jederzeit zu starken Erschütterungen führen könnten. Dies liege darin, daß das Volk in die Entscheidungen nicht einbezogen werde, daß die demokratischen Mechanismen noch nicht in vollem Maße wirkten. Diese müsse man jedoch voll in Aktion setzen. Es gehe darum, die Gesellschaft weiter zu konsolidieren, ihre schöpferischen Kräfte zu mobilisieren und Klarheit darüber zu schaffen, welche Art sozialistischer Gesellschaft aufgebaut werden soll. Alle konkreten Vorschläge und konstruktiven Ideen seien dafür gefragt. Ein aktuelles Problem in der Sowjetunion sei die Auseinandersetzung mit denjenigen, die ernsthaft die Rückkehr zum Privateigentum an Produktionsmitteln fordern. Manche hätten zu diesem Zweck sogar schon Zitate von Marx und Lenin ausgegraben, mit denen sie zu beweisen versuchten, daß Privateigentum nicht Ausbeutung bedeuten müsse. Nach ihrer Meinung sei das Hauptproblem der Charakter der Macht, mit deren Hilfe man das Privateigentum für oder gegen das Volk einsetzen könnte.

Genosse Gorbatschow verwies darauf, daß es durchaus Formen des Privateigentums - im Handwerk, auf dem Lande - geben könne, wie sie zum Beispiel in der DDR existierten. Dies sei jedoch eher individuelles Eigentum. Diese kleinen Formen seien für die sozialistische Gesellschaft kein großes Problem. In der Sowjetunion gebe es jedoch Kräfte, die weitergehen wollten. Genosse Gorbatschow sagte voraus, daß auch der DDR solche Diskussionen bevorstehen könnten, um so mehr, da das kapitalistische Beispiel dort geographisch sehr nahe sei. Es handle sich bei der BRD noch dazu um ein sehr wohlhabendes kapitalistisches Land, dessen Existenz in den politischen Debatten stets zu spüren sein werde.

Genosse Krenz brachte zum Ausdruck, sein Entschluß zu handeln habe festgestanden, als er im Gespräch des Genossen Gorbatschow mit dem Politbüro des ZK der SED feststellte, daß Genosse Honecker die Darlegungen des Genossen Gorbatschow nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

Genosse Gorbatschow sagte, er hatte in diesem Gespräch den Eindruck, als ob er Erbsen gegen die Wand geworfen hätte. Er hege keinerlei Groll gegen Genossen Honecker, sondern sei nur traurig darüber, daß dieser nicht selbst diese Entwicklung vor zwei oder drei Jahren eingeleitet habe. Diese Periode hätte zum Höhepunkt in seinem Leben werden können. Schließlich habe die DDR unter seiner Führung sehr viel erreicht. All das sei gemeinsam mit der Partei und mit dem Volk geschafft worden. Deshalb dürfe es auf gar keinen Fall negiert werden. Das wäre eine Mißachtung des Volkes, das dann im Grunde genommen umsonst gelebt hätte. Die Entwicklung müsse sehr dialektisch betrachtet werden. Dabei seien sowohl der Fortschritt der Gesellschaft, der Vorlauf für die Zukunft und das große Potential zu sehen als auch die Faktoren, die die gesellschaftliche Entwicklung in der letzten Zeit bremsten.

Genosse Krenz stimmte dem zu und bedankte sich in herzlichen Worten für das ausführliche und tiefgründige Gespräch.

Quelle: SAPMO-BA, DY 30/J IV 2/2A/3255.
[1] Die Niederschrift ist mit den Stempelaufdrucken: „Geheime Verschlußsache - ZK 02 - 618“ sowie „Beh. Protokoll Nr. 49/9. vom 7.11.1989“ versehen. Sie trägt zudem den handschriftlichen Vermerk von Krenz: „Streng Geheim! Allen Mitgliedern und Kandidaten des PB. 1.11.89 E. Krenz.“ - Die Niederschrift wurde am 7.11.1989 auch den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees in Vorbereitung der 10. Tagung als Lesematerial zur Einsicht gegeben, vorher jedoch um einige zentrale Passagen im Gesamtumfang von zwei Seiten der Originallänge gekürzt. Gerd-Rüdiger Stephan und Daniel Küchenmeister haben diese bereinigte Version dokumentiert (Gerd-Rüdiger Stephan/Daniel Küchenmeister (Hg.), Honecker-Gorbatschow. Vieraugengespräche, Berlin 1993). Die den Mitgliedern des ZK vorent-haltenen Passagen sind in dieser Abschrift kursiv gesetzt. [2] Schreibfehler im Original. Richtig muß es heißen: 4,5 Milliarden US-Dollar. Diese Zahl steht auch in den undatierten „Empfehlungen für das Gespräch des Genossen Egon Krenz mit Genossen Michail Gorbatschow“ (SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2.039/329, Bl. 21).
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