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Brief eines Offiziersschülers der Grenztruppen an seine Angehörigen, Ost-Berlin, 11. November 1989

Brief eines Offiziersschülers der Grenztruppen an seine Angehörigen, Ost-Berlin, 11. November 1989

Abschrift

Liebe M. und K.!

Wieder mal ein Lebenszeichen von mir, denn heute habe ich endlich mal wieder Zeit zum Schreiben.

Was ich in den letzten 48 Stunden erlebt habe, kann ich kaum beschreiben. Alles ist so unglaublich und unfaßbar; Tage, die ich in meinem Leben sicherlich nie vergessen werde. Ich versuche, es in diesem Brief ein wenig zu umreißen.

Wir standen ja nun ab 04.11. ständig am Brandenburger Tor in Bereitschaft. Und ausgerechnet in der Nacht vom 9. zum 10.11.89 waren wir gerade 39 Mann an diesem Abschnitt (sonst 5 Kompanien). Um 0.00 Uhr hatten wir dann Alarm, weil sie in Westberlin auf der Mauer dort Stunk gemacht haben. Während wir dort sicherten und die Mauer-Tänzer mit Wasser bespritzt wurden, kamen aus unserem Teil der Stadt auf einmal 300 Personen. Wir zurück, doch 39 gegen 300, natürlich total aussichtslos.

Die Massen alle durch’s Brandenburger Tor und gefeiert und gejubelt. Wir waren dagegen total frustriert, geschockt und am Boden. Wir fühlten uns absolut im Stich gelassen und waren fassungslos. Für viele war eine Welt zusammengebrochen.

Heute mußten wir nun um 06.00 Uhr wieder dort stehen. Bis dahin war eine Menge passiert. Zwischenzeitig waren 300 Personen auf unserem Gebiet und haben unsere Mauer beschmiert und Flaschen auf unser Territorium geschmissen.

Um 8.50 Uhr haben wir dann jedenfalls die Mauer gestürmt und alle Personen ganz ohne Gewalt dort runter geschickt. Und dann standen wir bis 15.00 Uhr auf dieser Mauer, mit dem Gesicht zu den Westberlinern. Und was dann losging, war irgendwie absolute Welle. Einige beschimpften uns total, andere wollten nur wissen, warum wir dort stehen. Die Mädels von Westberlin haben uns teilweise ganz schön angemacht, wir wurden mit Sarotti-Schokolade und Kaffee eingedeckt, was wir aber natürlich nicht angenommen haben.

Alle möglichen Stimmen kamen durch, und nach einiger Zeit haben wir uns stellenweise auch mal mit diesen Leuten unterhalten. Das Schlimmste war, daß uns auch einige DDR-Bürger beschimpft haben, das Allerschönste, daß ein Mädel aus Berlin-West zu mir wörtlich sagte: „Ej, macht einen guten Sozialismus bei Euch, dann kommen wir zu Euch rüber! Bei uns ist nämlich nicht alles so toll, wie viele denken."

Mir hat das echt Kraft gegeben. Also, für mich war das absolut phantastisch, dieser ganze Tag. Leider scheint es nun zum Abend wieder schlimmer zu werden, ihr werdet ja vielleicht einiges aus den Medien erfahren haben. Jedenfalls braucht ihr euch nicht zu beunruhigen, wir haben im Moment alles im Griff und die Westberliner lassen uns schon nicht verhungern.

Auf dem Rückweg übrigens wurden wir von vielen DDR-Bürgern gegrüßt, das war auch noch nicht da. Ich glaube, der Charakter der Grenztruppen ändert sich nun total, nicht mehr nach innen, sondern nach außen gerichtet.

Naja, ein Weilchen müssen wir hier noch stehen, aber dann können wir uns über alles unterhalten. Dann wird Euch sicherlich noch einiges besser klar.

Grüßt alle lieb von mir. Ich freue mich auf Eure Post.

Tschüß.
Euer G.

Quelle: Hans-Hermann Hertle/Kathrin Elsner, Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel, Berlin 1999, S. 239-241.
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