Schreiben der Abteilung Internationale Verbindungen des SED-Zentralkomitees an Politbüromitglied Hermann Axen zur Entwicklung in Polen, 4. April 1989
Schreiben der Abteilung Internationale Verbindungen des SED-Zentralkomitees an Politbüromitglied Hermann Axen zur Entwicklung in Polen, 4. April 1989Abschrift [1]
SED Hausmitteilung
An
Genossen
Hermann Axen
von Abteilung
Internationale Verbindungen
4.4.89
Werter Genosse Axen!
In der Anlage übermitteln wir Dir drei Exemplare des entsprechend Deinen Hinweisen überarbeiteten Materials zur Entwicklung in der VR Polen.
Mit sozialistischem Gruß
Unterschrift
(Sieber)
Anlage
Zur Entwicklung in der VR Polen
- Nachdem 1988 die politischen Spannungen in der VR Polen wieder offen zutage traten, alle daraufhin unternommenen Versuche zur Stabilisierung der sozialökonomischen Situation scheiterten und die PVAP-Führung einen Kurs der Öffnung gegenüber der Opposition einschlug, spitzt sich die Gesamtlage im Lande gegenwärtig weiter zu. In der somit entstandenen Situation außerordentlicher Gefahren für die sozialistischen Macht- und Gesellschaftsverhältnisse in Polen gibt es breite Diskussionen zu den Ursachen für das Einschwenken der PVAP-Führung auf diesen Kurs, der vom 10. Plenum des ZK im Januar mit den verabschiedeten Dokumenten zum politischen und gewerkschaftlichen Pluralismus offiziell beschlossen wurde. In jüngsten Gesprächen mit verschiedenen Partnern wird im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursachen vor allem auf folgende Aspekte verwiesen:
Nach der Abwehr des konterrevolutionären Angriffs auf die Volksmacht durch die Einführung des Ausnahmezustandes war es der PVAP-Führung gelungen, eine gewisse Phase der politischen und ökonomischen Konsolidierung in der VR Polen einzuleiten. Die PVAP wurde als führende Kraft der Gesellschaft erneut handlungsfähig. Die Staatsmacht konnte sich wieder festigen. Der Einfluß des Gegners wurde bedeutend zurückgedrängt. Es entstanden neue Klassengewerkschaften, deren Massenbasis auf 7 Millionen Mitglieder anwuchs. In der Ökonomie wurde auf eine engere Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern orientiert. Es gelang, die volkswirtschaftlichen Prozesse kontinuierlicher zu gestalten und die Auslastung der Produktionskapazitäten zu erhöhen. Erreicht wurden ein stetiges Wachstum der materiellen Produktion - obwohl das Nationaleinkommen noch unter dem Niveau von 1979 liegt - sowie die Realisierung wichtiger quantitativer Zielstellungen in der Volkswirtschaft. Die Versorgung der Bevölkerung konnte in wesentlichen Bereichen des Grundbedarfs stabilisiert werden.
Diese positiven Ansatzpunkte wurden jedoch in der Folgezeit verspielt. Die PVAP-Führung nutzte nicht die vorhandenen Möglichkeiten, um in prinzipieller Auswertung bisheriger Krisen, gestützt auf eine zielstrebige Weiterentwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse und bei vorrangiger Orientierung auf die fortschrittlichsten Teile der polnischen Arbeiterklasse, die politische Offensive auszubauen, die Kampfkraft der Partei entscheidend zu stärken und das Vertrauen der Werktätigen schrittweise zurückzugewinnen. Vor allem verstand es die PVAP-Führung nicht, eine in sich geschlossene ökonomische Strategie auszuarbeiten und den Übergang zu einem Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu vollziehen. Anstelle die Preise zu stabilisieren, die Produktionsleistungen an die Löhne heranzuführen und deren Wachstum in Übereinstimmung mit dem der Arbeitsproduktivität zu bringen, wuchsen die Löhne noch schneller als die ständig steigenden Preise. Im Ergebnis dessen wurde erneut die Lohn-Preisspirale in Gang gesetzt und beschleunigt. Sie zerstörte die erreichten ökonomischen Teilergebnisse und vergrößerte die Disproportionen zwischen Einkommens- und Produktivitätsentwicklung. Das führte, vor allem in Folge der rasch wachsenden Inflation, zu einer Lage, in der die Grenze der sozialen Belastbarkeit breiter Schichten der Werktätigen überschritten wurde. Insgesamt bestätigte die Entwicklung in der VR Polen die dem Politbüro des ZK der SED übermittelten kritischen Einschätzungen der Abteilungen Planung und Finanzen und Internationale Beziehungen zum sozialökonomischen Vorgehen der PVAP.
Außerordentliche Belastungen für die ökonomische Gesamtentwicklung ergaben sich des weiteren aus den Auslandsverbindlichkeiten sowie aus der anhaltenden Wirtschafts- und Kreditblockade der imperialistischen Staaten.
Seit 1971 hat die VRP im NSW Kredite in einer Gesamthöhe von mehr als 47,5 Mrd. US-Dollar aufgenommen. Trotz bereits erfolgter Rückzahlungen von ca. 52 Mrd. US-Dollar als Tilgungsraten und Zinsen wuchsen die Verbindlichkeiten aufgrund auflaufender Zinsrückstände auf gegenwärtig ca. 39 Mrd. US-Dollar an, was etwa 40 % des Nationaleinkommens entspricht.
Die in den siebziger Jahren aufgenommenen Kredite wurden - neben einigen Importen von Konsumgütern, Werk- und Rohstoffen - entsprechend der damaligen extensiv ausgerichteten Wirtschaftskonzeption in zumeist wenig zukunftsorientierte Strukturen der Schwerindustrie und des Maschinenbaus investiert, wodurch sich die Hoffnungen auf eine breite Exportoffensive zur schnellen Rückzahlung der Verbindlichkeiten nicht erfüllten. Weitere Verluste entstanden aus der Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil der begonnenen Investitionsvorhaben nicht fertiggestellt wurde und jene, die in Produktion gingen, zumeist auf Kooperation und Zulieferungen aus den Kreditgeberländern ausgerichtet sind.
Nachdem 1981 mit dem Ausnahmezustand eine drohende Machtübernahme durch die Konterrevolution vereitelt wurde, verhängten die westlichen Länder eine weitreichende Kredit- und Handelsblockade, die der polnischen Volkswirtschaft bisher unmittelbare Verluste in Höhe von ca. 15 Mrd. US-Dollar zufügte. Diese Blockade wird in ihren Grundzügen bis heute aufrechterhalten, obwohl die polnischen Genossen, in Übereinstimmung mit westlichen Forderungen, seit 1981 eine marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftsreform in Angriff nahmen, eine Amnestie für alle „politischen Häftlinge" erließen, seit 1986 keine Freiheitsstrafen mehr für staatsfeindliche politische Betätigung aussprachen und im gleichen Jahr dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beitraten.
Zu verhängnisvollen Konsequenzen für die innenpolitische Stabilität führte der Versuch, im Rahmen der sogenannten 2. Etappe der Wirtschaftsreform, solche Forderungen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu realisieren, wie die beschleunigte Durchsetzung marktwirtschaflticher Mechanismen, einen massiven Subventionsabbau sowie die weitgehende Regulierung von Angebot und Nachfrage über einschneidende Veränderungen in der Lohn- und Preispolitik.
Die mißlungene Lohn- und Preisoperation von Anfang 1988 führte zu einer bis heute nicht abgefangenen tiefgreifenden Inflation, zu schweren Versorgungsstörungen, zu einem Anwachsen der Spekulation und einer schnell zunehmenden sozialen Differenzierung. Die „Solidarnosc" nutzte diese Entwicklung, um im Frühjahr und im Herbst 1988 mittels punktueller Streiks in strategischen Knotenpunkten der Industrie und des Verkehrs, nach dem Muster der Geiselnahme Partei und Regierung zu erpressen und gleichzeitig weltweit ihren gewachsenen Einfluß zu demonstrieren. Dies löste in der Parteiführung Angst und Ratlosigkeit aus. Da alle Konzeptionen zur Stabilisierung der Wirtschaft zwangsläufig mit weiteren sozialen Härten verbunden waren, fürchtete man erneute Streikwellen in nicht mehr beherrschbaren Ausmaßen.
Angesichts dieser Entwicklung wandten sich die polnischen Genossen an die sowjetische Führung mit der Bitte um sofortige, umfangreiche Hilfeleistung, der nicht entsprochen wurde. Daraufhin begann die Idee Raum zu greifen, wonach eine Legalisierung der „Solidarnosc" einige neue Quellen und Möglichkeiten erschließe. Diese Hoffnungen richteten sich dabei vor allem auf ein ökonomisches Entgegenkommen des Westens, auf das Gewinnen weitgehender politischer Unterstützung durch die katholische Kirche sowie auf die Annahme, man sei in der Lage, die Opposition zu spalten, zu neutralisieren und Teile von ihr einzubinden. Die PVAP-Führung ging von der Annahme aus, sie könne die mit diesem Vorgehen verbundenen Risiken letztendlich beherrschen.
Gefördert wurde diese Annahme dadurch, daß einflußreiche Kräfte im Westen und in der katholischen Kirche signalisierten, sie würden bei einer Legalisierung der „Solidarnosc" ihre Möglichkeiten geltend machen, damit sich der radikale Kurs von 1981, gerichtet auf die Schaffung chaotischer Zustände im Lande und begleitet von einem frontalen Angriff auf die Macht, nicht wiederholt. Das heutige Konzept der „Solidarnosc" sieht bisher im Unterschied zu 1980/81 tatsächlich keine sofortige radikale Konfrontation, sondern eine stufenweise legale Vorbereitung der Machtübernahme auf evolutionärem Wege über die Institutionalisierung eines „freien Spiels" der Kräfte vor. In diesem Sinne erklärt sie sich auch bereit, in diesem Jahr noch Vorabsprachen über die Sitzverteilung im Sejm zu führen und erst für die darauf folgenden Parlamentswahlen einen uneingeschränkt „freien und demokratischen Charakter" zu verlangen.
Die Gestaltung des gegenwärtigen Kurse der PVAP ist des weiteren dadurch gekennzeichnet, daß auf der Suche nach Wegen zur Meisterung der außerordentlich komplizierten Entwicklungsprobleme Volkspolens in zunehmendem Maße viele sowjetische „Perestroika"-Vorstellungen direkt übernommen wurden, ohne den grundsätzlichen Unterschied der Situation in beiden Ländern zu beachten. Auch Ideen, deren Nutzen in der Sowjetunion bisher keineswegs praktisch nachgewiesen ist, wurden aufgegriffen, einseitig weiterentwickelt und mit oftmals großer Hast in den konzeptionellen Vorstellungen der PVAP verankert. Hierzu trug u.a. der über viele Jahre hinweg erfolgte Aderlaß unter den erfahrenen Parteifunktionären auf allen Ebenen sowie unter den auf marxistisch-leninistischen Positionen stehenden Experten in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bei.
Nachdem es der PVAP-Führung noch im Herbst vergangenen Jahres nur um begrenzte Zugeständnisse an die Opposition mit der Hoffnung auf eine Atempause ging, unterlag sie danach zunehmend dem Druck der von Walesa und dessen Beratern geführten oppositionellen Kräfte, die taktisch geschickt vorgingen und alle sich ihnen auftuenden Freiräume sofort und mit großer Konsequenz nutzten. Von erheblicher Bedeutung war dabei die Tatsache, daß die Parteiführung keine gangbare Konzeption zur Eindämmung zur zunehmenden sozialökonomischen Spannungen fand und die Kampfkraft der PVAP erheblich zurückging. Die in Gang gesetzten Ereignisse entwickelten eine immer schwerer zu beherrschende Eigendynamik. Die Möglichkeiten, den Rückzug anzutreten, ohne dabei eine direkte unmittelbare Konfrontation im Lande auszulösen, werden immer geringer. - Besonders deutlich tritt diese Entwicklung am Beispiel der Rundtischgespräche zu Tage. Ursprünglich war diese Initiative der Parteiführung u.a. darauf gerichtet, Ablaßventile zu öffnen, den Gegner zu spalten und selbst wieder in die Offensive zu kommen. Der PVAP ging es darum, die Lage in den Betrieben zu entspannen, einem Ausbruch neuer Streiks und einem damit verbundenen weiteren Rückgang der Wirtschaftskraft zu begegnen und die „Solidarnosc" in die Verantwortung für angestrebte Stabilisierungsmaßnahmen einzubinden. Parteiführung und Regierung hofften auf einen „gemeinsamen nationalen Nenner" am Runden Tisch bei der Abwehr unkontrollierbarer anarchistischer Entwicklungen sowie bei der Schaffung eines für ausländische Kapitalinvestitionen notwendigen Minimums an politischer Stabilität. Diese Vorhaben konnten bisher nicht realisiert werden. Die Streiks und Lohnkonflikte erreichten in den ersten beiden Monaten dieses Jahres, obwohl sie bisher die Großbetriebe nicht erreichten, bereits den Gesamtumfang des Jahres 1988. Die „Solidarnosc" läßt sich weiterhin nicht in die unmittelbare Mitverantwortung für sozialökonomische Vorhaben der Regierung einbinden. Mit massenwirksamer Demagogie und geschickter Verhandlungsführung gelang es ihr, am Runden Tisch die Initiative zu übernehmen. Sie besitzt klare konzeptionelle Vorstellungen zur permanenten Druckausübung und treibt die PVAP mit immer neuen Vorschlägen und Forderungen in die Enge. Dagegen wirkt die Partei- und Regierungsseite oft hilflos. Einige ihrer Verhandlungsführer in den Arbeitsgruppen am Runden Tisch haben intern erklärt, daß sie „überhaupt nicht wissen, was sie dort sollen". Sie besäßen kein Mandat, verfügten über keine konkreten Instruktionen und seien im Prinzip darauf angewiesen, nach eigenem Gutdünken richtig zu handeln.
Nunmehr ist vorgesehen, die Rundtischgespräche mit einer Verabschiedung der Schlußdokumente am 6. April zu beenden. Die sich dabei abzeichnenden Ergebnisse bedeuten einen weiteren Verzicht auf wichtige Machtpositionen durch PVAP und Regierung, eine zunehmende Schwächung der führenden Rolle der Partei sowie eine bedrohliche Verschiebung des innenpolitischen Kräfteverhältnisses zu ihren Ungunsten. Vereinbart werden sollen u.a. die Legalisierung der „Solidarnosc" sowie der „Solidarnosc-Land" und des „Unabhängigen Studentenbundes", der Verzicht der PVAP auf die Mehrheit im neu zu wählenden Sejm durch die Beschränkung auf einen Abgeordnetenanteil von ca. 40% (gemeinsam mit den befreundeten Parteien und Organisationen 65%), die Bildung eines die Gesetzgebung beeinflussenden Senats über „freie Wahlen", in denen sich die „Solidarnosc" einen eindeutigen Sieg ausrechnet, die weitgehende Zustimmung zur Gründung beliebiger gesellschaftlicher Organisationen sowie der Zutritt der „Solidarnosc" und anderer oppositioneller Kräfte zu den Massenmedien. Die Zugeständnisse der „Solidarnosc" beschränken sich dagegen vor allem auf die Zustimmung zur Schaffung eines mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten Präsidentenamtes, auf das Einverständnis zur Verabschiedung eines in voraussichtlich sehr allgemeiner Form zur Ruhe und Arbeit aufrufenden gemeinsamen Dokumentes sowie auf die vorläufige Zurückstellung einer Reihe von Maximalforderungen (u.a.: völlige Unabhängigkeit der örtlichen Organe vom zentralen Staatsapparat, Reduzierung der Ausgaben für die bewaffneten Organe um 20%, Rechtsprechung nur durch Richter ohne Parteizugehörigkeit). - Die gegenwärtige Gesamtlage wird durch den Umstand erschwert, daß angesichts der unvermindert anhaltenden ökonomischen Schwierigkeiten soziale Zuspitzungen mit verstärkten Unmutsausbrüchen unter der Bevölkerung, auch spontaner Natur, jederzeit möglich sind. Eine Ausdehnung der gegenwärtigen Streiks auf wichtige Großbetriebe könnte schnell zu einem allgemeinen Chaos führen. Der Versuch der Regierung, die Inflationsrate 1989 auf ca. 40% zu begrenzen, ist bereits gescheitert. Die Diskrepanz zwischen wachsender Geld- und rückläufiger Warenmenge auf dem Markt nimmt weiter zu. Die polnischen Genossen hoffen nunmehr auf ein ökonomisches Entgegenkommen des Westens nach den für Juni vorgesehenen Sejmwahlen, z.B. in Form einer vorläufigen Stundung der jährlichen Zinszahlungen durch die im „Pariser Club" vertretenen Gläubiger sowie die Bereitstellung einiger Privatbankkredite für „Joint Ventures". Der Umfang des Entgegenkommens, so befürchten jedoch viele Genossen, werde angesichts der ökonomischen Situation Polens „zu wenig zum Leben und zuviel zum Sterben" sein.
In den Bemühungen um die Gewinnung ausländischen Kapitals werden in der polnischen Führung unterschiedliche Schwerpunkte gegenüber imperialistischen Staaten gesetzt. Während Genosse Jaruzelski einen Ausbau der Zusammenarbeit mit Großbritannien akzentuiert, die Sekretäre des ZK, die Genossen Czyrek und Orzechowski sowie der Außenminister, Genosse Olechowski, im Sinne der Schaffung des Gegengewichts zur BRD in Europa für eine vorrangige Intensivierung der früher engen Beziehungen mit Frankreich eintreten, orientiert Genosse Rakowski mit großem persönlichen Engagement auf das Wirtschaftspotential der BRD und setzt große Erwartungen in die zukünftige Rolle der BRD. - Es ist davon auszugehen, daß die „Solidarnosc" nach ihrer voraussichtlich für Mitte April zu erwartenden Legalisierung zu einer Millionenorganisation weiter anwächst. Nach dem landesweiten Ausbau ihrer Strukturen auf regionaler und Betriebsebene wird sie in der Lage sein, jederzeit entscheidende Nervenstränge der Volkswirtschaft zu blockieren. Vieles deutet darauf hin, daß es die Opposition vorerst nicht eilig haben wird, den unmittelbaren Kampf um die Macht zu beginnen, sondern es ihr gegenwärtig vor allem darum geht, auf friedlichem Weg schrittweise den Pluralismus in Richtung auf ein uneingeschränktes „Spiel der freien Kräfte" zu institutionalisieren, die eigenen Positionen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens entscheidend auszubauen und den Handlungsspielraum von Partei und Regierung zunehmend einzugrenzen.
Gegenwärtig soll der Papst, wie aus verschiedenen Informationen hervorgeht, ein Konzept entwickeln, das im Sinne evolutionärer Veränderungen darauf abzielt, die aus der Vergangenheit bekannten radikalen Kräfte in der „Solidarnosc" am unüberlegten Vorpreschen zu hindern und den ideologischen Vorrang der Kirche zu sichern. Dies habe im Gegensatz zu 1980/81 nicht unmittelbar über den Klerus, sondern über den Aufbau einer der Kirche nahestehenden Partei zu erfolgen. Im Rahmen dieser Konzeption soll die „Solidarnosc" als Gewerkschaft und nicht als politische Partei wirksam werden. Sie habe „überparteilich" zu sein und Vertretern aller Weltanschauungen, darunter Atheisten und auch PVAP-Mitgliedern, P[latz] zu bieten. Um „unabhängig" zu bleiben, dürfe die „Solidarnosc" keine politischen Bündnisse oder Koalitionen eingehen und sich auch nicht in die Verantwortung für Regierungsprogramme, z.B. in der Wirtschaftspolitik, einbinden lassen. Die „Solidarnosc" müsse im Sinne dieser Konzeption des Papstes ein konstruktiver „Arbeitnehmeropponent" gegenüber der Regierung bleiben. Im Ermessen der zu formierenden Partei würde es dagegen liegen, Bündnisse und Koalitionen einzugehen und Mitverantwortung in oder für die Regierung zu übernehmen. Der zukünftige Führungskern einer solchen Partei könnte sich zu einem wesentlichen Teil aus den realpolitischen Spitzenberatern des jetzigen Expertenstabes um Walesa rekrutieren. Als mögliche Variante für eine solche politische Konstruktion würde sich nach Auffassung der Autoren dieser Konzeption die in diesem Jahr reaktivierte „Partei der Arbeit" anbieten, deren Tätigkeit in der Vergangenheit nationale, klerikale und sozialreformerische Elemente miteinander verband. Ihre Vertreter betonen u.a. die Anerkennung von Jalta und Potsdam sowie der territorialen Nachkriegsordnung in Europa, das Verbleiben Polens im Warschauer Vertrag, das Bemühen um gute Beziehungen zur Sowjetunion und den anderen Nachbarn Polens und das Eintreten für innenpolitische Stabilität auf der Grundlage einer parlamentarischen Demokratie. Einige sprechen sogar von einem „katholischen Sozialismus".
Für die Erfolgsaussichten einer solchen Konzeption könnte entscheidend sein, inwieweit die die „Solidarnosc" unterstützenden imperialistischen Kräfte bereit wären, ihre politischen und materiellen Einflußmöglichkeiten dementsprechend einzusetzen.
Gegenwärtig besitzen mehrere politische Kräfte in Polen die Chance, sich als zukünftiges parlamentarisches Führungszentrum der Opposition zu profilieren. Darunter das vor allem von Walesa gegründete „Bürgerkomitee". Sein zielstrebiger Ausbau kann u.a. zur Begrenzung des Einflusses der katholischen Kirche auf die politischen Leitungsstrukturen der Opposition führen. - Der Spielraum für Parteiführung und Regierung hat sich zunehmend verengt. Für den äußersten Fall verbleibt ihnen noch die erneute Einführung eines Ausnahmezustandes. Auf die Kader in den bewaffneten Organen ist weiterhin Verlaß, der Staatsapparat ist funktionstüchtig und das Bündnis mit den befreundeten Parteien und Organisationen hat bisher standgehalten. Die Parteiführung geht jedoch davon aus, daß ein solcher Schritt jetzt noch weitaus problematischer wäre als 1981, zu unabsehbaren Konsequenzen, bis hin zum Bürgerkrieg, führen könnte und selbst bei günstigstem Verlauf die Überwindung vieler Hauptschwierigkeiten, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, nicht erleichtern würde.
Die politischen Möglichkeiten von Partei und Regierung zur Meisterung der gegenwärtigen Krise im Lande werden vor allem begrenzt durch das Fehlen einer gangbaren und überzeugenden sozialökonomischen Konzeption sowie durch die gesunkene Kampfkraft der PVAP. Es gibt in ihren Reihen beträchtliche ideologische Verwirrung, eine Vielzahl von Grundorganisationen wird kaum noch ihren Aufgaben gerecht, im Parteiaktiv machen sich Resignationserscheinungen breit. Die unerwartete Öffnung gegenüber der Opposition hat zu Autoritätsverlusten solcher Kader geführt, die seit 1980/81 mit Einsatz für die Linie der Partei gekämpft haben. Viele Genossen sind auf die geforderte politische Auseinandersetzung mit der Opposition nicht vorbereitet. Es fehlt ihnen an Argumenten, an Entschlossenheit wie auch am Glauben in die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses. Es gibt zunehmende Kritiken an der PVAP-Führung, der vor allem von parteierfahrenen Genossen vorgeworfen wird, von bewährten allgemeingültigen Prinzipien des Sozialismus abzugehen, die führende Rolle der Partei zu schwächen, die Interessen der Arbeiterklasse zu vernachlässigen, die Meinung der Mitgliederbasis zu ignorieren und damit insgesamt eine ernste Bedrohung für den Sozialismus in Polen heraufzubeschwören. Unter den polnischen Genossen ist die Zunahme von Ratlosigkeit, Furcht und Passivität deutlich spürbar. Kampfbereite Stimmen sind gegenwärtig nur in einigen Wojewodschaften, so in der Warschauer Parteiorganisation, aus den Reihen der bewaffneten Organe, aus Teilen des Parteiapparates sowie aus den Reihen der Funktionäre der Klassengewerkschaften, OPZZ, zu vernehmen. Mehrere Gesprächspartner schätzen ein, daß eine jähe Zuspitzung der Situation, verbunden mit einer noch offensichtlicheren Zunahme der Bedrohungen zu einem „Mobilisierungsruck" in weiten Teilen der Partei führen könnte. - Kontakte mit sowjetischen Genossen in Warschau verdeutlichen, daß sie die Entwicklungsprozesse in Polen unterschiedlich bewerten, wobei abwartende und zurückhaltende Positionen dominieren. Sie gehen davon aus, daß selbst bei einem weiteren Vormarsch der Opposition die sowjetische Regierung vorhandene politische und ökonomische Mittel nur mit äußerster Vorsicht handhaben würde. Hinzu komme, daß die Opposition offiziell stets Interesse an guten Beziehungen zur UdSSR bekundet.
Hinsichtlich der zukünftigen Haltung der Opposition zur DDR gibt es unter den verschiedenen Gesprächspartnern unterschiedliche Auffassungen. Einerseits wird auf die sich aus ihrem nationalistischen Charakter ergebenden Gefahren verwiesen, wie auch auf ihr ausgeprägtes Bemühen um politische und materielle Unterstützung aus der BRD. Andererseits wird betont, daß alle ernstzunehmenden politischen Kräfte in Polen, aus nationalem Geschichtsverständnis heraus, übereinstimmend die Existenz zweier deutscher Staaten voll befürworten. Des weiteren müsse eine Opposition, die grundsätzliche Veränderungen in Polen anstrebt, die sowjetische Haltung zu den Sicherheitsinteresssen der DDR berücksichtigen. Anderenfalls würde sie das für sie äußerst wichtige Verhältnis zur UdSSR gefährden. - Hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung unserer Beziehungen zu Polen steht die Aufgabe, sich rechtzeitig auf mögliche Entwicklungsvarianten einzustellen um die strategischen Interessen der DDR abzusichern.
Hierzu gehört vor allem die Bewahrung und Vertiefung des engen Zusammenwirkens mit der PVAP und anderen fortschrittlichen Kräften Volkspolens. Dabei geht es sowohl um die Unterstützung aller Anstrengungen zur Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften in Polen, wie auch um die Sicherung und den weiteren Ausbau des hohen Niveaus der allseitigen, für beide Seiten bedeutsamen Zusammenarbeit, insbesondere auf ökonomischem Gebiet, entsprechend den neu entstehenden Bedingungen.
Um auf die zunehmende marktwirtschaftliche Orientierung der polnischen Volkswirtschaft und auf einen weiteren Abbau zentraler Einflußmöglichkeiten von PVAP und Regierung vorbereitet zu sein, sollten bisherige Erfahrungen aus den Wirtschaftsbeziehungen mit dem NSW, beziehungsweise mit Jugoslawien, unter diesem Blickwinkel ausgewertet werden. Notwendig erscheint z.B. eine vertiefte und differenzierte Marktarbeit gegenüber den selbständigen polnischen Wirtschaftseinheiten sowohl hinsichtlich unserer Export- wie der Importforderungen. Berücksichtigt werden müssen dabei die Konsequenzen aus den angekündigten Strukturveränderungen in der polnischen Wirtschaft, wie z.B. die Einschränkungen in der Schwer- und Rohstoffindustrie, die u.a. auch die Kohleförderung betreffen.
Verstärkt genutzt werden sollten die Möglichkeiten, die sich aus den Direktbeziehungen zwischen Betrieben und Kombinaten für die Sicherung und den Ausbau unserer Positionen in der ökonomischen Zusammenarbeit mit Polen ergeben.
Mit der Legalisierung der Opposition und ihrem bevorstehenden Einzug ins Parlament entsteht die Frage nach ihrer Behandlung; auch unter dem Aspekt, daß wir sowohl die Positionen der PVAP und der anderen sozialistischen Kräfte in der innenpolitischen Auseinandersetzung stärken müssen, zugleich aber auch zu berücksichtigen ist, daß die oppositionellen Kräfte in Kürze Möglichkeiten der Einflußnahme auf strategisch wichtige Interessen der DDR, wie z.B. Rohstofflieferungen und Transitverbindungen zur UdSSR, erlangen können. Als wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Kontakten der Bruderländer mit oppositionellen Kräften Polens sorgfältig zu verfolgen und gegebenenfalls eine Abstimmung mit den polnischen Genossen in dieser Frage anzustreben. Des weiteren wären auch Maßnahmen festzulegen, wie im Falle einer jähen Zuspitzung der innenpolitischen Situation in Polen, mit daraus resultierenden plötzlichen Ausfällen bei wichtigen Lieferungen, Transport- und Transitleistungen, vorzugehen ist.
Die DDR-Bevölkerung sollte durch die Veröffentlichung geeigneter Materialien der PVAP in unseren Medien über die sich abzeichnenden Entwicklungsprozesse in Polen noch aussagekräftiger informiert werden.
Quelle: SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2.035/50, Bl. 161-174
[1]
Das Dokument enthält einen Eingangsstempel des Büro Axen („Eing.: 254, Dat.: 5.4., an Gen. Axen“) und den handschriftlichen Erledigungsvermerk: „Axen, 5/4/89“.