Vermerk über ein Gespräch zwischen Egon Krenz und Hans Otto Bräutigam in Ost-Berlin, 13. April 1988
Vermerk über ein Gespräch von SED-Politbüro-Mitglied Egon Krenz und Hans Otto Bräutigam, Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin, 13. April 1988Abschrift
Berlin, 13. April 1988
V e r m e r k
über ein Gespräch des Genossen Egon Krenz mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Hans Otto Bräutigam, am 13. April 1988 im Hause des Zentralkomitees der SED
Bräutigam bedankte sich, daß seiner Bitte für dieses Gespräch entsprochen wurde. Er sei an einem Meinungsaustausch zum Stand der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten sehr interessiert. Außerdem habe er drei konkrete Anliegen an Egon Krenz.
So bitte er um Prüfung, ob
- eine Abordnung von Jugendlichen der DDR am 20. Mai in Bonn an einem Zusammentreffen des Bundespräsidenten R. v. Weizsäcker mit Jugendlichen der BRD und anderer Staaten, darunter auch mehrerer sozialistischer Staaten, teilnehmen könnte. Er habe den Auftrag des Bundespräsidenten, diese Bitte vorzutragen. Seiner Meinung nach könnte sich diesbezüglich der Deutsche Bundesjugendring der BRD an die Freie Deutsche Jugend wenden;
- zu dem im Juni in Düsseldorf stattfindenden Leichtathletik-Länderkampf zwischen der BRD und der DDR eine Einladung an Egon Krenz Aussicht auf positive Beantwortung hätte. Er würde hier eine gute Möglichkeit sehen, Gespräche mit verschiedenen hochrangigen Politikern der BRD zu führen;
- Egon Krenz bereit wäre, einer Einladung zu einem Gespräch mit den Missionschefs der in der DDR akkreditierten EG-Staaten Folge zu leisten. Hierfür gebe es bereits eine gewisse Tradition. Werner Felfe und Oskar Fischer hätten zu früheren Gelegenheiten entsprechende Einladungen befolgt. Er spreche diese Einladung als derzeitiger Vorsitzender des Kreises der Missionschefs der in der DDR vertretenen EG-Länder aus. Das Gespräch könnte in Form eines Mittagessen in der Residenz von Bräutigam stattfinden.
H. O. Bräutigam sagte, auch die Bundesregierung habe unverändert den Willen, das Vereinbarte mit Leben zu erfüllen. Auch wenn es manchmal hakt, wolle die Bundesregierung Punkt für Punkt die Abmachungen einlösen. Deshalb habe sie sich auch in letzter Zeit eine größere Zurückhaltung bei öffentlichen Verlautbarungen auferlegt als früher. Keinesfalls wolle sie Öl ins Feuer gießen. Ein Presse-Krieg sei schon gar nicht hilfreich. Natürlich wisse er, daß es Politiker gebe, die - berechtigt oder unberechtigt - Schwierigkeiten hatten, ihren Mund zu halten. Das solle man nicht überbewerten. Die dominierende Auffassung sei vielmehr, daß beide Staaten von einer gemeinsam für richtig erkannten Politik gleichermaßen Nutzen ziehen müßten. Keiner habe einen Vorteil, wenn dem anderen Schaden zugeführt würde. Das betreffe z. B. auch das Problem der Ausreisebestrebungen. Die Bundesrepublik habe kein Interesse daran, diese Frage anzuheizen. Das sei nicht ihre Politik. Er sage das auch vor dem Hintergrund der gestern von der Synode der Evangelischen Kirchen von Berlin-Brandenburg an die Adresse der Bundesregierung gerichteten Vorwürfe. In Bonn gebe es Übereinstimmung, daß dazu keine öffentliche Diskussion geführt werden dürfe. Die Politik der Verständigung dürfe nicht beeinträchtigt werden. Die Bundesregierung sehe ihre Aufgabe darin, vor allem humanitäre Härtefälle vernünftig zu lösen.
Man dürfe auch die gegenwärtig in der CDU geführte Diskussion über die „Deutschlandpolitik" nicht als Gegensatz dazu einschätzen, so führte H. O. Bräutigam seine Ausführungen fort. Sie seien Anzeichen dafür, daß es in der CDU einen erheblichen Diskussionsbedarf zu diesen Fragen gebe. Auch wenn er sich die eine oder andere Formulierung anders wünschen würde, müsse man sehen, daß die CDU sich vorwärts bewege und nicht bei alten Formeln stehenbleibt. Ein Gewinn sei es, daß die Politik der Bundesregierung gegenüber den sozialistischen Staaten und der DDR im Kern von allen Bundestagsparteien bis hin zu den Grünen getragen werde. Heute sei dafür eine wesentlich festere parlamentarische Basis vorhanden als noch vor fünf Jahren. Vor diesem Hintergrund habe ein Besuch von Bundeskanzler Kohl in der DDR ein noch größeres Gewicht. Er hoffe, daß dieser Besuch noch in der laufenden Legislaturperiode der gegenwärtigen Bundesregierung stattfinden kann.
Die Entwicklung des Reiseverkehrs habe viel für die Verbesserung des Klimas zwischen beiden deutschen Staaten bewirkt. Er wolle darauf hinweisen, daß eine offensichtlich neue restriktivere Handhabung der Genehmigungspraxis durch die DDR in der Bundesrepublik nicht verstanden werde. Egon Krenz warf an dieser Stelle ein, daß Bräutigam hier offensichtlich über falsche Informationen verfüge. H. O. Bräutigam sagte, er wolle mitteilen, daß es aus der Sicht der Bundesregierung keinen auffälligen Rückschlag im Reiseverkehr geben dürfe. Natürlich sei einzuräumen, daß die Reiselust 1988 nicht die gleiche sein müsse wie 1987. Auch wisse man, daß der finanzielle Rahmen des Reiseverkehrs unbefriedigend sei. Das treffe auf beide Seiten zu. Aus kirchlichen Kreisen der DDR habe er Informationen, daß die Ablehnung für Reisen in die Bundesrepublik zugenommen hätte.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs verwies Egon Krenz darauf, daß sich Vernunft und Realismus in den zwischenstaatlichen Beziehungen jeden Tag bewähren müßten. Immer müsse man die Gesamtheit der internationalen Entwicklung im Auge haben. So wolle er nur kurz auf die letzte NATO-Ratstagung eingehen. Ihre Ergebnisse seien nicht dazu geeignet, um Feindbilder abzubauen. Immerhin habe die DDR gemeinsam mit der Sowjetunion durch den einseitigen Abzug von sowjetischen Raketeneinheiten und die Übergabe der entsprechenden Militärobjekte in zivile Hände erneut ihren guten Willen bewiesen, einen aktiven Beitrag für den Prozeß der Ratifizierung und der Verwirklichung des zwischen der UdSSR und den USA geschlossenen Abkommens zur Beseitigung von Mittelstreckenraketen zu leisten. Als Antwort der NATO sei aber die Bekräftigung der „flexiblen Reaktion" gekommen. Die Staaten des Warschauer Vertrages wollten gleiche Sicherheit auf immer niedrigerem Niveau. Die Sofioter Erklärung der Außenminister der Staaten des Warschauer Vertrages habe dies erneut bekräftigt. Verweisen wolle er auch auf die Vorschläge von SED, KPTsch und SPD hinsichtlich der Schaffung einer chemiewaffenfreien Zone und eines atomwaffenfreien Korridors.
Auf die Bemerkungen Herrn Bräutigams zur Innenpolitik der DDR eingehend, bemerkte Egon Krenz, daß dies allein Angelegenheit der DDR selbst sei. Was die von Herrn Bräutigam angesprochenen Ausreisen angehe, so solle man das nicht dramatisieren, sagte Egon Krenz. Schließlich sei die Zahl derer, die jährlich die BRD verlassen würden, nicht gering. Die in der DDR dazu getroffenen gesetzlichen Regelungen von 1982 stünden in voller Übereinstimmung mit der Schlußakte von Helsinki. Im übrigen sei die Sache der Ausreisen eine Angelegenheit des Staates und nicht der Kirche. Die Behauptung, es gebe seitens der DDR eine restriktivere Handhabung der Genehmigungspraxis für die Reisen in die BRD, entbehre jeder Grundlage. Natürlich entwickle sich der Reiseverkehr dann gut, wenn die DDR und ihre Bürger nicht verleumdet würden. Die Zahl der Reisen sei keine für alle Zeiten gültige Größe. Alles hängt von den Gesamtbeziehungen ab. Zu beachten seien ökonomische Fragen und die politische Atmosphäre. Die Auffassung, daß der Reiseverkehr eine unveränderliche Tatsache ist, sei also nicht zutreffend. Im übrigen würden ja, gemessen an der Bevölkerungszahl, bedeutend mehr Bürger der DDR in die BRD reisen als umgekehrt.
Was die Städtepartnerschaften angehe, könne man insgesamt von einer positiven Entwicklung ausgehen. Allerdings zeige sich, daß Störungen dort auftreten würden, wo die Partnerschaft als „Profilierungsparkett" für BRD-Politiker mißbraucht würde. Das Verhalten des Bonner Oberbürgermeisters habe in Potsdam zu Recht Empörung ausgelöst. Auf dem Gebiet der Sportbeziehungen gebe es deshalb keine Störungen, weil dort von gleichberechtigten Beziehungen ausgegangen würde.
H. O. Bräutigam sagte, auch die BRD-Seite sehe den Abrüstungsprozeß in seiner Ganzheit. Die BRD wolle dazu beitragen, zu gleicher Sicherheit auf niedrigerem Niveau zu gelangen. Berücksichtigen müsse man, daß beide deutsche Staaten nicht allein existierten. Die Bundesregierung habe Probleme mit den „Zonenkonzepten" der DDR, weil damit Zonen unterschiedlicher Sicherheit geschaffen würden. Diese Frage würde vor allem in der NATO sehr kritisch gesehen. Auch wenn die Bundesregierung auf diesbezügliche Vorschläge der DDR und der CSSR in absehbarer Zeit nicht antworten wird, verfolge sie die inhaltliche Substanz der Konzepte mit Interesse, zumal einige Elemente (die Nichtangriffsfähigkeit) von allgemeiner Bedeutung seien. Die Bundesregierung stehe vor der Schwierigkeit, daß der Meinungsbildungsprozeß in der NATO über ihre Abrüstungskonzeption noch nicht abgeschlossen ist. Probleme gebe es vor allem mit den kleineren Atommächten. Die DDR könne aber davon ausgehen, daß H.-D. Genscher, der an der 7. Jahreskonferenz des Instituts für Ost-West-Sicherheitsstudien New York vom 9. bis 11. Juni in Potsdam teilnehmen möchte, detailliert die Position der Bundesregierung zur Fortsetzung des Abrüstungsprozesses darlegen wird. Darin werden Sie viele Gemeinsamkeiten mit ihrer Position feststellen, sagte H. O. Bräutigam.
Hinsichtlich der von H. O. Bräutigam eingangs aufgeworfenen Fragen antwortete Egon Krenz:
- Die Teilnahme von Jugendlichen an einem Treffen beim Bundespräsidenten der BRD, R. v. Weizsäcker, sei ein interessanter Vorschlag. Wenn sich der Deutsche Bundesjugendring der BRD an die Freie Deutsche Jugend mit einer entsprechenden Einladung wendet, könne sich Egon Krenz gut vorstellen, daß die FDJ eine schnelle Antwort gibt.
- Was eine Teilnahme am Leichtathletik-Länderkampf BRD - DDR betreffe, so habe er terminliche Schwierigkeiten. Zur gleichen Zeit fände in Berlin das „Internationale Treffen für kernwaffenfreie Zonen" statt.
- Einen Terminvorschlag für ein Gespräch der Missionschefs der in der DDR akkreditierten EG-Staaten könne er zur Zeit nicht bestätigen. Herr Bräutigam könne aber in dieser Beziehung mit Herrn Gunter Rettner im Gespräch bleiben. H. O. Bräutigam warf ein, daß er aber Wert darauf lege, daß dieses Gespräch noch zu der Zeit stattfindet, da die BRD die Präsidentschaft der EG hat.
Quelle: SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2039/303, Bl. 250-255, dok. in: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Countdown zur deutschen Einheit, Berlin 1996, S. 82-87.