Vermerk über ein Gespräch von ZK-Sekretär Hermann Axen mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, 9. Juni 1988
Vermerk über ein Gespräch von SED-ZK-Sekretär Herman Axen mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, 9. Juni 1988Abschrift
Berlin, 10. Juni 1988
V e r m e r k
über ein Gespräch des Genossen Hermann Axen, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, mit dem Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der UdSSR in der DDR, Genossen Wjatscheslaw Kotschemassow, am 9. Juni 1988
Genosse Axen erklärte, daß ihn das Politbüro beauftragt habe, eine Mitteilung zu den am gleichen Tag von der BRD-Zeitung „Die Welt" verbreiteten Äußerungen des Leiters der Abteilung Außenpolitik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Prof. Daschitschew, zu machen.
Laut dem BRD-Blatt hat Prof. Daschitschew in Bonn vor Journalisten „die Mauer und Stacheldraht an den Grenzen der DDR als ‚Überreste und Überlieferungen des kalten Krieges' (bezeichnet), die mit der Zeit verschwinden werden müssen". „Um ihre Beseitigung zu ermöglichen, müßten zuvor" - so hieß es in dem Pressebeitrag weiter, „entsprechende sicherheitspolitische und wirtschaftliche Bedingungen gesichert werden."
Gen. Axen ersuchte den UdSSR-Botschafter dringend, daß diese veröffentlichten Äußerungen überprüft und dazu entsprechend Stellung genommen wird. Es sei allerdings kaum vorstellbar, daß die wörtlich wiedergegebenen Zitate frei erfunden seien. Daher würden sich die Äußerungen von Prof. Daschitschew unmittelbar gegen die Souveränität und Sicherheitsinteressen der DDR, gegen die Sicherheitsinteressen der Warschauer Vertragsstaaten, gegen unser gemeinsames politisches und Verteidigungsbündnis richten. Solche Äußerungen leiten Wasser auf die Mühlen der imperialistischen Propaganda. Gerade gegenwärtig bilde die Hetze gegen die Grenzen der sozialistischen Staaten in Europa, besonders gegen die „Mauer", einen Hauptbestandteil der Propaganda gegen den Sozialismus.
In diesem Zusammenhang erinnerte Genosse Axen an die bekannten Ausfälle Reagans vom vergangenen Jahr auf der Hetzkundgebung in Westberlin, die in die gleiche Richtung gehenden Erklärungen des USA-Präsidenten während seines kürzlichen Aufenthaltes in Moskau. Es handle sich um eine langfristig angelegte Kampagne gegen eine Grundbestimmung der europäischen Sicherheit, da die Unverletzlichkeit der Grenzen bekanntlich eine Haupterrungenschaft des europäischen Vertragswerkes und eine Hauptbestimmung der Schlußakte von Helsinki darstelle.
Insgesamt sei diese Kampagne gegen die Friedenspolitik und -initiativen der Staaten des Warschauer Vertrages, insbesondere der Sowjetunion, gegen die Anzeichen für eine Verbesserung der internationalen Lage gerichtet. Ihr Ziel sei es, von den Abrüstungs- und Entspannungsinitiativen der sozialistischen Staaten und den inneren Krisen- und Verfallsprozessen des Kapitalismus abzulenken. Nicht zuletzt ziele die Kampagne auch gegen das bevorstehende Internationale Treffen für kernwaffenfreie Zonen, dessen Ideen ein weltweites, zustimmendes Echo gefunden haben, das die aggressiven Kräfte durch Verleumdungen beeinträchtigen wollen.
Genosse Axen erinnerte an die jüngsten Erklärungen des Genossen Erich Honecker gegenüber Genossen Wadim Sagladin, in denen die Wertschätzung für die Friedenspolitik der KPdSU und des Genossen Gorbatschow zum Ausdruck kamen, und betonte, daß die DDR die gemeinsame Friedenspolitik des Warschauer Vertrages vertrete und sich von dieser Politik nicht ablenken lassen werde. Das erfordere zugleich, allen imperialistischen Diversionen sowie jeder entspannungsfeindlichen Hetze die gebührende Abfuhr zu erteilen.
Genosse Kotschemassow erwiderte, daß ihm die erwähnte Veröffentlichung nicht entgangen sei. Er verstehe die zum Ausdruck gebrachte Besorgnis. Es sei richtig, daß sorgfältig überprüft werden müsse, ob das Veröffentlichte den tatsächlichen Darlegungen entspricht. Aus Erfahrungen wisse man, daß gemachte Äußerungen in westlichen Medien häufig bewußt entstellt werden, um einen Keil in die Gemeinsamkeiten zu treiben, um einen Schatten auf die brüderlichen Beziehungen und die gemeinsame Außenpolitik zu werfen.
Genosse Kotschemassow räumte ein, daß schon in der Vergangenheit einige sowjetische Vertreter der Massenmedien, Publizisten und andere in ihren Äußerungen zu Fragen, die die DDR betreffen, Ungenauigkeiten zugelassen haben. Das schließe die Mauer ein.
Das letzte Beispiel dieser Art sei die Fernsehbrücke Moskau - Bonn gewesen. Im Auftrage des Genossen M. S. Gorbatschow habe er damals im Gespräch mit Genossen Erich Honecker erklärt, daß solche Äußerungen mit den bereits erwähnten Zielen nicht selten verzerrt wiedergegeben werden. Zugleich habe er bestätigt, daß während der Fernsehbrücke defensive, passive Positionen und Ungenauigkeiten zugelassen worden seien. Vor allem sei auf das, was in Bonn gesagt wurde, jede klare Antwort ausgeblieben.
Genosse M. S. Gorbatschow habe ihn in seiner Zeit beauftragt zu bekräftigen, daß Äußerungen dieser Art und Zurückweichen anstelle einer eindeutigen Stellungnahme nichts mit der offiziellen Politik der KPdSU und der sowjetischen Führung zu tun haben. Deshalb distanzierten sich das ZK der KPdSU, Genosse M. S. Gorbatschow, die sowjetische Führung mit aller Entschiedenheit von derartigen unrichtigen Äußerungen, die außer der persönlichen Meinung nichts wiedergeben würden. Das ZK der KPdSU werde diese Fakten jedoch nicht unbeachtet lassen.
Die Position der KPdSU zu den aufgeworfenen Fragen sei prinzipiell, absolut klar und unverändert. Dies seien prinzipielle Fragen der Nachkriegsordnung, unserer gemeinsamen Sicherheit. Es gehe um Positionen von grundsätzlicher, von strategischer Bedeutung. Genosse M. S. Gorbatschow habe auf der Pressekonferenz nach den Gesprächen in Moskau auf die Frage, wie er zu den Äußerungen Reagans zur „Mauer" stehe, unmißverständlich erklärt, daß er nicht gewillt sei, darüber zu sprechen. Dies sei - so Genosse M. S. Gorbatschow - „eine souveräne Angelegenheit, und nur die DDR als souveräner Staat", wie jeder andere, „habe zu entscheiden, wie sie ihre Grenzen sichert".
Der sowjetische Botschafter bat, daß das, was er im Namen der KPdSU und des Politbüros gesagt habe, mit Verständnis aufgenommen wird. Er ersuchte Genossen Axen, Genossen Erich Honecker und die Mitglieder des Politbüros des ZK der SED entsprechend zu informieren. Er als Botschafter möchte versichern, daß er alles tue, um solchen fehlerhaften Äußerungen vorzubeugen, und er habe dabei die volle Unterstützung aus Moskau. Sowjetische Publizisten, die in die DDR kommen und über Themen schreiben wollen, die mit der sogenannten deutschen Frage zusammenhängen, dürften dies nicht ohne Zustimmung des Botschafters. Man habe die Lehren aus den verantwortungslosen Ausführungen Jewtuschenkos gezogen, auf die Genosse Erich Honecker seinerseit aufmerksam gemacht hatte. Genosse Kotschemassow betonte, daß er sich in seinem Handeln stets von prinzipiellen Positionen, von der Linie des ZK der KPdSU leiten lasse. All sein Handeln sei auf die stete Vertiefung der festen Freundschaft und Zusammenarbeit mit der DDR gerichtet.
Der sowjetische Botschafter versicherte, daß er sich der grundsätzlichen Bedeutung der von Genossen Axen angesprochenen Angelegenheit bewußt sei. Es sei besser, solche Dinge offen anzusprechen, als zu schweigen. Er werde die sowjetische Führung informieren.
Genosse Axen brachte abschließend zum Ausdruck, daß er Genossen Erich Honecker und das Politbüro des ZK der SED über die Darlegungen des Genossen Kotschemassow in Kenntnis setzen werde.
Quelle: SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2035/60, Bl. 1-5, dok. in: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Countdown zur deutschen Einheit, Berlin, 1996, S. 107-110.