Horst Schmidt: „Eine unglaubliche Geschichte" - Erinnerungsbericht des Vaters von Michael Schmidt, der am 1. Dezember 1984 an der Berliner Mauer erschossen wurde
Horst Schmidt, Kaltblütiger Mord. Erinnerungsbericht des Vaters von Michael Schmidt, der am 1. Dezember 1984 an der Berliner Mauer erschossen wurde[aus: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, C. Bertelsmann: München 1991, S. 35-41.]
Michael war unser Jüngster. Er war von klein auf immer ein ruhiger junge, fast unauffällig. Schon früh zeigte er eine Vorliebe für Bastelarbeiten, besaß eine große praktische Veranlagung. Er erlernte den Beruf eines Zimmermannes. Sein Lehrbetrieb war der VEB Baureparaturen Pankow. Er verrichtete im Verlauf seiner Tätigkeit auch Arbeiten innerhalb des Sperrgebietes in der Schulzestraße in der Nähe des S-Bahnhofs Wollankstraße. Niemand konnte damals ahnen, welch unheilvolle Rolle das einmal spielen sollte.
Michael war mit den Verhältnissen in der DDR so unzufrieden wie viele andere auch. Das änderte sich schlagartig nach einer Diensttauglichkeitsuntersuchung im Wehrkreiskommando Bernau. Er sollte unbedingt drei Jahre ableisten und wurde deswegen mehrfach vorgeladen. Er weigerte sich immer wieder. Schließlich wurde er gefragt, ob er auch bereit sei, an der Staatsgrenze seinen Dienst abzuleisten. Michael hielt nie mit seiner Meinung hinter dem Berg und so antwortete er, daß er nicht daran denke, unbewaffneten Leuten in den Rücken zu schießen. Der Offizier, ein Oberstleutnant, bekam daraufhin einen regelrechten Wutanfall und warf ihn praktisch hinaus. Von diesem Zeitpunkt an steigerte sich Michaels Unzufriedenheit mit dem Staat DDR zu blankem Haß. Wir versuchten vergeblich, ihn zu beruhigen, sagten ihm, daß Brüllerei nun einmal zu jeder Armee der Welt gehöre, und er käme ja nun mit Sicherheit nicht an die Grenze. Sein älterer Bruder leistete gerade seine »18 Monate« bei einer Einheit der Transportpolizei in Eisenhüttenstadt ab. Ihn baten wir inständig, in Anwesenheit von Michael das Armeeleben nur in den rosigsten Farben zu schildern und sich aller Schauergeschichten zu enthalten. Aber es war nichts zu machen, der Riß war nicht mehr zu heilen.
Unglücklicherweise begann Anfang 1984 die erste große Ausreisewelle. Fast täglich erschienen im Fernsehen Berichte aus den Auffanglagern. Wir merkten, daß sich die Idee »Ausreiseantrag« langsam, aber sicher in Michaels Gehirn festsetzte. Wir versuchten, ihm das auszureden, wiesen auf die hohe Arbeitslosigkeit im Baugewerbe hin, auf die Schikanen der Behörden gegenüber Ausreisewilligen usw. Heute glaube ich, daß wir einen Fehler gemacht haben. Dieser Fehler ist natürlich zu verstehen, wir mußten ja damit rechnen, unseren Jungen viele Jahre nicht mehr zu sehen. Die Wende war zu diesem Zeitpunkt auch vom größten Optimisten nicht vorauszusehen. Das Ost-West-Verhältnis war gerade 1984 sehr stark abgekühlt, sogar Olympische Spiele wurden boykottiert, Gorbatschow war leider noch nicht an der Macht. Im Herbst wurde klar, daß Michael mit dem Ausreiseantrag ernst machte. Wir versuchten wiederum, ihn umzustimmen. Wir wollten auch nicht, daß unserem anderen Sohn, der gerade mit einem Chemiestudium begonnen hatte, Nachteile erwachsen könnten. Deshalb baten wir Michael, noch ein bis zwei Jahre mit dem Ausreiseantrag zu warten. Er schien mit diesem Vorschlag einverstanden. So viel zur Vorgeschichte.
Der Vorabend des Tages, an dem Michael einen furchtbaren Tod finden sollte, war ein normaler Freitagabend. Michael wollte etwas unternehmen. Er ging zu einer Disco in einem Jugendclub in der Pankower Grabbeallee, von den Jugendlichen »Grabbelkiste« genannt. In dieser Disco muß sich dann irgend etwas abgespielt haben, was das furchtbare Ereignis ausgelöst hat. Michael muß irgendwie in Panik geraten sein. Der Grund liegt bis heute völlig im dunkeln.
Am nächsten Morgen wurde ich von meiner Frau bereits um sieben Uhr geweckt. Sie sagte mir, Michael wäre nicht nach Hause gekommen und in den Nachrichten hätten sie von einem Grenzzwischenfall mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang in der Nähe des S-Bahnhofs Wollankstraße berichtet. Michael habe doch mal an dieser Stelle im Grenzgebiet gearbeitet. Ich versuchte, sie zu beruhigen. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, daß Michael eine solche Verzweiflungstat begehen würde. Trotzdem durchsuchte ich sein Zimmer nach einem eventuell vorhandenen Abschiedsbrief. Ich sah unter alle Schränke, sah sogar ins Batteriefach des Stereorecorders, hörte die im Recorder befindliche Kassette ab, kein Hinweis. Im Gegenteil, ich fand 500,- Mark, die er am gleichen Tag von der Sparkasse geholt hatte. Wer stellt sich in der Sparkasse an, wenn er am gleichen Tag »abhauen« will, fragte ich mich. Es konnte nicht sein.
Der Vormittag verging, und wir warteten. Ich hatte noch eine längere Reparatur an meinem Auto und merkte, daß meine innere Unruhe immer größer wurde. Meine Frau war bereits völlig verzweifelt. Nach dem Mittagessen entschloß ich mich, zum Volkspolizeikreisamt (VPKA) Bernau zu fahren. Am Sonnabend war nur ein Wachhabender anwesend. Ich teilte ihm mit, daß unser Sohn von der Disco nicht nach Hause gekommen sei und fragte, ob eine Meldung über einen Unfall oder ähnliches vorläge. Er verneinte und fragte nach dem Alter. Als ich es mit zwanzig Jahren angab, lachte er mich fast aus. Etwas beruhigt zog ich wieder ab.
Inzwischen fuhr ich zu meiner Tochter und teilte ihr unsere Besorgnis mit. Auch sie beruhigte mich.
Nebenher las ich noch die Grußadresse Erich Honeckers an die Grenztruppen anläßlich des »Tages der Grenztruppen«. Da wird ein Mensch ermordet, und ein Staatschef dankt den Mördern für ihren »vorbildlichen Einsatz«. Was sind Kommunisten doch für Menschen!
Die Nacht zum Sonntag verbrachten meine Frau und ich so gut wie schlaflos. Am nächsten Morgen gleich wieder zum VPKA Bernau. Die gleichen Antworten. (Nun machen Sie sich man keine Sorgen. Ein Zwanzigjähriger kann doch auf sich aufpassen. Bleiben Sie mal ganz ruhig!) Ich fuhr zu einigen Krankenhäusern (Bernau, Zepernick, Pankow), fragte dort nach eingelieferten Verletzten, nach Besinnungslosen ohne Papier oder ähnliches. Diese Bemühungen waren natürlich unsinnig, zumal meine Frau bereits dort angerufen hatte. Angst kann einen Menschen regelrecht um den Verstand bringen. Ich fuhr sogar an den Ort des Geschehens, in die Schulzstraße. Alles war ruhig, nichts deutete darauf hin, daß hier vor dreißig Stunden ein Mensch ermordet worden war. Ein junges Mädchen kam fröhlich aus einem Haus im Sperrgebiet gelaufen und setzte sich zu ihrem Freund ins Auto. Ein alter Mann ging mit seinem Hund spazieren. War hier wirklich vor kurzem ein Mensch gestorben, und war der Tote vielleicht mein Sohn? Träumte ich das Ganze?
Am nächsten Tag war das VPKA wieder regulär geöffnet. Ich verlangte, einen Mitarbeiter der Kripo zu sprechen. Es erschien eine Kommissarin, sehr höflich, sehr freundlich. Ich trug ihr den Fall vor. Wieder beruhigende Worte. Jetzt fragte ich einfach drauflos, ob mein Sohn in den Zwischenfall an der Mauer vom Sonnabend verwickelt sein könne. Sie sah mich strafend an. Ich solle nicht allen Gerüchten Glauben schenken, die von westlichen Medien ausgestreut würden, um Unruhe unter die Bevölkerung zu bringen. Aber sie wolle zu meiner Beruhigung den »Verbindungsoffizier Grenze« befragen. Sie verschwand für zwanzig Minuten, kam zurück und sagte, daß es sich bei dem Zwischenfall am Sonnabend um eine völlig harmlose Angelegenheit gehandelt habe. Westliche Medien hätten daraus einen »Mordfall« gemacht, um die Grenztruppen der DDR in Verruf zu bringen. Die in diese Sache verwickelte Person sei überhaupt nicht aus dem Kreis Bernau, und ich könne völlig beruhigt sein. Und ich war wirklich etwas beruhigt. Jetzt drängte ich aber auf eine Vermißtenanzeige. Man versuchte mich abzuwimmeln, aber ich gab nicht nach. Ich brachte alle erforderlichen Unterlagen bei, Fotos usw. Die Kripo setzte die Fahndung in Gang. Man versprach mir, mich sogar mitten in der Nacht zu benachrichtigen.
Zu Hause hatte ich alle Mühe, meine Frau zu beruhigen. Sie war bereits völlig aufgelöst und weinte ununterbrochen. Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Verschwinden Michaels in unserer Siedlung herumgesprochen. Ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft erschien bei uns und erzählte etwas sehr Beunruhigendes. Sie war am Freitag abend ebenfalls in der »Grabbelkiste« gewesen. Ihr war aufgefallen, daß Michael, der sonst nur wenig trank, ganz schön angeheitert war. Außerdem habe er mit ein paar »Typen« am Tisch gesessen und dauernd wäre von Ausreiseantrag und ähnlichem die Rede gewesen. Diese Geschichte gab mir sehr zu denken. Meine Unruhe nahm erheblich zu.
Am nächsten Tag, inzwischen war Dienstag, ging ich zu unserer Ärztin, um mich krankschreiben zu lassen. Ich fühlte mich nicht in der Lage, Programme zu schreiben. Es war mir unmöglich, mich auf irgend etwas zu konzentrieren. Als ich im Wartezimmer saß, erschien plötzlich ein Herr, klopfte kurz an die Tür des Behandlungszimmers und wurde sofort vorgelassen. Als ich dran war, erfuhr ich von der Ärztin, daß es sich bei dem Herrn um einen Kriminalbeamten des VPKA Bernau gehandelt habe. Er sei wegen der Vermißtenanzeige bei ihr gewesen und hätte einige Unterlagen über Michael benötigt. Die Ärztin zeigte große Anteilnahme, denn sie kannte Michael ja von klein auf. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Man suchte ihn. Folglich konnte er der Tote an der Mauer nicht sein. Viel zu spät sollte mir klarwerden, daß Stasi und Kripo ein grausames Spiel mit mir getrieben hatten. Das Erscheinen des Kripo-Mannes zu diesem Zeitpunkt war alles andere als Zufall.
Der Dienstag verging. Wir warteten und warteten, sahen immer wieder die Straße hinunter. Etwa gegen 19 Uhr, ich hatte gerade in meiner Verzweiflung ein paar Schnäpse getrunken, erschienen zwei Herren und stellten sich als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit vor. Wir fragten sofort nach unserem Sohn. Sie sagten, sie wüßten gar nichts, hätten nur den Auftrag, uns zur Militärstaatsanwaltschaft nach Berlin zu bringen. Meine Frau legte noch schnell einen Zettel mit einer Nachricht unauffällig ab, danach wurden wir mit dem Stasi-Wagen nach Berlin gefahren.
Dort angekommen, wurde zunächst ich alleine in das Büro des Militärstaatsanwalts gebeten. In dem Raum befanden sich zwei Personen. Der eine, ein Mann in einer Marineuniform, stellte sich als Oberster Militärstaatsanwalt vor, der andere als Herr Cras vom MfS. Ich fragte sofort nach meinem Sohn. Meine Frage wurde einfach ignoriert, und es begann ein unsinniges Verhör, dessen Einzelheiten mir entfallen sind. Ich fragte zwischendurch immer wieder nach Michael. Schließlich brach Herr Cras das Verhör ab und erteilte dem Staatsanwalt das Wort. Dieser teilte mir dann mit, daß Michael beim Versuch, die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen, angeschossen worden sei und trotz aller ärztlicher Bemühungen den Tod gefunden habe. Der Grenzsoldat habe praktisch in Notwehr gehandelt. Ich schrie ihn an, ob Michael vielleicht mit Sand geworfen habe, er könne doch mit einer Waffe überhaupt nicht umgehen. Es war klar, das Gefasel von der angeblichen Notwehr sollte nur die Tatsache des kaltblütigen Mordes überdecken. Nebenbei gesagt hatte ich den Eindruck, daß dem Staatsanwalt die Sache irgendwie naheging. Herr Cras hingegen, der mich an Heydrich erinnerte, zeigte keine Regung.
Einen Moment saß ich wie gelähmt, dann stürzte ich zur Tür, um zu meiner Frau zu gelangen, die im Vorzimmer geblieben war. Die beiden versuchten, mich festzuhalten, aber ich riß mich los. Ich weiß nur noch, wie ich schrie: »Michael ist tot, sie haben ihn ermordet.« Es ist mir nicht mehr möglich, den Rest dieses Abends in allen Einzelheiten zu beschreiben. Das ist wie in einem Nebel aus meinem Gedächtnis verschwunden. Furchtbar waren die Momente, in denen ich meiner Tochter, meinem Sohn und meinen Eltern den Tod unseres Jungen mitteilen mußte. Ihre Schreie und ihr Weinen habe ich heute noch im Ohr.
Allmählich wurde mir klar, welch furchtbares Spiel man mit uns getrieben hatte. Volle vier Tage hatte man uns hingehalten, hatte sogar eine scheinbare Suchaktion ausgelöst, um uns hinters Licht zu führen.
Unser »Stasi-Betreuer« war offensichtlich bemüht, die Beerdigung so schnell wie möglich zu »erledigen«. Er bestellte uns gleich am nächsten Tag ins Gebäude der Staatsanwaltschaft. Zuerst erhielten wir Verhaltensmaßregeln. Wir sollten jedem »Gerücht« energisch entgegentreten. Notfalls sollten wir uns an ihn wenden. Er würde »Gerüchtemacher« zum Schweigen bringen. Für den Fall, daß Einzelheiten in den westlichen Medien erschienen, drohte er uns Konsequenzen an. Es könne dann unserem Sohn Roland das Studium unmöglich gemacht werden, außerdem würden alle Kontakte zu unseren Westverwandten unterbunden. Auch verbot er eigene Ermittlungen. Ansonsten war die Stasi von unglaublicher Hilfsbereitschaft, was mich mit großem Mißtrauen erfüllte. Herr Cras betonte immer wieder, was wir für eine geachtete Familie wären. Er bedauere zutiefst diesen Vorfall. Wiederholt sagte er, daß das MfS auf die sonst obligatorische Haussuchung verzichtet habe. Er bot uns an, die gesamte Beerdigung zu organisieren, sogar einen Pfarrer beliebiger Konfession wollte er besorgen. Meinen Vater, der in West-Berlin wohnte, wollte er mit einem Krankenwagen von der Grenze abholen lassen. Interessanterweise wußte er, daß mein Vater schwer gehbehindert war. Ich lehnte natürlich all diese Angebote ab. Der bloße Gedanke, meinen Jungen von einem Stasi-Pfarrer beerdigen zu lassen, verursachte mir Übelkeit. Auch materielle Hilfe wurde uns angeboten. Herr Cras fragte, ob wir Probleme mit der Kohlebeschaffung hätten oder Sorgen mit Autoersatzteilen. Er könne alles kurzfristig besorgen. Ich lehnte auch das ab. Lieber hätten wir im Kalten gesessen, als uns von der Stasi Kohlen besorgen zu lassen.
Die Suche nach einem Pfarrer war zuerst schwierig. Wir hatten unsere Kinder nicht taufen lassen. Der erste Pfarrer, den wir ansprachen, ließ uns abblitzen. Darauf gingen wir zum Pfarrer von Zepernick, Herrn Natho. Ihm erzählten wir, wie Michael ums Leben gekommen war. Er erwies sich als wahrer Christ und erklärte sich bereit, unseren jungen zu beerdigen. Wir sind diesem Mann zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Es folgten furchtbare Tage. Meine Frau hatte manchmal einen solchen Ausdruck in den Augen, daß ich regelrecht Angst bekam. In meinem Inneren tobte ein harter Kampf. Ich glaube heute, daß ich manchmal kurz vor dem Wahnsinn war. So spielte ich mit dem Gedanken, das Wehrkreiskommando Bernau mit einem Molotow-Cocktail in Brand zu setzen, ging sogar schon an dem Gebäude vorbei, um »Maß zu nehmen«. Dabei sah ich, daß in dem Haus auch noch Familien wohnten und verwarf den Gedanken glücklicherweise. Mir kamen abwechselnd Mord- und Selbstmordgedanken. Monate-, wenn nicht gar jahrelang genügte der Anblick von Grenzsoldaten (ich nannte sie im stillen die »grüne SS«), um mich in einen Zustand wahnsinniger Wut zu bringen. Allmählich siegte die Vernunft. Mir war klar, daß ich alles tun mußte, meine Familie vor weiterem Schaden zu bewahren. Aber meine Kräfte waren fast am Ende. Ich merkte es einmal deutlich, als plötzlich beim Laufen meine Knie so weich wurden, daß ich fast gestürzt wäre. Mir wurde nicht etwa schwarz vor Augen, die Beine versagten einfach ihren Dienst.
Michaels Beerdigung fand am Montag, dem 10. Dezember 1984, statt. Auf der Fahrt zum Friedhof waren wir unter ständiger Bewachung. Schon in unmittelbarer Nähe unseres Hauses patrouillierte ein Offizier der Bereitschaftspolizei, bewaffnet mit Kalaschnikow und Funkgerät. Unterwegs zum Friedhof noch zwei Polizeiposten. Auf dem Friedhof selbst sah man noch mehrere auffällig unauffällige Herren. Das schlimmste war, auch Herr Cras vom MfS nahm - gewissermaßen als Trauergast verkleidet - an der Beerdigung teil. Er hatte es vorher angekündigt. Ich versuchte, ihn davon abzubringen, aber er ließ nicht mit sich reden. Er hatte eine Stasi-Dame mitgebracht, die wohl seine Ehefrau darstellen sollte. Die Dame hatte sogar Tränen in den Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ein wenig Schauspielunterricht genossen hatte oder echt betroffen war. Ich hätte vor Trauer und Wut laut schreien mögen. Mein guter Junge, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, der immer anständig durchs Leben gegangen war, der sich standhaft geweigert hatte, für die SED-Clique zum Mörder zu werden, wurde wie ein Schwerverbrecher unter Polizeiaufsicht zu Grabe getragen. Konnte es ein ungerechteres Schicksal überhaupt geben?
Meine Hauptsorge auf der Beerdigung galt meiner Frau. Sie weinte ohne Unterbrechung seit dem frühen Morgen, und ich glaubte manchmal, sie würde zusammenbrechen. Es war ein furchtbarer Moment, als der Sarg mit unserem Michael in die Erde gesenkt wurde. Außer einigen guten Freunden von uns waren auch Michaels Arbeitskollegen vollzählig erschienen, was für sie ein Nachspiel hatte. Zunächst wurden sie auf der Rückfahrt von Stasi-Wagen bis zu ihren Wohnungen verfolgt. Einige Tage darauf wurde der Brigadier gemaßregelt. Das Erscheinen der ganzen Brigade wäre eine Provokation gewesen. Was für ein Staat!
Es gäbe noch vieles zu berichten, wie wir zum Beispiel von einem Bungalow aus beschattet wurden, wie Herr Cras uns noch mehrmals unter irgendwelchen Vorwänden besuchte. Von unseren Kindern und guten Freunden wurden wir nach Kräften unterstützt. Aber den Kampf gegen die Resignation, gegen die Selbstmordgedanken mußte jeder alleine durchstehen. Bei meiner Frau machte sich die nervliche Belastung besonders bemerkbar. Sie glaubte oft Schritte oder das Knarren einer Tür im Hause zu hören. Es war manchmal ganz schlimm.
Ich erholte mich sehr langsam. Nach etwa einem Monat versuchte ich wieder zu arbeiten, mußte mich aber nach wenigen Tagen wieder krankschreiben lassen. Die Nerven machten noch nicht mit, ich konnte mich nicht konzentrieren. Erst nach einem weiteren Monat wurde es besser. Noch nach mehreren Jahren hatte ich so meine miesen Tage, an denen mir ein zügiges Arbeiten ungeheuer schwerfiel. Es ergaben sich auch immer wieder neue Belastungen. Da feierte die SED-Clique den 25. Jahrestag des Mauerbaus mit großem Pomp und Jubel, oder man hörte von erneuten Grenzzwischenfällen mit tödlichen Folgen. Aber auch vom Westen kamen Tiefschläge. Der schlimmste war die Forderung der SPD und Grünen nach Schließung der Erfassungsstelle Salzgitter. Die Existenz dieser Erfassungsstelle war für uns der einzige Hoffnungsschimmer, daß die Morde an der Mauer jemals aufgeklärt und die Täter ihrer Bestrafung zugeführt werden könnten. Parteien, die sich demokratisch nennen, forderten die Auflösung. Ich begreife das bis heute nicht.
Die Wende begrüßten wir längst nicht mit der Begeisterung, wie das ohne Michaels tragischen Tod gewesen wäre. Ich mußte immer wieder daran denken, daß nur etwa zweihundert Meter von der Stelle, wo Michael die Kugeln seines Mörders ereilt hatten, jetzt ein Grenzübergang war, den jeder einfach so passieren konnte. Oft stand ich vor dem Denkmal, das man für ihn an der Nordbahnstraße errichtet hatte, und ich dachte an seinen furchtbaren Tod und daran, wie viele meist junge Menschen an dieser verfluchten Mauer sterben mußten, damit eine Bande verkommener Bonzen sich möglichst lange auf den Stühlen festhalten konnte.
Ich höre manchmal, daß es Menschen gibt, die sich die Mauer zurückwünschen, weil es ihnen doch nicht so gut geht, wie sie sich das vorgestellt hatten. Sie mögen, bevor sie einen solchen Unsinn daherreden, an das grausame Schicksal derer denken, die an diesem Bauwerk ihr Leben lassen mußten. Ihr Opfertod trug auch dazu bei, daß die Schandmauer eines Tages fallen konnte.
Quelle: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, C. Bertelsmann: München 1991, S. 35-41. - Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Dr. Heribert Schwan.