Irene Agotz: „Die Lügen der Stasi" - Erinnerungsbericht der Schwester von Silvio Proksch, der am 25. Dezember 1983 an der Berliner Mauer erschossen wurde
Irene Agotz, Die Lügen der Stasi. Erinnerungsbericht der Schwester von Silvio Proksch, der am 25. Dezember 1983 an der Berliner Mauer erschossen wurde[aus: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, C. Bertelsmann: München 1991, S. 22-25.]
Es war der erste Weihnachtsfeiertag, der 25. Dezember 1983. Mein Mann Harry, unser Sohn Robert und ich verlebten diesen Tag der Familie und des Friedens in gemütlicher weihnachtlicher Harmonie wie jedes Jahr. Wir ahnten nicht, daß dies unser traurigstes Weihnachtsfest werden würde. Gegen 22 Uhr, als wir gerade eine schöne Unterhaltungssendung im Fernsehen sahen, klingelte es an der Wohnungstür.
Es war mein Bruder Carlo Proksch. Er stand total verschmutzt, verweint und im Gesicht zerkratzt vor der Tür und sagte mit bebender Stimme: »Die haben vor zwei Stunden Silvio an der Mauer am Bürgerpark-Pankow erschossen.« Wir waren entsetzt, konnten es nicht fassen. Er erzählte: Silvio und Carlo hätten nach 18 Uhr die elterliche Wohnung in der Florastraße 13, Pankow, verlassen. Sie wollten in die Freiheit flüchten. Sie meinten, Weihnachten würde dort niemand mit einem Fluchtversuch rechnen. Die Wetterbedingungen wären günstig, es regnete und es sei diesig.
Als Silvio als erster über die fast drei Meter hohe Mauer kletterte, gingen sofort sämtliche Scheinwerfer und die Alarmanlagen an. Die Grenzer riefen »Halt, stehenbleiben!« Kurz darauf eröffneten sie das Feuer auf Silvio. Es fielen acht Schüsse. Carlo hatte von Silvio keinen Laut mehr gehört. Er war total schockiert, sah sich um, stellte fest, daß ihn niemand beobachtete und rannte zurück, um sich zu verstecken. Als er begriff, was passiert war, ging er sofort zu unserem Bruder Gino Proksch. Er wohnte damals in der Wollankstraße 117, Berlin-Pankow. So erzählte er uns den Vorgang am ersten Weihnachtsfeiertag.
Noch in der selben Nacht gegen 1.30 Uhr erschien mein Bruder Gino mit seiner Frau Gabi bei uns. Wir konnten es alle nicht fassen, waren total verstört und sehr, sehr traurig. Ob sich das alles wirklich bestätigen würde? Zunächst passierte nichts. Niemand kam zu unseren Eltern oder zu den Geschwistern. Da wir keinen Rat wußten, wie wir uns verhalten sollten, kamen wir täglich zusammen, berieten, wie wir uns verhalten sollten, wenn die Stasi kommt.
Am 28. Dezember 1983 gab eine meiner Schwestern bei der Kripo in Berlin-Pankow eine Vermißtenanzeige auf. Irgend etwas mußte doch passieren, denn es waren drei Tage vergangen. Auch danach passierte noch nichts! Erst am 20. Januar 1984 um 8.50 Uhr wurde ich von zwei Männern in Zivil, die sich als Kriminalbeamte auswiesen, von der Arbeit abgeholt. Sie sagten, sie brauchten meine Aussage zur »Klärung eines Sachverhaltes«. Die Männer fuhren in einem Trabant mit mir ins Polizeipräsidium Kleibelstraße am Alexanderplatz. Ich wurde in die sechste Etage gebracht. Es werde nicht lange dauern, sagte man. Ein anderer Kriminalbeamter empfing mich. Er nannte seinen Namen nicht, obwohl ich ihn danach fragte. Er sagte, das tue hier nichts zur Sache und die Fragen stelle er.
Das war meine erste symbolische Backpfeife. Dann fragte er mich, ob ich mir denken könne, wo mein Bruder Silvio sei. Trotzig antwortete ich, vermutlich sei er am 25. Dezember 1983 an der Mauer am Bürgerpark in Pankow bei einem Fluchtversuch erschossen worden, denn seitdem fehle von ihm jede Spur. Der Beamte machte mir klar, obwohl wir durch unseren Bruder Carlo wußten, was vorgefallen war, daß an diesem Tag keine Grenzverletzung stattgefunden habe. Es gäbe weder einen Toten Silvio Proksch noch einen Verletzten.
Die Vernehmung dauerte einen ganzen Tag. Ich bekam nichts zu trinken und auch nichts zu essen. Meine Gedanken kreisten immer um unseren Sohn und meinen Mann. Ich fragte mich, ob ich hier wohl je wieder rauskommen würde. Während der Vernehmung kam das Gespräch auch auf meinen Sohn. Fragen wie: Ob er in der Schule sei, ob er einen eigenen Wohnungsschlüssel habe, machten mich stutzig. Ich dachte an mein Kind und sagte, sie werden doch nicht auch Kinder damit reinziehen wollen. Nein, ich brauchte mir keine Gedanken zu machen.
Es waren schreckliche Stunden für mich. Immer wieder bekam ich einen Weinkrampf. Das Protokoll wurde neun Seiten lang, obwohl »nichts passiert war«. Um 18.50 Uhr sagte man mir, jetzt könne ich nach Hause gehen, aber ich brauchte nicht mit der Bahn zu fahren, mein Mann warte unten auf mich.
Als wir uns sahen, stellte ich fest, daß auch er sehr schlecht aussah. Von ihm erfuhr ich, daß er seit 8 Uhr im selben Haus in der selben Etage genau so lange verhört worden war wie ich. Zutiefst erschüttert dachten wir sofort an unseren Jungen.
Als wir gegen 19.30 Uhr zu Hause ankamen, kam uns unser Sohn auf der menschenleeren dunklen Straße verweint entgegen. Er habe Angst gehabt und sei nicht nach Hause gegangen, da er kein Licht in den Fenstern gesehen habe. Zwei Kriminalbeamte waren bei ihm in der Schule gewesen. Immer wieder hätten sie gefragt, ob er wisse, wo sein Onkel Silvio sei. Immer wieder habe er mit nein geantwortet, er habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Doch er wußte ja von uns, was am ersten Weihnachtsfeiertag geschehen war.
Danach holten sie noch weitere Familienmitglieder zum Verhör. Wir wußten alle, daß wir jedesmal von der Stasi verhört wurden. Jedem von uns sagten sie das gleiche. Es gibt keinen Toten Silvio, es gab auch keine Grenzverletzung.
Von da an mußten wir unsere Nachforschungen unterlassen. Man drohte uns, wir sollten keine Gerüchte in die Welt setzen, wir würden uns der Staatsverleumdung schuldig machen. Wir hatten immer Angst.
In der Zwischenzeit erfuhren wir von einer Tante meines Mannes, die bei der Sparkasse tätig ist, daß am 14. Januar 1984 das Konto von Silvio mit der Begründung gelöscht wurde: »Silvio Proksch am 24. Januar 1984 ungesetzlich verzogen.« Dann erfuhren wir noch, daß sein ganzes Geld, Gehalt und Ersparnisse, zum Magistrat von Berlin, Abteilung Finanzen, Sektor Treuhandvermögen, 1020 Berlin, Klosterstr. 59, ging. Wir konnten nichts machen, sonst hätte die Stasi uns eingesperrt.
Dann kam der 9. November 1989, der Fall der Mauer. Es waren fast sechs Jahre vergangen. Unsere Eltern waren bereits verstorben. Dennoch war mein erster Gedanke, daß wir jetzt bald erfahren könnten, was damals aus Silvio geworden ist.
Am 15. Dezember 1989 stellte ich einen Suchantrag bei der Kripo nach meinem Bruder Silvio. Am 8. Januar 1990 erhielt ich Antwort. Nachforschungen erbrachten kein Ergebnis. Zum Zwecke weiterer Überprüfungen sollte ich nähere Angaben zum Tatort schriftlich machen. Das tat ich auch und schickte den Brief an folgende Adresse: Generalstaatsanwalt der DDR, 1040 Berlin, Hermann-Matern-Str. 33/34, Staatsanwalt Herr Heistermann.
Am 26. März 1990 kam wieder ein Brief von Herrn Heistermann: Die Überprüfungen in der hiesigen Dienststelle hätten wieder nichts erbracht, er sende meine Unterlagen an den Generalstaatsanwalt von Berlin, von dort solle ich meinen Bescheid abwarten. Am 8. Mai 1990 bekam ich die Antwort: Die Überprüfungen erbrachten auch dort nichts. Aus diesem Grunde habe er die Sache zur weiteren Prüfung als Vermißtenanzeige an das Kreiskriminalamt Berlin-Pankow übergeben. (Name des Staatsanwaltes Herr Prause).
Am 1. Juni 1990 hatte ich eine Vorladung bei der Kripo in Pankow. Dort erfuhr ich erstmals etwas mehr, zum Beispiel, daß unsere Vermißtenanzeige vom 28. Dezember 1983 bereits am 6. Januar 1984 dem Staatssicherheitsdienst übergeben worden sei, daß die Kripo Pankow sich beim Ministerium des Inneren erkundigt habe, ob Silvio überhaupt aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wurde. Antwort: Nein. Außerdem, daß mein Bruder Carlo zwei Monate bei der Stasi inhaftiert war, er selbst durfte ja nie darüber sprechen.
Am 19. Juni 1990 erhielt ich von der Kripo Pankow Bescheid: Zur weiteren Veranlassung wird der Sachverhalt dem Militärstaatsanwalt von Berlin, Siegfried-Widera-Str. 82-90, Berlin 1157, übergeben.
Da ich in der Zwischenzeit, vom 9. bis 23. Juni 1990, in Urlaub war, bekam ich vom Militärstaatsanwalt zwei Vorladungen. Am 27. Juni 1990 ging ich dann zum Militärstaatsanwalt. An diesem Tag wurde alles noch einmal zu Protokoll genommen.
Am 24. August 1990 erfuhr ich vom Militärstaatsanwalt, was sich am 25. Dezember 1983 ereignet hatte: Silvio wurde von vier Schüssen in den Unterleib getroffen und ist daran verblutet. Seine Leiche wurde ins VP-Krankenhaus Scharnhorststraße gebracht. Am 26. Dezember 1983 wurde der Leichnam von der Stasi gegen 22 Uhr dort abgeholt und ins militärgerichtsmedizinische Institut nach Bad Sarow gebracht. Seit dem 30. Dezember 1983 ist die Leiche meines Bruders Silvio spurlos verschwunden. Silvio ist in keinem Sterberegister der ehemaligen DDR eingetragen. Meine Vermutung dazu, die Stasi hat ihn irgendwo in einem Krematorium verbrannt.
Am 15. Oktober 1990 machte ich eine Anzeige gegen Erich Honecker wegen Totschlags an meinem Bruder Silvio Proksch.
Quelle: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, C. Bertelsmann: München 1991, S. 22-25. - Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Dr. Heribert Schwan.