Brief von Helmut Kohl an Erich Honecker, 24. Oktober 1983
Brief von Bundeskanzler Helmut Kohl an SED-Generalsekretär Erich Honecker, 24. Oktober 1983Abschrift
Sehr geehrter Herr Generalsekretär,
für Ihr Schreiben vom 5. Oktober 1983 danke ich Ihnen.
Ich stimme Ihnen zu, daß es ein Anliegen des ganzen deutschen Volkes ist, den Frieden zu sichern und zu festigen. Alle Deutschen haben die Lehren aus ihrer Geschichte verstanden. Beide Staaten in Deutschland bekennen sich zu der Überzeugung, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik tragen vor dem deutschen Volk gemeinsam eine große Verantwortung für die Sicherung des Friedens. Die Bundesregierung nimmt diese besondere Verantwortung sehr ernst. Ihrer Politik liegt zugrunde, daß der Einsatz von Waffen und Gewalt kein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele mehr sein darf
Das Atlantische Bündnis hat dies in der Bonner Erklärung am 10.6.1982 so ausgedrückt:
„Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff."
Das deutsche Volk erwartet aber auch von uns, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem es in freier Selbstbestimmung seine Einheit vollenden kann. Der Frieden wird nur in dem Maße sicherer, in dem es gelingt, die Härten der Teilung Deutschlands abzubauen und die Teilung im Rahmen einer europäischen Friedensordnung zu überwinden.
Deshalb greife ich den von ihnen gewählten Begriff einer notwendigen Koalition der Vernunft gerne auf.
Mein ganzes Bemühen und mein ganzer Einsatz sollen dieser Vernunft in allen Bereichen zum Durchbruch verhelfen.
Mit aller Kraft trete ich für einen erfolgreichen Abschluß der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen in Genf über landgestützte nukleare Mittelstreckenraketen ein.
Die von mir geführte Bundesregierung hat bei der Entwicklung der amerikanischen Verhandlungsposition in Genf eine aktive und konstruktive Rolle gespielt. Sie läßt sich davon leiten, daß die legitimen Sicherheitsinteressen aller Staaten gewahrt bleiben müssen. Deshalb ist es für die Bundesregierung von fundamentaler Wichtigkeit auszuschließen, daß Westeuropa und damit auch die Bundesrepublik Deutschland im Schatten des sowjetischen nuklearen Mittelstreckenpotentials zu einer Zone minderer Sicherheit mit allen politischen und strategischen Konsequenzen der Instabilität werden.
Die von mir geführte Bundesregierung ist bereit, ihren Beitrag zur Wahrung und Stabilisierung des Gleichgewichts zu leisten, das - wie Sie selbst ausführen - für den Frieden unerläßlich ist.
Das Gleichgewicht ist heute gestört, weil die Sowjetunion seit über einem Jahrzehnt mit großer Kräfteanstrengung das militärische Kräfteverhältnis durch Ausbau und Verbesserung ihrer Waffen sowohl im nuklearen Bereich als auch im konventionellen Bereich einschließlich der Rüstung zur See zu ihren Gunsten zu verändern sucht. Auf diese Herausforderung hat das Nordatlantische Bündnis nicht mit einer automatischen Gegenrüstung geantwortet, sondern eine Politik der Verhandlungsbereitschaft in Gang gesetzt in der Überzeugung, daß wir alle Kräfte dafür einsetzen müssen, durch Rüstungskontrollverhandlungen ein Gleichgewicht auf möglichst niedrigem Niveau zu erreichen und zu sichern.
Dabei hat das Nordatlantische Bündnis mit dem Doppelbeschluß trotz anhaltender sowjetischer Aufrüstung mit landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen und in anderen Bereichen eine einseitige Vorleistung in Form eines vierjährigen Moratoriums erbracht. Zugleich hat der Westen jahrelang an die Vernunft der sowjetischen Führung appelliert, die vereinbarte Parität im interkontinental-strategischen Bereich nicht durch Aufrüstung mit nuklearen Mittelstreckenraketen zu unterlaufen. Darüber hinaus hat die NATO ihre bei einem Scheitern der Verhandlungen eventuell erforderlich werdenden Maßnahmen von vornherein quantitativ und qualitativ begrenzt. Diese Mäßigung ist bisher auf östlicher Seite leider ohne Antwort geblieben. Die Sowjetunion hat bisher nicht erklärt, welche Höchstgrenze sie bei der Dislozierung ihrer SS-20-Raketen anstrebt.
Der Doppelbeschluß zielt nicht auf eine Vermehrung des Nuklearpotentials, vielmehr wird er zu einer bedeutsamen Reduzierung der Nuklearwaffen der NATO führen. Tausend nukleare Gefechtsköpfe sind bereits 1980 einseitig aus Europa abgezogen worden. Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt, daß der nukleare Waffenbestand der NATO weiter auf das Minimum dessen verringert wird, was zur Gewährleistung der Sicherheit des Bündnisses unbedingt erforderlich ist. Die NATO wird in Kürze noch einmal eine Anzahl von nuklearen Gefechtsköpfen abziehen, die größer sein wird als der Abzug von 1980. Dieser einseitige Schritt des westlichen Verteidigungsbündnisses wird im übrigen unabhängig vom Ausgang der Genfer Verhandlungen über Mittelstreckensysteme getan werden.
Die jüngsten amerikanischen Verhandlungsvorschläge in Genf haben die Möglichkeit eröffnet, die wesentlichen und entscheidenden Probleme in den Genfer Verhandlungen zu lösen. Die amerikanische Seite ist auf zentrale Anliegen der sowjetischen Seite, wie auf den Einschluß von Flugzeugen in nuklearer Erstrolle und den geographischen Geltungsbereich eines Abkommens eingegangen. Nach meiner Auffassung liegen nunmehr alle Elemente für ein faires und ausgewogenes Abkommen auf dem Tisch. Bei entsprechendem Willen der Sowjetunion zur Verständigung wäre es jetzt binnen kurzer Zeit möglich, ein Verhandlungsergebnis zu erzielen. Statt dessen hat die Sowjetunion bedauerlicherweise die westliche Initiative kritisiert und als bedeutungslos bezeichnet. Dies hat in der westlichen Öffentlichkeit Enttäuschung und Befremden ausgelöst.
Es liegt nun ausschließlich an der Sowjetunion, den Weg für ein Ergebnis freizumachen, indem sie ihre starre, in der Sache nicht gerechtfertigte und von ihr früher anders beurteilte Haltung zur Einbeziehung der britischen und französischen Systeme in die INF-Verhandlungen in Genf aufgibt.
Eine Verhandlungslösung in Genf ist nach alledem keine Frage der Zeit, sondern vielmehr eine Frage der Kompromißbereitschaft. Insofern geht auch das Verlangen nach einem Stationierungsaufschub am Problem vorbei. Ich halte es unter den gegebenen Umständen für höchst zweifelhaft, daß der Verständigungswille durch einen Aufschub der Stationierung wachsen könnte. Falls die sowjetische Seite die verbleibende Zeit nicht nutzt, um nach dem jüngsten amerikanischen Entgegenkommen ihrerseits den Weg zu einem Ergebnis freizumachen, muß der Westen nach vier Jahren einseitiger Vorleistungen das tun, was zur Wiederherstellung des Gleichgewichts und zur Gewährleistung seiner Sicherheit notwendig ist.
Von einer Automatik auf der Seite des Nordatlantischen Bündnisses kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil es die Sowjetunion durch ihr Verhalten in der Hand hat, ob der Westen zur Stationierung gezwungen wird oder nicht. Es sollte auch nicht außer acht gelassen werden, daß das Bündnis nach dem gegenwärtigen Zeitplan nicht sofort alle zur Stationierung vorgesehenen 572 Systeme der sowjetischen Vorrüstung gegenüberstellen wird, falls bis Ende 1983 ein konkretes Verhandlungsergebnis ausbleiben sollte. Die eventuell erforderlich werdende Dislozierung der amerikanischen Mittelstreckensysteme wird nach dem gegenwärtigen Zeitplan einen Zeitraum bis Ende 1988 beanspruchen.
Die westliche Seite ist bereit, auch über Ende 1983 hinaus weiterzuverhandeln und dabei in den fortlaufenden Verhandlungen wie bisher das gesamte NATO-Modernisierungspotential zur Disposition zu stellen. Das Bündnis würde im Falle eines entsprechenden Ergebnisses einwilligen, etwa zwischenzeitlich dislozierte Systeme wieder zu entfernen.
Was nun ihre Qualifizierung der Modernisierungssysteme der NATO anbetrifft, so muß ich Ihnen sehr nachdrücklich widersprechen. Diese Systeme können weder nach ihrer Reichweite noch nach ihrer Zahl als Erstschlagswaffen qualifiziert werden. Sie sollen weder als Angriffswaffen dienen, noch können sie wegen der begrenzten Zahl als eine massive Bedrohung der Sowjetunion gewertet werden, und sie würden schon gar nicht - falls die Stationierung notwendig werden sollte - die Gefahr eines Krieges erhöhen. Es geht nur darum, in der Kategorie der Mittelstreckenwaffen wieder zu Gleichgewicht und Stabilität zurückzufinden.
Ich meine überhaupt, daß die Gefahr eines Krieges in Europa trotz der gegenwärtigen Belastungen in den Ost-West-Beziehungen weniger real ist denn je. Daher verurteile ich auch die Versuche, eine solche Gefahr herbeizureden und unter den Menschen in Ost und West die Angst zu schüren. Diese Versuche werden weder der Interessenlage des Westens noch des Ostens gerecht, da auch wir von der Annahme ausgehen, daß die Sowjetunion ihre Überlegenheit im Mittelstreckenbereich nicht zu einem Angriff oder zu einem nuklearen Vernichtungsschlag einsetzen würde. Uns macht jedoch besorgt, daß die Sowjetunion gerade durch die Ankündigung sogenannter Gegenmaßnahmen im Falle einer westlichen Stationierung zeigt, daß sie willens und fähig ist, Nuklearwaffen als Instrumente der politischen Einflußnahme zu gebrauchen.
Mit noch größerer Sorge stelle ich darüber hinaus fest, daß das von der Sowjetunion als Gegenmaßnahme angekündigte nukleare Rüstungsprogramm bereits überwiegend Realität ist. Wie Sie wissen, werden seit längerer Zeit nukleare Kurzstreckenraketen des Typs SS-21 in der Deutschen Demokratischen Republik disloziert, SS-22-Raketen werden in der westlichen Sowjetunion aufgestellt, und die Dislozierung der SS-23 steht unmittelbar bevor. Die Genfer INF-Verhandlungen könnten auch eine Begrenzung dieser Potentiale bewirken. Ich appelliere aus diesem Grunde an Sie, Herr Generalsekretär, Ihren Einfluß geltend zu machen, daß ein neues Andrehen der Rüstungsspirale vermieden wird, die bereits in der Deutschen Demokratischen Republik stationierten neuen modernen Nuklearraketen abgebaut und keine zusätzlichen Nuklearwaffen aufgestellt werden.
Auch dazu ist noch Zeit und die Möglichkeit für Verhandlungen, um erforderliche Weichenstellungen herbeizuführen. Ich greife gern Ihre Bereitschaft auf, alles zu unterstützen, was uns einem gesicherten Frieden näherbringt. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang bitten, ihren ganzen Einfluß bei der Sowjetunion geltend zu machen, um zu bewirken, daß die konstruktiven westlichen Vorschläge von ihr gründlich geprüft und nicht voreilig verworfen werden.
Sie können davon ausgehen, daß die von mir geführte Bundesregierung nach wie vor das ihrige tun wird, alle Möglichkeiten in den Verhandlungen auszuschöpfen und einen für das deutsche Volk und für alle Völker lebensnotwendigen Zustand des Friedens und der Zusammenarbeit zu schaffen.
Niemanden kann an einer Zuspitzung der Situation gelegen sein. Gerade dann, wenn die internationale Lage schwieriger wird, müssen die beiden Staaten in Deutschland alle Kraft daransetzen, das Geflecht der Beziehungen und der Zusammenarbeit weiterzuentwickeln und auszubauen. Die beiden deutschen Staaten werden ihrer gemeinsamen Verantwortung vor dem deutschen Volk und für den Frieden nur gerecht, wenn sie sich ernstlich bemühen, ihre Beziehungen so zu entwickeln, daß davon positive Impulse für die Lage in Europa ausgehen.
Die Bundesregierung hat in diesem Sinne gehandelt. Sie ist davon überzeugt, daß nur eine solche Politik den Menschen in den beiden deutschen Staaten dient, die die im Grundlagenvertrag niedergelegte Absicht fördert, normale gutnachbarliche Beziehungen zu entwickeln, und darüber hinaus - vor dem Hintergrund der internationalen Situation - zur Stabilisierung der Lage in Europa beiträgt.
Mit freundlichen Grüßen
gez. H. Kohl
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, 28.10.1983.