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„Manifest" des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands (1977)

„Manifest" des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands (1977)

Abschrift

Hiermit wenden wir uns an die Öffentlichkeit Deutschlands und teilen mit, daß wir demokratisch und humanistisch denkenden Kommunisten in der DDR uns illegal in einem Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands (BDKD) organisiert haben, weil uns die Umstände noch keine Möglichkeit zur legalen Vereinigung lassen.

Wir rechnen damit, daß sich auch gleichgesinnte Genossen in der BRD und in West-Berlin legal organisieren, um die Einheit der kommunistisch-demokratischen Kräfte in Deutschland herzustellen.

Momentan haben wir begonnen, uns über Theorie und Praxis eines demokratischen Kommunismus zu verständigen. Unsere hektographierten Materialien bilden eine schwere Gefahr für die Genossen, falls sie in falsche Hände geraten. Daher wenden wir uns bewußt an ein liberales Magazin in der BRD, dessen kritische Haltung zu Ost und West gleichermaßen bekannt ist, um unsere Erwägungen gefahrloser zu verbreiten. Wir ersuchen zugleich die kommunistischen, sozialistischen, sozialdemokratischen und liberalen Journalisten der BRD, uns dabei zu helfen.

Wenn selbst die Ideologen der ZK-Akademie in westdeutschen Verlagen publizieren, wenn DDR-Intellektuelle ihre Fehden öffentlich in den westdeutschen Medien austragen - warum sollten wir nicht die Waffen selbst des politischen Rivalen nutzen, um für kommunistisch-demokratische Prinzipien zu streiten? Auch Lenin hat seine Möglichkeiten, in der bürgerlichen Presse zu publizieren, und außerdem sogar die 40 Millionen Goldmark des kaiserlichen deutschen Geheimdienstes durchaus sinnvoll verwandt.

Vielleicht bekommen wir, wie die SED-Ableger DKP/SEW in der BRD/Berlin-West, eines Tages die Möglichkeit, in der DDR unsere eigene Zeitung zu haben und in der Legalität zur Opposition gegen den pseudosozialistischen Spätkapitalismus, genannt „realer Sozialismus", und seinen reaktionären politbürokratischen überlebten Überbau zu nutzen.

Vielleicht können wir, wie die DKP/SEW in die DDR, eines Tages unsere Genossen vom BDKD in die BRD zur Parteihochschule schicken. Sobald man uns diese Gleichberechtigung einräumt, verzichten wir auf die erhoffte Unterstützung demokratischer Journalisten.

Unter den Partei-Journalisten der DDR ist uns noch kein Minister-oder Präsidenten-Töter aufgefallen, obwohl auch hier das Wort des Chefredakteurs Karl Marx seine Gültigkeit hat, daß es Aufgabe der volksverbundenen Presse ist, die reaktionären menschenfeindlichen Herrschaftszustände „allerorts zu unterwühlen".

Es ist unser Ziel, in ganz Deutschland auf eine demokratisch-kommunistische Ordnung hinzuwirken, in der alle Menschenrechte für jeden Bürger voll verwirklicht sind nach dem Marx-Wort, daß man alle Umstände vernichten muß, unter denen der Mensch ein unterdrücktes, verächtliches, geknechtetes Wesen ist. Wir wissen nicht, ob und wann wir oder Generationen nach uns das erreichen.

Wir glauben nicht an Gottvater Marx, Jesus Engels oder gar den Heiligen Geist Lenins, an die fatalistische Gesetzmäßigkeit der Geschichte, sondern wir schätzen die „Klassiker des Marxismus-Leninismus" als bedeutsame Glieder einer langen Gedankenkette von Morus und Campanella über die französischen, englischen und deutschen Utopisten, die Aufklärung, die Klassik bis hin zu Bebel, Rosa Luxemburg und Liebknecht - welche beide in ihren in der DDR nicht gedruckten philosophischen Positionen eindeutig einen pluralistischen Kommunismus vertreten - bis hin zu Bloch, Harich, Havemann und Bahro.

Dabei ist immer ein roter Faden erkennbar: die rationale, nicht die gläubige Analyse der gesellschaftlichen Prozesse und die Verpflichtung des Kommunisten zur sozialen Gerechtigkeit, zum Kampf gegen asoziales Schmarotzertum und für einen kämpferischen Humanismus.

Lebten Marx, Engels, Lenin heute, blickten sie voller Abscheu auf das dogmatisierte heidnische Götzenbild, was man von diesen bemerkens- und liebenswerten Persönlichkeiten übriggelassen hat, und sie befänden sich heute, wie gehabt, in der West-Emigration - bei den Eurokommunisten. Würden Marx/Engels ihr „Manifest" heute abfassen, würden sie wohl beginnen „Ein Gespenst geht um im östlichen Europa - das Gespenst des westeuropäischen Kommunismus".

Wir bringen einige Thesen zu theoretischen und praktischen Hauptproblemen, wie sie sich aus unserer Sicht für die Politik eines BDKD in Deutschland darstellen. Sie sollen zur Selbstverständigung dienen und nach der Diskussion zu einem Programm und Statut verdichtet werden. Dabei sind die aus der Nazi-Zeit erlernten Regeln der Konspiration zu beachten und zu verfeinern. Die Partei- und Staatsarbeit, das Partei- und FDJ-Studienjahr, die Zivilverteidigung und die Kampfgruppen - alle bieten die Möglichkeit, sich über die Thesen der „Revisionisten" zu verständigen und sie - auch unter dem Vorwand der Bekämpfung - zu verbreiten.

1. Krieg und Frieden

  1. Wir wenden uns gegen den Nebelvorhang der „allgemeinen Gesetzmäßigkeiten". Die Wahrheit ist immer konkret. Die Seele des Marxismus ist die konkrete Analyse der konkreten Situation.

  2. Die ungleichmäßige Entwicklung des Staatskapitalismus hat dazu geführt, daß heute zwei imperialistische Supermächte, die USA und die UdSSR, existieren. Es kann im Interesse der Friedenssicherung nur erhofft werden, daß sich international eine pluralistisch ausgewogene Kräfteverteilung ergibt.

  3. Die Kriegsgefahr geht von beiden imperialistischen Zentren aus. Der brutale Einsatz von Napalm gegen die Grenztruppen der Volksrepublik China durch die Sowjet-Union und die dauernde Spannung an der chinesisch-sowjetischen Grenze beweisen die Demagogie der These von der angeblich friedenssichernden Macht der SU. Die Gefahr eines kriegerischen Zusammenstoßes wächst im Gefolge der Aufrüstung der Supermächte. Die Abrüstung muß durchgesetzt werden.

  4. Im westlichen imperialistischen System ist die Interdependenz global geworden, in der Wirtschaft wie in der Politik und Kultur. Von dieser Seite her droht deshalb keine Kriegsgefahr mehr zwischen den kapitalistischen Industrieländern.

  5. Die sowjetische Aufrüstung zu Lande, zu Wasser und in der Luft, das Schüren von Kriegsherden im afrikanisch-arabischen Raum durch Lieferung von Waffen, Personal und Ausbildern, die zunehmende Militarisierung des gesamten öffentlichen Lebens im Ostblock gefährden den Weltfrieden. Die SU muß bei den MBFR-Verhandlungen in Wien zur gleichwertigen Abrüstung und zum Abzug ihrer Truppen aus Osteuropa vertraglich verpflichtet werden. Das Ende des Kolonialsystems muß auch gegenüber dem roten Imperialismus durchgesetzt werden.

  6. Die überseeischen NATO-Truppen müssen aus Westeuropa abgezogen werden. Die BRD soll aus der NATO, die DDR aus dem Warschauer Pakt ausscheiden, und ganz Deutschland soll total abgerüstet werden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann die Neutralität Deutschlands garantieren. Die in Deutschland dadurch frei werdenden Mittel werden bis auf den letzten Pfennig den Vereinten Nationen für die Vierte Welt zur Verfügung gestellt.

  7. Es müssen friedensvertragliche Regelungen mit Deutschland geschaffen werden nach Lenins weisem Wort „Frieden ohne Kontributionen und Annexionen". Rußland hat riesige Weiten, wozu muß es als Landräuber auftreten? Wir begrüßen die Haltung unserer japanischen Genossen in der Kurilenfrage. Sie haben recht: Die sowjetische Haltung ist die des Großmacht-Chauvinismus in Asien wie in Europa.

  8. Die UdSSR hat der Entspannungspolitik aus ökonomisch-technischer Rückständigkeit heraus zugestimmt. Zugleich tut sie durch kooperative Verträge, wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und ähnliches alles, um mit westlicher Hilfe ihre Militärmaschine auf Überlegenheit zu trimmen. Das würde sie zu Zeiten eines Kalten Krieges erst recht tun. Deshalb gibt es keine Alternative zur Entspannung. Nur diese schafft die Möglichkeit einer friedlichen grundsätzlichen Reformation im Innern des sowjetischen Machtbereiches, einen Übergang von der asiatischen Produktionsweise des bürokratischen Staatskapitalismus zur sozialistischen Volkswirtschaft und Gesellschaft.

II. Reformkommunismus und sowjetische Orthodoxie

  1. Alles, was den Menschen bewegt, muß durch seinen Kopf, sagt Marx. Wir fügen hinzu: Erst muß das Richtige in seinen Kopf hinein. Die Herstellung der Menschenrechte in Westeuropa ging historisch konform mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks, der Flugblätter, der Zeitungen; die Herstellung der Menschenrechte im heutigen Osteuropa geht konform mit dem weltweiten System der Kommunikation durch die Massenmedien, besonders durch das Fernsehen.
    Deshalb die erstaunliche Furcht der roten Päpste im Kreml vor den Medien, deshalb ihre Verbotsanträge gegen Satelliten-Übertragungen in den Vereinten Nationen. Wird der Marxismus durch subalterne Überzeugungen oder nach dem Prinzip erhalten, mit dem er angetreten ist, nämlich durch den Widerspruch der Meinungen die beste Lösung für ein politisches Problem zu finden?

  2. Die politbürokratische Orthodoxie Moskaus ist objektiv reaktionär geworden. Sie hindert im Interesse eigener imperialer Machtausübung die kommunistische Weltbewegung an neuen Erkenntnissen, neuen Theorien, neuen praktischen Schritten. Sie betreibt Großmachtpolitik ohne Rücksicht auf die internationale Arbeiterbewegung oder die sogenannten Bruderländer.
    Sie macht mit den reaktionärsten Feudalstaaten eine Ölpreispolitik, die Inflation für die Arbeiter im Kapitalismus wie im Sozialismus bedeutet, erhält die Spannungen um Berlin-West aufrecht, setzt kubanische Hiwis in Entwicklungsländern ein und so weiter. Das alles bedeutet das Gegenteil von progressiver Politik.

  3. Rußland hat weder eine Reformation noch eine Aufklärung noch eine liberale Zivilisation kennengelernt. Partei und Staat der heutigen SU sind dementsprechend geprägt. Eine theokratische Gesellschaft mit zum Teil vorchristlichen Mythen, mit großrussischem Nationalismus, mit einer antisemitischen, antidemokratischen, antinationalen Denk-, Sprach- und Verhaltensweise kann in Westeuropa nur Widerwillen erwecken.
    Wir bestehen auf dem Recht unseres eigenen deutschen nationalen Weges zum Sozialismus, was uns Moskau verbal stets zuerkannte, aber politisch immer verweigert hat.

  4. Der Stalinismus war keine Entgleisung, er ist System. Stalinismus und Faschismus sind, unter staatsmonopolistischen Verhältnissen und geprägt vom Kampf um die Ausweitung der Macht, Zwillinge. Wir erinnern an das Wort des KZ-Häftlings Kurt Schumacher von den Stalinisten als rotlackierten Nazis. Stalin hat Hitler zur Macht verholfen, indem er die KPD auf die „Sozialfaschisten" der SPD hetzte. Damit hat er sich Hitlers Aufstieg und dessen Angriff auf die SU selbst mitorganisiert. Er hat die SED 1947/48 wiederum auf den „Sozialdemokratismus" gehetzt und auch damit die Kalten Krieger, die Neonazis und Revanchisten in der BRD einflußreich gemacht.
    Genossen, die diese Komintern-Politik nicht mitmachten, etwa Tito, wurden zu „Faschisten" gestempelt, isoliert, verfolgt und nach Scheinprozessen ermordet.

  5. Wir teilen deshalb die Einschätzungen der chinesischen Genossen vom neofaschistischen Typ der sowjetischen Machthaber. Sie haben Hitler die KZs vorgemacht, sie praktizieren noch heute den Antisemitismus.
    Der Zar zahlte seinen politischen Häftlingen die Lebenskosten und ließ sie - wie Lenin und Stalin in einem sibirischen Bauernhaus - in der Verbannung leben. Die Scheußlichkeiten der Arbeits- und Straflager und der Irrenanstalten für Kritiker blieben dem stalinistischen Politbüro vorbehalten.
    Die Barbarei des Systems hat in der SU und in vielen annektierten osteuropäischen Staaten nach 1945 mehr Opfer an Menschenleben unter den Genossen gefordert als Hitlerfaschismus und Krieg. Es ist mehr als symbolisch, wenn 1977 der letzte Kampfgefährte Lenins die UdSSR verlassen hat.

  6. Die Arbeiterklasse der SU wird von einer parasitären Bürokratenkaste ausgebeutet, die sich den größten Teil des Mehrwertes aneignet. Erst seit 1956 gibt es eine allgemeine Sozialversicherung für Arbeiter und Angestellte, erst seit 1966 bezieht der faktisch leibeigene, an die Scholle gebundene Kolchosbauer eine schmale Rente. Es gibt nicht einmal innerhalb der SU normale Bewegungsfreiheit. Das Lebensniveau ist erheblich niedriger als in den kapitalistischen Industrieländern.
    Wo sind die sozialen, wo vor allem die politischen Errungenschaften? Richtig ist, daß die Arbeitslosigkeit beseitigt ist. Der Staat bezahlt ein Heer von Parasiten mit Scheinbeschäftigungen im Unterdrückungsapparat. Sonst gäbe es im Zuge von Rationalisierung und Automatisierung Arbeitslosigkeit wie in der westlichen Form des Staatsmonopolismus. Wo ist aber besonders das menschliche, das demokratische Profil des angeblichen Sozialismus? Die Machthaber sind, völlig unkontrolliert in der russischen Feudalgesellschaft unserer Tage, mächtiger als die absolut regierenden Fürsten früherer Jahrtausende. Sie teilen die Macht nicht einmal mit der Kirche.

  7. Keine bahnbrechende wissenschaftlich-technische Erkenntnis ist seit der Oktoberrevolution zuerst aus der SU gekommen. Das Land, zu Zarenzeiten Großexporteur landwirtschaftlicher Produkte, ist heute von amerikanischen Weizenimporten abhängig.
    Die Scharlatanerie eines Lyssenko, der es fertigbrachte, alle winterharten Getreidesorten Rußlands zu vernichten, zeigt den wahren verderblichen Einfluß des „Marxismus-Leninismus" in der Wissenschaft. Seine antiquierten Religionsdogmen ersticken schöpferisches Denken und Tun. Ob Relativitätstheorie oder Kybernetik, ob Kunstfaser oder Elektronik, die Sowjets laufen nach wie vor den neuen Qualitäten des Westens nach.

  8. Sie trompeten heute, die USA bei der Stahl- und Zementproduktion eingeholt zu haben. Zugleich verbreiten sie, daß die USA ihre entsprechenden Kapazitäten nicht ausgelastet haben. Im Ernstfall könnten also die USA 50 Prozent mehr produzieren als die Sowjets.
    Diese Tonnen-Ideologie zeugt von einem völligen Unverständnis für Prozesse der Stoff-, Struktur- und Effektivitätswandlungen in den modernen Volkswirtschaften des Westens. Die SU produziert nach wie vor veraltet und zu teuer - und ist darauf noch stolz. Zugleich wälzt sie diese Lasten in wachsendem Maße über eine intensive Preistreiberei auf die RGW-Staaten ab. Sie setzt Masse und Quantität anstelle der längst überfälligen Qualität.

  9. Die Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen drängen in der SU zu einer Lösung. Die soziale, rassische, nationale und religiöse Unterdrückung ist eine Schande für eine Partei, die sich kommunistisch nennt und voll und ganz im Sinne der Gemeinschaft zu handeln vorgibt.
    Unsere klare Aussage ist: Unsere Sympathie gilt allen Völkern der SU - mit der herrschenden Klasse dort, auch persönlich korrupt bis auf die Knochen, wollen wir nichts zu tun haben. So wenig wie mit ihren Statthaltern in der DDR, die ihr Dasein vorwiegend zur persönlichen Bereicherung durch beachtliche Präsente auf Kosten der DDR-Werktätigen benutzen.

  10. Wir treten ein für einen theoretisch und politisch total reformierten Kommunismus, der nach Lenin das Beste verkörpert, was die Menschheit bisher hervorgebracht hat. Wir sind daher
    • gegen die Einparteien-Diktatur, die eine Diktatur der Sekretärs- und Politbüro-Clique ist,
    • gegen die Diktatur des Proletariats, die eine Diktatur der Bürokratie über das Proletariat und gegen das gesamte Volk ist,
    • für einen Parteienpluralismus, denn Freiheit ist, nach Luxemburg, immer die Freiheit der Andersdenkenden,
    • für ein unabhängiges Parlament, das aus freier Entscheidung der Wähler hervorgeht,
    • für einen unabhängigen Obersten Gerichtshof, wo jeder Bürger seine Klagen gegen Machtmißbrauch vorbringen kann. Selbst in Preußen konnte ein Müller seinen Prozeß gegen den König gewinnen. Im „realen Sozialismus" muß sich der machtlose Geist der geistlosen Macht beugen, ohne juristischen Schutz in Anspruch nehmen zu können,
    • für eine von lebensfremden ZK-Apparatschiks unabhängige Regierung,
    • für die Abschaffung des „demokratischen Zentralismus" in Partei, Staat und Gesellschaft, da er ein Zentralismus gegen die Demokratie ist.
Wir sind für ein vertrauensvolles Verhältnis der Zusammenarbeit von demokratischen Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten in Deutschland, Europa und der Welt. Wir sind nicht für einen erstklassigen sozialistischen und einen zweitklassigen proletarischen Internationalismus, sondern für einen Internationalismus, wie er sich auf der Berliner Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien gezeigt hat.

Dort sind die Positionen festgeschrieben und nicht in den parteiinternen Anweisungen, in denen es heißt: Was Carillo, Berlinguer und Marchais uns dort erzählt hätten, gehe die Parteien in den sozialistischen Ländern nichts an.

Wir sind nicht verblendet und bilden uns nicht ein, gegenüber den anderen Parteien der Arbeiterbewegung die Einsicht in den historischen Gang der Dinge vorauszuhaben.

Wir wissen aus den Entscheidungen der Politbüros, daß deren Einsicht immer erst im nachhinein erwächst. Alle Gruppen von Menschen verfolgen ihre Ziele, sagt der alte Engels, aber heraus kommt, was keiner gewollt hat. Herauskommen muß für demokratische Kommunisten eine Gesellschaft, in der alle Menschen Brüder sein können, unbeschadet ihrer Weltanschauung. Nathan der Weise steht uns näher als die leninistische Version des Kommunismus.

Wir treten ein für die Beendigung der unheilvollen Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung, die durch die russischen Instrukteure teils ausgelöst und teils generell forciert worden ist.

Wir halten Lenins Partei-, Demokratie- und Staatskonzept für untauglich. Vielleicht hätte er es in der SU richtig praktizieren können. Wir müssen uns nach den historischen Tatsachen und Erfahrungen richten, die für uns zutreffen.

Wir sind für juristisch und verfassungsmäßig real und eindeutig gesicherte Versammlungs-, Presse-, Organisations- und Glaubensfreiheit. Die Diener des Staates dürfen nicht den willkürlichen Ambitionen eines beschränkten Parteisekretärs, sondern müssen dem Gesetz und der Allgemeinheit verpflichtet sein.

Wir sind für die Abschaffung der Staatsreligion des Marxismus-Leninismus. Wissenschaft, Kunst und Literatur, das geistige Leben überhaupt, dürfen nicht reglementiert werden. Der menschliche Geist darf nicht der unmenschlichen Bürokratie, die unmenschliche Bürokratie muß dem menschlichen Geist unterworfen werden!

Der schöpferische Marx hätte heute längst die These der französischen Sozialisten vom Klassenkampf und seine eigene von der Diktatur des Proletariats als überholt gestrichen. Spätestens bei seinem Hohn auf den „Autoritätsaberglauben der selbsternannten Führer" wäre er verhaftet, eingesperrt oder gehenkt worden.

III. Deutschlandpolitik

  1. Noch haben die Sowjets ihr Ziel der Verewigung der deutschen Spaltung nicht erreicht. Auch die Deutschlandpolitik der SED-Spitze ist bisher gescheitert.
    Kein Konzept konnte die Spannungen an der Grenze und um die Grenze lösen. Keine pseudotheoretischen Haarspaltereien um die Nation schaffen das praktisch ungelöste nationale Problem aus der Welt. Damit bleibt für den Weltfrieden ein gefährlicher Spannungsherd trotz aller Entspannung auch weiterhin bestehen.
    Alle Machtkämpfe im Politbüro - Ackermann, Zaisser, Herrnstadt, Oelßner, Schirdewan, Ulbricht kontra Honecker - waren mit der nationalen Frage verbunden. Die historischen Erfahrungen in der UdSSR, Vietnam und Korea beweisen die Richtigkeit der theoretischen Verallgemeinerungen sowjetischer Wissenschaftler, daß die nationale Komponente langlebiger als die soziale ist.
    Theorie und Praxis des SED-Politbüros unter Honecker stehen in direktem Gegensatz zur Theorie und Praxis der kommunistischen Parteien der genannten Staaten.
    Die demokratischen Kommunisten können in Deutschland nur zu politischem Einfluß gelangen, wenn sie die erste Forderung von Marx in der Revolution von 1848 zu ihrer eigenen machen und für Jahrzehnte unverrückbar daran festhalten: „Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt."

  2. Der Entwicklungsprozeß gestattet heute, zu neuen Denkmodellen in der Deutschlandpolitik vorzustoßen. Wir sind für eine offensive nationale Politik, für ein Konzept, das auf die Wiedervereinigung Deutschlands zielt, in dem Sozialdemokraten, Sozialisten und demokratische Kommunisten ein Übergewicht gegen die konservativen Kräfte bilden. Das wird der entscheidende Beitrag für eine europäische Friedenssicherung in Deutschland sein.
    Dieses Deutschland kann und muß eine Brücke zwischen Ost und West, ein friedensstabilisierender Faktor werden. Die Stichworte dazu lauten Abzug aller fremden Truppen im Gefolge der Entspannung, Austritt aus den Militärpakten, Friedensverträge mit beiden deutschen Staaten, Neutralitätsgarantie durch den Sicherheitsrat der UN, totale Abrüstung und Abführung der ersparten Rüstungskosten an die Vierte Welt, Assoziierung mit der EWG und dem RGW, Zulassung aller BRD- und DDR-Parteien in ganz Deutschland, freie, geheime Wahlen zur Nationalversammlung, Konstituierung einer Nationalversammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung, stufenweise Rechtsangleichung in allen gesellschaftlichen Bereichen.

  3. Zur Vorbereitung dieser Entwicklung sind heute eine Reihe von Schritten denkbar, die DDR-Wissenschaftler schon vor Jahren angeregt haben:
    • Mitgliedschaft der DDR im GATT,
    • Zusammenarbeit mit der Weltbank,
    • Konvertierbarkeit der DDR-Mark. De facto besteht diese schon durch die Intershop- und Exquisit-Praxis sowie die Praxis der statthaften Deviseneinfuhr,
    • Einführung einer Berlin-Mark, die in beiden deutschen Staaten Gültigkeit hat und mit dem Wert der Mark der Bundesrepublik identisch ist.
    Diese finanziellen Maßnahmen können als Übergangsregelungen zur Herstellung einer deutschen Währung dienen.
    Mit ihnen korrespondieren muß eine Enteignung der Polit-Bürokratie und der DDR-Millionäre. Die circa 90 Milliarden DDR-Mark auf den Konten sind nicht durch ehrliche Arbeit, sondern ab einer bestimmten Höhe durch Ausbeutung und Spekulation erworben. Die Beseitigung der Staatsverschuldung und festgefrorenen Inflation wäre Voraussetzung für die hauptstädtische Einheitswährung und die Konvertierbarkeit der DDR-Mark.
    Sie würde politisch bedeuten, daß der „reale Sozialismus" sein unmenschliches Gesicht mit Mauer, KZ-Tötungsanlagen und Minenfeldern aufgeben kann, weil der ökonomisch-politische Anlaß entfiele, der DDR-Obrigkeit millionenfach zu entfliehen. Dies wäre eine echte Hilfe für den schweren Kampf unserer Genossen nicht nur in Westeuropa.
    Die Vorteile der RGW-Partner der DDR lägen auf der Hand. Sie könnten sich höchste Qualität und modernste Technik zu geplanten Lieferzeiten sichern. Die BRD-Wirtschaft könnte für die nächsten zehn Jahre mit der Aufpäppelung des herabgewirtschafteten Entwicklungslandes DDR auf Hochkonjunktur laufen. Die OECD-Staaten erschlössen sich eine massive Handelsschleuse zum RGW-Markt. Und schließlich könnten direkte Kooperationsbeziehungen zwischen DDR- und BRD-Konzernen in wissenschaftlich-technischer, ökonomischer und personeller Beziehung aufgenommen werden.

  4. Die ökonomischen Maßnahmen bedürfen der politischen Ergänzung. Hier fordern wir: Einführung des ungehinderten Reiseverkehrs zwischen der DDR und der BRD bei Abschaffung aller überflüssigen Zoll- und Kontrollformalitäten. Als Übergangslösung verlangen wir die Senkung des Reisealters auf 35 Jahre, da die Berufsrentner des Politbüros dieser Altersstufe die Fähigkeit zur Selbstentscheidung wohl nicht absprechen können.
    Es sollte ein Abkommen zwischen Bonn und Ost-Berlin geschlossen werden, das - analog etwa israelischen und ähnlichen Regelungen - vorsieht, im Falle von Arbeitsplatzwechsel dem Ausbildungsbetrieb, falls er im anderen deutschen Staat liegt, die Ausbildungskosten voll zu ersetzen.
    Dieses Abkommen könnte auch die Vermittlung von westdeutschen Arbeitslosen in DDR-Betriebe regeln, besonders auch von Jugendlichen zur Ausbildung. Übrigens zeigt die jugoslawische Praxis, daß Gastarbeiter aus sozialistischen Ländern in westlichen Monopolbetrieben fachlich und politisch zumeist hinzugewinnen.
    Außerdem fordern wir freie Bewegung in Berlin und die Absorption der West-Berliner Arbeitslosen in DDR-Betrieben bei gleichen Tarifen, welche die Gewerkschaften auszuhandeln hätten.
    Die deutsche Arbeiterklasse ist eine Arbeiterklasse und muß es bleiben. Solidarität gilt dabei wechselseitig. Jahrhundertealte Tradition und Blutsbande sind weder durch imperialistische Machtpolitik noch durch Politbüro-Quislinge zerstörbar.

  5. Großzügige Kooperationsbeziehungen sollten zwischen westdeutschen Handelskonzernen und Dienstleistungsfirmen einerseits und den Konsumorganisationen in der DDR andererseits hergestellt werden. Mit den Gewerkschafts-, SPD- und staatseigenen Betrieben der BRD, ferner zwischen FDGB und DGB könnten besonders für Urlaub und Erholung betriebliche Kompensationsgeschäfte geschlossen werden. Das gleiche gilt für Jugend-, Sport- und Frauenorganisationen.

IV. Zur inneren Situation der DDR

Warum wird der Abstand DDR-BRD in der Arbeitsproduktivität, nach Lenin dem letztlich entscheidenden Kriterium für die Überlegenheit einer Gesellschaftsordnung, in den entscheidenden volkswirtschaftlichen Zweigen immer größer?

Warum ebben die Wellen der Ausreise-Anträge und die Versuche zur Republikflucht, selbst unter Einsatz des Lebens, nicht ab?

Warum treten 94 Prozent aller DDR-Bürger, also auch die Mehrheit der Funktionäre, Abend für Abend die geistige Republikflucht an und schalten auf ARD und ZDF? Weil der politideologische Psychoterror unerträglich, die Flucht in eine andere Welt Notwendigkeit zum Überleben ist!

Warum steigt der Verbrauch von Arzneimitteln in der DDR überdurchschnittlich hoch, wobei der Verbrauch der „LMA"-Tabletten ("Leck mich am Arsch", DDR-Kürzel für Psychopharmaka) sogar sechsfach höher liegt als der anderer Medikamente?

Warum hat die DDR Weltspitze bei Ehescheidungen, Selbstmordraten und Alkoholmißbrauch?

Wo liegen die Defekte dieser Gesellschaft?

Warum ist der Datschismus (benannt nach der Datscha, aus dem Russischen entlehnter DDR-Ausdruck für Wochenendhaus) zur Hauptform des Lebens geworden?

Wir könnten weitere Fragen aus einzelnen Lebensbereichen stellen, deren Beurteilung für das Politbüro genauso niederschmetternd wäre, selbst wenn es die Statistiken noch mehr fälschen ließe. Der letztliche Grund für diese deprimierenden, dem sozialistischen „neuen Menschen" hohnsprechenden Tatsachen ist im politischen Überbau ohne demokratische Spielregeln, in der skandalösen Differenz zwischen der ethischen Theorie einerseits und der ahumanen Praxis andererseits, im Widerspruch zwischen PK (Produktivkräften) und PV (Produktionsverhältnissen) zu suchen. Die DDR ist der Abklatsch einer 16. Unionsrepublik (der Sowjetunion, A.d.R.), wobei deren negative Seiten mit deutscher Gründlichkeit vergröbert sind.

Der ostdeutsche Arbeiter kann genauso klug, erfinderisch und geschickt wie sein westdeutscher Kollege sein. Aber will er? Hat er den Ehrgeiz, die Arbeitsproduktivität höher zu treiben? Hat er den Anreiz, mehr Geld auf ehrliche Weise, durch echte Leistungssteigerung zu verdienen? Oder soll er Kraft, Werkzeug und Material aus dem Betrieb nicht besser für den privaten Job nach Feierabend einsetzen? Jeder, der in Industrie oder Landwirtschaft, im Gesundheitswesen oder Verkehr, im Handel oder als kleiner Staatsangestellter arbeitet, sieht: Die nicht arbeiten, leben am besten. Soll man es ihnen nicht nachtun?

Die DDR hat angeblich Arbeitskräftemangel, aber die vorhandenen Fachleute können oft nicht sinnvoll ausgelastet werden, weil es an Material, Energie, Transportkapazität oder ähnlichem fehlt. Der Plan wird schon in der Brigade-Abrechnung mit dem Bleistift erfüllt, die Leistung gefälscht, damit die Lohntüte stimmt.

So entstehen Millionen-Verluste. Dann hetzen Überstunden, Sonn- und Feiertagsarbeit die Werktätigen. Der Lohnfonds wird wiederum weit überzogen, die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage noch mehr aufgerissen. Es fehlt an Ersatzteilen, die wertmäßig Pfennige ausmachen, aber ganze Produktionsabschnitte fallen dadurch aus. Zeit, Sprit und Arbeitskraft gehen massenweise verloren beim Kreuz und Quer durch die Republik, um das Nötigste an Engpässen zu überwinden. Wiederum versickern Millionen.

Jeder Kapitalist ginge bei dieser Wirtschaftsweise zugrunde. Bei uns zahlt der Arbeiter und Bauer für die Unfähigkeit des bürokratischen Apparates mit niedrigerem Lebensstandard als im Westen. Wir erinnern daran, Genossen: Beim NÖSPL (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, wirtschaftspolitische Reformkonzeption mit liberalen Elementen, 1963-1967) kann man die vernichtendste Kritik über das Versagen des Systems nachlesen. Es handelt sich dabei nicht um Feindpropaganda, sondern um offizielle Staats- und Parteidoktrin. Nur: Die Honecker-Administration, die den Mund so voll nahm, alles zu bessern, hat das organisierte Chaos bis zur Unerträglichkeit vergrößert. Nie in der Geschichte der DDR klafften Anspruch und Wirklichkeit derart weit auseinander. Nie wurden die Werktätigen derart intensiv ausgebeutet wie heute.

Wir fragen: Hat die Arbeiterklasse für den Acht-Stunden-Tag oder das pausenlose Schichtsystem gekämpft? Die Familien sind Tag und Nacht getrennt, aber die Partei erhebt den Finger: Erzieht eure Kinder sozialistischer, sie sind labil! Am Wochenende darf Vater zur Kampfgruppe, Mutter übt ZV (Zivilverteidigung), der Sohn GST (Gesellschaft für Sport und Technik, Organisation zur vormilitärischen und wehrsportlichen Erziehung und Ausbildung), die Tochter DRK - alles zum Schutz der Politbüro-Kaste!

Von der Woche wollen wir gar nicht reden: Zeitungsschau, Agitatoren-Gespräch, Versammlungen in Partei, Gewerkschaft, FDJ, DSF (Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft), Partei-, FDJ und Gewerkschaftsschuljahr - und überall die gleiche Leitartikel-Litanei.

Die Kollektivierung ist total, selbst das gemeinsame Mittagessen am Sonntag wird ersetzt durch Pflichtdemonstrationen, Pflichtbegrüßungen, Pflichtverabschiedungen, meist eines Sowjet-Touristen.

Marx pflegte über einen Potentaten Frankreichs, der seine Berufsjubler auf Reisen stets mit sich führte und ihnen nach erfolgtem Gebrüll heiße Würste spendierte, zu sagen: Hoch die Würste, hoch der Hanswurst. Wir fordern die Einführung der Titulatur eines obersten DDR-Hanswurstes!

Und im Ernst: Schluß mit dem unglaublichen Diebstahl an kärgster Freizeit und den lebensgefährdenden, jedem Sicherheitsbedürfnis für Kinder hohnsprechenden Verkehrsverhältnissen bei den Zwangsveranstaltungen!

Wir fragen: Hat die Arbeiterbewegung dafür gekämpft, ein unüberschaubares Heer von nichtsnutzigen Parasiten im Partei-Apparat, den Hoch-, Bezirks-, Kreis- und Sonderschulen von Partei, FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund), FDJ, DSF, GST, ZV usw. usf. zu ernähren?

Hat sie dafür gestritten, diesen ML (Marxismus-Leninismus) - Pfaffen ein Leben auf Kosten der Staatskasse zu ermöglichen? Dafür, daß trotz alle Jahre wieder erfolgender Ministerratsbeschlüsse zur Reduzierung des Apparates auch die staatliche Verwaltung immer weiter wächst, wächst, wächst? Und das alles, obwohl ein Dutzend Computer in der Lage wäre, 100.000 Verwalter für die bitter benötigten Dienstleistungen freizusetzen?

Wir fragen: Wozu braucht die DDR, gemessen an der BRD, einen achtfach höher besetzten Polizei- und Sicherheitsapparat, wo doch jeder täglich im ND (SED-Zentralorgan „Neues Deutschland") lesen kann, wie sehr das Volk die Obermotzen liebt? Wozu braucht die DDR ein Heer von Journalisten, die alle genau das wiedergeben, was Lülas (Lügen-Lamberz, SED-Spottname für Werner Lamberz, Mitglied des SED-Politbüros und als Sekretär für Agitation zuständig für die DDR-Presse) Agitkommission per Fernschreiber dekretiert? Und ein Heer von ML-Leuten, vom Kindergarten bis zur Hochschule, die alle das gleiche lebensfremde Dogma sülzen?

Wir stellen fest: Keine herrschende Klasse Deutschlands hat jemals so schmarotzt und sich jemals so gegen das Volk gesichert wie jene zwei Dutzend Familien, die unser Land als einen Selbstbedienungsladen handhaben. Keine hat sich derart exzessiv goldene Gettos in die Wälder bauen lassen, die festungsgleich bewacht sind. Keine hat sich derart schamlos in Sonderläden und Privatimporten aus dem Westen, durch Ordensblech, Prämien und Sonderkliniken, Renten und Geschenke so korrumpiert und bereichert wie diese Kaste.

Schaut sie euch genau an: Hatte auch nur einer dieser selbsternannten Führer einmal eine Idee aufzuweisen, ein Buch oder wenigstens einen Artikel geschrieben? Auf irgendeinem Fachgebiet oder wenigstens im Bereich der Politik?

Nein, sie beschäftigen Persönliche Referenten und Institute mit der Fabrikation ihrer Bleiwüsten, genannt Reden, in denen nur die Gedankenlosigkeit entlarvend blüht in einem Stil, den Lenin gezwungenermaßen vor russischen Analphabeten gebrauchen mußte und der noch heute sklavisch nachgeahmt wird.

Hat je einer der wirklich intellektuell leistungsfähigen Spitzenfunktionäre auch nur einmal ein entscheidendes Amt im Zentrum der Macht ausgeübt?

Nein, sie kamen etwa wie Becher (Johannes R. Becher, Schriftsteller, 1954-1958 Minister für Kultur) oder Abusch (Alexander Abusch, Schriftsteller, 1958-1961 Minister für Kultur, bis 1971 Mitglied des Ministerrats) nie über den staatlichen Rahmen hinaus, kontrolliert von gesichtslosen Apparatschiks.

Wir fragen: Wurde jemals ein brillanter Kopf Chefredakteur der schlechtesten Zeitung Deutschlands? 0 ja, einmal war Herrnstadt (Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur 1949-1953, Kandidat des Politbüros, 1954 als Ulbricht-Gegner aus der SED ausgeschlossen) Chefredakteur des ND. Er wurde beizeiten gefeuert. Heute regiert dort einer, der weder denken noch schreiben kann (Joachim Hermann, Kandidat des Politbüros). Die Hofberichterstattung ist danach, und der DDR-Bürger versteht sie überhaupt nur, wenn er sich vorher im Westen informiert hat.

Wir fordern eine Parteidiskussion über die vernichtende Analyse, die einer unserer beliebtesten Schriftsteller, Stefan Heym, über die DDR-Medien im „Stern" publiziert hat!

Dabei sind diese Politbürokraten krankhaft eitel. Zählt die Titularien: Wir, Erich und Co. von Breschnews Gnaden, König von Preußen etc. etc. Zählt die persönlichen Lobpreisungen der Arschkriecher und Speichellecker auf allen ZK-, Volkskammer-, Bezirks- und Kreissitzungen, zählt die „Werke", gesammelte natürlich, dieser Gernegroße und zählt die Tage, bis sie eingestampft werden. Siehe Stalin, siehe Ulbricht, siehe NÖSPL: Heute Nationalpreis und morgen Makulatur, es lebe der wissenschaftliche Leitungsstil.

Dieser ist enorm: Nummer eins (SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender Erich Honecker) und der zuständige Fachsekretär entscheiden, was irgendwo geschieht, nachdem ihnen der zuständige Abteilungsleiter des Apparates die Vorlage gebracht hat. Der Abteilungsleiter, ein total abhängiger, gesichts- und rückgratloser Mann, anonym, bestimmt, was nach oben geht. Da geht nur das, was seine Stellung nicht gefährdet, denn die Partei hat immer Recht, Genossen.

Kein Minister wagt gegen einen Abteilungsleiter des ZK, seinen eigentlichen Vorgesetzten, aufzumucken: Die Partei führt, Genossen, nicht der Verstand.

Drei weltfremde Leute, seit Jahrzehnten im Getto lebend, sorgfältig von jeder Regung des Volkes abgeschirmt, fachlich ungebildet, dekretieren Offenställe (von den Sowjets übernommene Rindviehställe von leichter Bauweise, mit einer offenen Seite, die sich nicht bewährt haben), die Sowjet-Wissenschaft ist schließlich führend. Der LPG-Bauer zahlt. Durch Überalterung auch in der politischen Urteilsfähigkeit gehemmt, kanalisieren sie den Fachverstand von Tausenden. Kein Wunder, daß Wirtschaft, Gesellschaft und Staat qualitativ absacken.

So ist es auf zentraler, auf Bezirks- und Kreisebene. Da die oberste Leitung nicht leitungsfähig ist, können die darunter, falls sie könnten, nichts am verderblichen Prinzip ändern. Der Zentralismus zertritt seine Kritiker.

Schaut sie euch genau an: Da greift sich Nummer eins alleine 1977 drei Orden für die Familie, macht wieviel?

Da stopft er die Häuser seiner Verwandtschaft vom Keller bis zum Dach voll mit modernstem West-Komfort. Da schafft er für den Schwager, einen stadtbekannten Schürzenjäger, extra einen Abteilungsleiter-Posten im ZK im ideologischen Bereich, wo sich die teuersten Arbeitslosen der DDR wechselseitig fast tottreten. Da hat er einen Ministerposten, eine hohe Vertrauensstellung im West-Apparat der Gewerkschaften für Frau und Schwiegervater bereit. Macht wieviel?

Kommentar am Mittagstisch im Großen Haus (Zentralkomitee der SED am Ost-Berliner Marx-Engels-Platz): Wie wird man, wenn man Erich nahesteht? Antwort: Feist (Mädchenname von Margot Honecker). Da schafft er Extra-Titel zu allem Ordensblech, seine treuesten Stützen werden „Helden" - kostet?

Nun, und wie der Herre, so's Gescherre: Da sagt ein Kultur-Sekretär (Kurt Hager, Mitglied des Politbüros), der die geistige Elite der DDR in die Emigration treibt, wie moralisch sie leben, die wertvollsten Kader der Partei: Sie haben kein Haus, kein Auto, keine Luxus-Jacht, keine Urlaubsheime, Kliniken etc. als Eigentum.

Das stimmt, sie lassen sich alles auf Staatskosten bezahlen: Der Arbeiter darf in der AWG (Arbeiter-Wohnungsbaugenossenschaft) sein Salär für den Wohnungsbau spenden und der Trabbifahrer auch seinen Wagen und sein Benzin bezahlen. Die Politbüro-Mitglieder dürfen derart niedrige Privathandlungen nicht vollziehen. Selbst beim Mittagessen sind sie unter sich im separaten Speisesaal des ZK - Genossen, fahrt mal mit dem Paternoster im Großen Haus eine Etage über den Speisesaal für die gewöhnlichen Apparatschiks hinaus! Werft einen Blick auf ihren von der Stasi bewachten Müllplatz!

Sie hoffen sicher, daß der Kapitalismus noch lange so hübsche Sächelchen produziert, die sie verwerten dürfen. Dabei haben sie jahrelang jeder Oma die Westschokolade für ihre Enkelkinder vom Zoll abnehmen lassen, und erst die Devisennot hat jetzt Einfuhrerleichterungen gebracht.

Da sagt der Kultur-Sekretär (Hager), daß er ein Spanien-Kämpfer sei. Er hat nie einen Schuß an der Front, sondern nur von den Liquidationskommandos der GPU (Sowjetische Geheimpolizei) gehört. Er lag nie in Feuer und Dreck, sondern verwaltete die Bibliotheken im Hinterland und säuberte sie von trotzkistischer Literatur. Durch Spitzeldienste für die GPU säuberte er auch etwas personell. Er fälschte seine Legende wie der Agit-Sekretär (Lamberz), der aus einer Nazi-Ordensburg kam und noch heute im ND- und Agitationsapparat Ex-Nazis konzentriert beschäftigt.

Lüla fälschte seinen Fragebogen, was laut Statut ein Vergehen, unvereinbar mit der Zugehörigkeit zur Partei ist. So qualifizierte er sich zum Arbeiter und widmete sich fortan der Pflege seiner Karriere und seinem privaten Image.

Da gibt es noch einen Agit-Sekretär (Albert Norden, Mitglied des Politbüros), zuständig für die Kontrolle der DKP, der sich Schreiner von Berufs wegen nennt, weil er vor 56 Jahren einmal vier Wochen einem Meister beim Sortieren von Brettern geholfen hat - ist nun klar, Genossen, weshalb das Thema Biographie der Bosse strengstes Tabu ist?

Da vermacht die Nummer eins der Hauptstadt (Konrad Naumann, Berliner SED-Bezirkschef, Mitglied des Politbüros) seinen Söhnen Offiziers-Stellen in der Bezirksverwaltung des MfS (Ministerium für Staatssicherheit), seiner Gespielin das Palast-Theater sowie eine Villa, die Möbel-Hübner (West-Berlin) ausstaffiert. Da regelt Lüla die Folgen seiner amourösen Touren großzügig mit Abfindungen aus der Staatskasse.

Korruption, Ämtermißbrauch, skandalöses Schmarotzertum, Nepotismus, wohin man blickt. Nach Statut müßte diese Sorte von Genossen längst aus der Partei ausgeschlossen sein.

Schaut sie euch genau an: So etwas schafft ein politisch-ideologisches Klima, das dazu führt, daß der DDR-Bürger in einer halbschizophrenen Situation lebt: Öffentlich und verbal ist er für diesen seltsamen Sozialismus, privat und im Herzen träumt er, meist viel zu positiv, vom Westen und praktiziert täglich geistige und irgendwann reale Republikflucht.

Diese Clique an der Spitze schadet der sozialistischen Idee in Deutschland und Europa mehr als alle sogenannte Feind-Propaganda. Sie verfahren nach dem Rezept aller Kurpfuscher, viel hilft viel, und erreichen durch die Überdosis den politischen Tod ihrer Klienten. Solche Zustände erklären, weshalb die Partei 1953 in der DDR, 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der _SSR über Nacht handlungsunfähig geworden war.

Die angeführte Schizophrenie lebt auch unter den Kommunisten, die gegen besseres Wissen parieren müssen. Der undemokratische Zentralismus vernichtet sonst ihre politische, materielle und ökonomische Existenz. Sie können sich nicht wehren. In der Partei, in der Gewerkschaft, in der Konflikt-Kommission, beim Arbeitsgericht, bei der ABI (Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, Kontrollorgan für die Durchführung der Beschlüsse von Partei- und Staatsführung), in den Parlamentsausschüssen, kurz, wo immer sie auch Klage führen wollen, ertönt immer nur die eine Stimme der Nummer eins der jeweiligen Leitungsebene, des dazugehörigen Fachsekretärs und seines diensthabenden Apparatschiks.

Wir sind hinter die reaktionäre Feudalordnung zurückgeworfen. Wir haben vor-zaristische Zustände.

Dies tötet jede Initiative, jedes Verantwortungsgefühl, öffnet den Weg für Schludrigkeit, Unordnung, Vergeudung, Diebstahl und stranguliert den gesellschaftlichen Fortschritt. Dies bringt zuwege, daß sich die DDR politisch, ökonomisch und national im Kreise dreht: Im Osten nichts Neues.

Schaut genau hin: Da gibt es einen Eid von Nummer eins, Gerechtigkeit zu üben gegen jedermann, da gibt es eine Unterschrift unter der Schlußakte von Helsinki, die Akzeptierung der Menschenrechte - das ist die eine Seite. (Übrigens: Die DDR-gesteuerte KPD hatte 1952 im Bundestag als einzige Partei nicht für die Annahme der Menschenrechtskonvention gestimmt.)

Da läßt der Generalsekretär (welch symbolische Verknüpfung von Militärbrutalität und bürokratischem Habitus!) X als Schauspieler mit allem Brimborium ausreisen und am gleichen Tag die Arbeiterfamilie Y verhaften und einsperren, weil sie auch ausreisen wollte.

Da weinen sich die minderjährigen Arbeiterkinder - Vater Schlosser, Mutter Verkäuferin - die Augen aus nach ihren Eltern. Sie sitzen bei der alten Oma, weil ihre Eltern der Meinung waren, sie könnten einer schriftlichen internationalen Verpflichtung des Staatsoberhauptes vertrauen.

Da werden familiär verbundene Menschen, Künstler, Wissenschaftler und Techniker von allen Westkontakten abgeblockt, so wie die Funktionäre, weil der Klassengegner mit ihnen sicher am leichtesten fertig würde. Aber die persönlichen Bekannten der Sekretärskaste, gleichfalls Künstler, Wissenschaftler und Techniker, bekommen Ein- und Ausreiseerlaubnis auf Dauervisum, wann und wie sie möchten.

Nach Marx ist das Recht ein gleicher Maßstab für ungleiche Individuen, sonst hört es auf, Recht zu sein. Wir stellen fest: Die DDR ist demnach ein Staat mit absoluter Rechtsunsicherheit. Die nackte Willkür regiert. Wann verhaftet man die Rechtsbrecher? Wann beruft das Parlament das Staatsoberhaupt wegen Bruchs der Verfassung und des Amtseides ab? Wann bestraft das Oberste Gericht das Politbüro wegen willkürlichen Menschenhandels, 50.000 Westmark pro freigelassenen Kritiker?

Schreiben wir das 18. Jahrhundert? Befinden wir uns an einem Fürstenhof in Hessen? Gibt es neben einem Klassiker Marx nicht auch noch einen deutschen Klassiker Schiller, der den Verkauf von Landeskindern gegeißelt hat? Wie alt ist die Forderung nach Gedankenfreiheit? Da hat Genosse Bahro Gebrauch davon gemacht, und schon ist er ein Spion, weil übrigens alle DDR-Spione in der BRD auch von sich aus offen ihre Position in Büchern darlegen, denn das, Genossen, ist die beste Tarnung für konspirative Arbeit!

Wir fordern ein öffentliches Partei- und Gerichtsverfahren für Genossen Bahro und sofortige Haftentlassung. Ferner ein Ermittlungsverfahren gegen den Minister für Staatssicherheit (Erich Mielke, Mitglied des Politbüros) wegen Machtmißbrauchs.

Da wird Genosse Havemann entwürdigend behandelt, ein Mann, der Hitlers Volksgerichtshof trotzte und, von Freisler zum Tode verurteilt, hundertmal mehr für die Genossen in der Haft tat als der Kalfaktor Honecker, der die Disziplin der Illegalen eigenmächtig brach. Er brach auch die Solidarität nach der Haft, indem er gegenüber der Stalinschen Geheimpolizei nicht einmal seinen sozialdemokratischen Lebensretter rehabilitierte.

Erinnern wir uns übrigens: Als FDJ-Führer hat er kein Wort des Widerspruchs gegen die willkürlichen Deportationen von unschuldigen Jugendlichen, sogenannten Werwölfen, gefunden, die zu Tausenden in den Stalinschen Lagern zugrunde gingen, grundlos verhaftet und verschleppt.

Wir sehen: Willkür und Rechtsunsicherheit haben Tradition, und es wird sie weiter geben, bevor nicht demokratische Verhältnisse im Überbau die ökonomische Basis ergänzen und den reaktionären Bürokratismus zermalmen. Denn jeder Bürokrat in der Hierarchie macht es auf seine Weise seiner Obrigkeit nach. Er beutet auch privatim aus, indem er über die Arbeitskraft seiner persönlichen Mitarbeiter, Kraftfahrer etc., nach Belieben verfügt, vom Hundeflöhen bis zur Regenwurmbeschaffung, von der Privatspritztour mit dem Dienstwagen bis zu den Spesen für den dienstlichen Aufwand nach dem Motto: ein ausländischer Gast, 15 freundliche Mitesser.

Wir ersuchen unsere Genossen aus Westeuropa, sich das alles sehr genau anzusehen, damit sie wissen, was sie von einem Parteien-Pluralismus, Ausgabe DDR, zu halten haben.

Wir erklären: Kein DDR-Bürger ist zur Einhaltung bestimmter politischer Gesetze verpflichtet, wenn die Führung ihre Verpflichtungen nicht einhält. Protest ist die erste Bürgerpflicht. Wir sind für Marx, nicht für Murx. Die Sekretärs-Diktatur versteift sich auf ihre verfälschten Begriffe rechts und links. Wir sind dafür, zwischen oben und unten zuerst zu unterscheiden, und kein Übel währt ewig. Man kann nicht 17 Millionen lebenslänglich einsperren.

Auf einigen Murx wollen wir noch eingehen: die sogenannte Hauptaufgabe, die angebliche Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die mit der Preisproblematik verbunden ist.

Unterstellen wir, die Politbürokraten hätten zumindest die ersten Kapitel von Marx' Hauptwerk, dem „Kapital", gelesen. Sie wissen also, was das Wertgesetz ist. Folglich wäre es sinnvoll, den ökonomischen Mechanismus zu nutzen und mit realen Preisen real zu planen. Dies geht aber nicht, weil sie stolz darauf sind, völlig unreale Preise zu haben, sogenannte stabile, die in Wirklichkeit seit Jahren überall anziehen, von Grundnahrungsmitteln abgesehen, was für die Landwirtschaft sehr schädlich ist, weil auch sie subventioniert werden muß und der Arbeiter aus der Industrie den Zuschuß zu erwirtschaften hat.

Es ist unerfindlich logisch, wieso bei sich ständig nach oben und unten ändernden Kosten die Preise stabil bleiben sollen. Deshalb ja auch der Unsinn der Industrie- und Verbraucherpreise, der Subventionierungen, der Ausgleichszahlungen im privaten Bereich, der verschiedenen Preise für gleiche Werte in normalen Läden, Sonderläden, Exquisit-Läden, Delikat-Geschäften oder im Wohnungsbau und bei den Mieten etc. etc.

Führende Wirtschaftswissenschaftler haben eindeutig festgehalten, daß die Wertgröße und ihr Geldausdruck im Preis bei diesem Chaos überhaupt nicht meßbar ist. Somit entfällt zugleich jede echte Effektivitätsberechnung und damit das soviel beschworene Leistungsprinzip, die theoretische Grundlage des sogenannten realen Sozialismus!

Deshalb entfällt harmonischer Produktionsrhythmus, hohe Qualität, Ersatzteillieferung usw. Die Plankommission kann überhaupt nicht qualitativ, sie kann nur quantitativ ohne Wertbestimmung planen. Der fehlerhafte schädliche Kreislauf der staatsmonopolistischen DDR-Wirtschaft, den NÖSPL abschaffen sollte, hält an.

Die Lohn-, Preis- und Strukturprobleme wurden nicht gelöst. Die Qualität der Produktion sinkt ab, die Reparatur-, Garantie- und Lagerhaltungskosten steigen, die Verluste wachsen, die Außenwirtschaftsverschuldung nimmt im Osten und Westen zu. Die DDR-Bevölkerung lebt über ihre Kosten auf Kredit, die Zins- und Schuldtilgungen fressen die Investitionsmittel auf, und das wiederum verhindert die durchgreifend nötige Struktur-, Lohn-, Preis- und Währungsreform, ein Teufelskreis!

Wir hatten positive Ansätze: Luft- und Raumfahrtindustrie, Elektronik, das NÖSPL-Konzept - Milliarden wurden investiert, dann haben die Sowjets diese Projekte aus Konkurrenzgründen zerschlagen. Heute hängen wir hoffnungslos hinter dem Westen zurück. Hätten wir ihn doch bloß nach der weisen Losung des Politbüros überholt, ohne ihn einzuholen! Das hat nun das Volk davon, wenn es nicht auf die Führung hört.

Statt Produktionsbereinigungen durchzudrücken, läßt diese die Sortimente in die Breite wachsen. Statt automatisierter Massenfertigung läßt sie Handwerkelei praktizieren. Statt Energie-Einsparung produziert man Energie-Vergeudung, weil man nicht einmal in der Lage war, den DDR-Maschinenpark ausreichend zu modernisieren, trotz unserer hohen Leistungsfähigkeit in diesem Bereich. Von der Infrastruktur wagen wir gar nicht zu reden.

Wir geben Hunderte Millionen Dollar aus für Rohstoffe, denn die Handwerker, etwa im Reparaturdienst, werden ökonomisch gestraft, falls sie etwa Kupferspulen, Messingringe oder ähnliches aufsammeln. Wir sind nicht einmal in der Lage, die Sekundär-Rohstoffe zu verwerten, welche von den Kindern gesammelt werden und dann wochenlang im Regen auf den Schulhöfen liegen, um zu verkommen. Wir importieren gegen Devisen teure Möbel für die Bonzen, aber unsere Holzvorräte werden nicht wirtschaftlich genutzt.

Urplötzlich hat man nun das Heilmittel gegen alles entdeckt: Rationalisierung, Sparsamkeit, höhere Qualität, höhere Effektivität. Nun, die Sparsamkeit trifft den produktiven, nicht den unproduktiven Bereich. Man kann sich auch zu Tode sparen. Prämierte Einsparungen an Material, Rohstoffen und Energie ergeben die sprunghaft gestiegene Qualitätsverschlechterung unserer Produkte.

Das Wort von der „schludrigen Russenarbeit" geht um. Die Ehre des deutschen Facharbeiters gilt nichts mehr. Jeder Fachverkäufer warnt davor, langlebige Gebrauchsgüter zu kaufen, die gegen Jahresende produziert wurden.

Honecker selbst hat wiederholt lautstark die einschneidenden Verbesserungen der Lebensverhältnisse im Dienstleistungssektor verkündet. Die Wartezeiten zur Reparatur von Hausgeräten haben sich inzwischen teilweise verdreifacht. Monatelang können in der DDR keine Gas- oder Elektroherde, Umlaufpumpen, Waschmaschinen und Staubsauger oder Kühlschränke repariert werden. In Ost-Berlin wird das kaschiert, auf Kosten der Bezirke.

Auf eine Wohnung in der Hauptstadt mußte man unter Ulbricht durchschnittlich vier, heute muß man durchschnittlich acht Jahre warten. Trotz des Wohnungsprogramms, das zwanzig Jahre zu spät kommt. Abriß und Substanzverfall fressen in Berlin den Neubauzuwachs auf. Das ist die Wirklichkeit.

Nennen wir noch ein die ganze Bevölkerung ernsthaft bewegendes Problem: Die Ärzte der Universitätskliniken in Berlin können an Krebs oder Steinleiden erkrankte Patienten erst nach zwei- bis vierjähriger Wartezeit operieren, es sei denn, hin und wieder kann sich ein Patient gegen Höchstsummen ein Bett kaufen. Die Wartezeiten in der Chirurgie bedeuten vielfach ein Todesurteil und erklären mit die hohe Zahl republikflüchtiger Mediziner, die mit ihren Konflikten nicht mehr fertig werden.

Während die Sonderkliniken der Bonzen halb leer stehen, fehlt es auf den Unfallstationen und in den Krankenhäusern an ärztlichen und an Hilfskräften, die übrigens beide unglaublich unterbezahlt werden. Verletzte liegen stundenlang ohne Erste Hilfe. Kräftige Patienten müssen zugreifen, Schwerverletzte zu transportieren. Denn welcher Pfleger kann für 350 Mark eine Familie ernähren? Qualifiziertes Personal wird für die Sonderkliniken abgezogen und dort natürlich auch höher bezahlt.

Knapp gesagt: Die arbeitenden Menschen aller Bereiche sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, daß die Ergebnisse ihrer harten, angestrengten Arbeit sich gegen sie kehren, weil es keine fähige Leitung gibt, die in der Lage ist, den gesellschaftlichen Gesamtprozeß zu koordinieren. Die primitive Agitation, wie etwa die Preislüge von der Überlegenheit unserer Staatsfinanzen gegenüber der westlichen Währung, soll das mit verschleiern.

Aber Tatsache ist: Konsum-, HO-, Exquisit- und Intershop-Preise sind alles andere als „stabil" im Sinne der Wertgröße. Die gestiegene Arbeitsproduktivität hat sich seit Jahren nicht mehr in gesenkten Preisen niedergeschlagen. Die Subventionen bei Grundnahrungsmitteln werden bei langlebigen Konsumgütern preislich dazugeschlagen, denn das Wertgesetz gilt. Der DDR-Konsument zahlt überhöhte Preise für sehr viele Industriewaren.

Warum also dieser ökonomische Verstoß gegen die ökonomische Theorie von Marx? Die ökonomische Vernunft wird zugunsten der Ostblock-Touristen, besonders zugunsten der in der DDR überreichlich stationierten Sowjets, vergewaltigt. Sie leben von den subventionierten Preisen, ohne wie die West-Touristen Eintrittsgebühr zu bezahlen.

Die DDR hebt das allgemeine Konsumniveau im RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, Wirtschaftsverbund des Ostblocks) besonders stark mit an und sackt dabei ab, das heißt, die erstrebte ökonomische Angleichung im RGW wird zum hohen Teil auf Kosten der DDR praktiziert, deren wirtschaftliche Perspektive es ist, zur Reparaturwerkstatt der Russen degradiert zu werden, bei abnehmenden Rohstoffen und ständiger Strukturverschlechterung.

Die Subventionen dienen zugleich allen Großverdienern der DDR, die steuerlich geschont werden wie solche Einkommen in keinem kapitalistischen Staat. Auch das geht zu Lasten des Lebensniveaus der arbeitenden Menschen.

Wir fordern eine andere Politik: reale, kostendeckende Preise, entsprechend reale Planung, reale, den jetzigen Stand des Lebensniveaus garantierende Einkünfte für die Arbeiter, Handwerker, Angestellten. Die hohen Einkommen müssen festgefroren und teilweise gesenkt werden. Durch reale Preise werden sie kräftiger abgeschöpft. Die Preis- und Lohnentwicklung muß je Fünfjahrplan zugunsten der Produzenten in Industrie und Landwirtschaft mit dem realen Wirtschaftswachstum gekoppelt werden. Nicht für alle aus dem großen Topf, sondern alles für die arbeitenden Menschen mit niedrigem Einkommen!

Wir fordern, daß die Funktionäre nicht höher als der Arbeiter mit einem durchschnittlichen DDR-Einkommen bezahlt werden. Dieses liegt nach Ansicht unserer Genossen in der Zentralverwaltung für Statistik bei etwa 600 Mark monatlich. Sämtliche Privilegien der Funktionäre müssen gestrichen werden. Zusammengenommen ist das die Chance, die bestehenden Beschlüsse zur Reduzierung des Apparates wirklich umzusetzen.

Wir fordern: Schluß mit den unverantwortlichen Ausgaben für den Leistungssport, für kulturlose Schlagerproduzenten und Fernsehdilettanten. Was ist eine Goldmedaille wert, die 25 Millionen Mark kostet? Warum verdient ein Fußballprofi 2.000, aber ein hochqualifizierter Facharzt mit allen Nachtdienstzuschlägen 1.500 Mark?

Wir fordern, die Sperrgebiete in der DDR aufzuheben und die Sperrzonenzuschläge einzusparen. Wir wollen uns wenigstens innerhalb der DDR frei bewegen können. Unsere Bauern sollen die Sperrgebiete, so groß wie Luxemburg, landwirtschaftlich intensiv nutzen können. Die Minenfelder können vorher von jenen geräumt werden, die den Befehl zum Verminen gegeben haben.

Wir fordern die Abschaffung der Zensur gegenüber der Presse und den Verlagen. Zeitungen und Literatur müssen sich selbst finanzieren. Subventionieren soll man sofort das philosophische Werk des Mitbegründers der KPD, Karl Liebknecht, drucken, was bisher auf Weisung des Sekretariats des ZK nicht geschehen durfte.

Wir fordern die Offenlegung der Parteifinanzen. Die parasitäre Parteibürokratie hat keinen Anspruch auf nur einen Pfennig des Staatshaushaltes.

Wir fordern den Abbau des auf Subversion getrimmten riesigen Diplomaten-Apparates. Leben wir im Zeitalter der Postkutsche oder der Elektronik? Die echten diplomatischen Aufgaben können mit 25 Prozent des jetzigen Personals gelöst werden. Die eingesparten Mittel können zugunsten der Entwicklungsländer verwandt werden.

Wir fordern den Abbau der riesigen, altmodischen und unmodernen Verwaltungsapparate von SVK (Sozialversicherungskasse), DER (Staatliches Reisebüro), DSF usw. Ferner der riesigen Kaderabteilungen in allen Betrieben und Einrichtungen, die genau gesehen nur Filialen der Staatssicherheit sind. Überall lassen sich hier Mittel und Arbeitskräfte freisetzen. Hier muß die Sparsamkeit ansetzen. Genosse Bahro hat das alles detailliert beschrieben.

Wir fordern, nach Konsultation mit unseren Genossen aus den Betrieben, für die DDR-Arbeiter mindestens einen solchen sozialen Status, wie ihn die Arbeiter westlicher Industrieländer haben, vor allem: die 35-Stunden-Woche, die Herabsetzung des Rentenalters um fünf Jahre, um wenigstens RGW-Niveau zu haben, vier Wochen Jahresurlaub, 14 Tage Bildungsurlaub. Die Sechs-Stunden-Arbeitszeit muß im Drei-Schicht-System bei vollem Lohnausgleich praktiziert werden. Für Jugendliche und Arbeiter über 40 Jahre muß die Nachtarbeit verboten werden.

Wir wenden uns gegen die Gewährung von sozialen Verbesserungen, wenn die Erleichterungen für eine Gruppe der Werktätigen zu Lasten der anderen gehen. Bekanntlich darf das Planstellenangebot gegenwärtig nicht verändert werden, das heißt, bestimmte Kollegen müssen die aufgrund partieller Entlastung anfallende Mehrarbeit für andere Arbeitskollegen miterledigen. Wir wenden uns gegen die daraus entstehende Überbelastung, die auch in Betrieben der Reparatur auftritt, weil die Leistung ganzer Brigaden zusätzlich erbracht werden muß, wenn diese zum Beispiel in Ost-Berlin tätig sind.

Wir fordern nachdrücklich die Beseitigung des Verbots, über Fragen der Lebensqualität, besonders über die ökologischen Probleme, öffentlich zu diskutieren. Die Gefahren für die Gesundheit unserer Bürger müssen beim Namen genannt und abgewandt werden. Die Datschisten an den Seeufern sollten enteignet werden. Wir brauchen ruhige Erholungsplätze für überarbeitete Werktätige.

Genossen, propagiert unsere Kritik, popularisiert das Ideengut der Reformkommunisten Europas und Japans, fordert die Veröffentlichung der grundsätzlichen Dokumente der westeuropäischen und japanischen Bruderparteien, entlarvt mit allen Mitteln die widerlichen Praktiken der selbsternannten Parteibürokraten auf Lebenszeit! Zeigt den moralischen Zerfall der SED, beweist, wie widerlich Karrieristen, Zyniker, angepaßte Apparatschiks mit den primitivsten Regeln menschlichen Anstandes unablässig auf Kriegsfuß leben!

Propagiert und organisiert! Die weltweite Tendenz in der internationalen Arbeiterbewegung läuft auf den Verfall der moskowitischen Theorie und Praxis hinaus. Es entwickelt sich ein schöpferischer, undogmatischer, demokratisch-humanistischer Reformkommunismus. Die Zeiten des kommunistischen Feudalsystems weichen einer Renaissance und Aufklärung, die Vertrauen auch wieder bei Deutschlands Arbeitern erreichen kann. Nur so werden wir die Probleme der Zukunft unseres deutschen Volkes verantwortlich mit beeinflussen können.

Berlin, Oktober 1977
BDKD, Zentrale Koordinierungsgruppe

Quelle: Der Spiegel Nr. 1+2, 2./9. Januar 1978 (Erläuterungen der "Spiegel"-Redaktion); das Manifest ist ebenfalls - mit Hintergrundinformationen über seine Entstehung und Rezeption - dok. in: Dominik Geppert, Störmanöver. Das "Manifest der Opposition" und die Schließung des Ost-Berliner "Spiegel"-Büros im Januar 1978. Berlin 1996, S. 161-185.
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