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Rede von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer auf einer CDU-Wahlkampfkundgebung in Lübeck, 12. August 1961

Rede von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer auf einer CDU-Wahlkampfkundgebung in Lübeck, 12. August 1961

(Auszüge)

Meine verehrten Damen und Herren!

Zunächst muß ich Sie um Entschuldigung bitten, daß ich ausgerechnet an einem Samstagnachmittag Sie bitte, hier zu erscheinen. Aber für die Auswahl dieser Stunde bin ich nicht verantwortlich, sondern meine Freunde in Schleswig-Holstein. Aber ich danke Ihnen, daß Sie so zahlreich hier erschienen sind.

Ich bin seit dem Zusammenbruch mehrfach – öfter kann ich sagen – in Lübeck gewesen und jedesmal, wenn ich kam, fand ich es schöner aufgebaut, schöner wiederhergestellt. Und so freue ich mich ganz besonders, daß jetzt auch diese schöne Silhouette Lübecks wieder in ihrer alten Pracht und Eindringlichkeit da steht. (Beifall) Und ich höre weiter zu meiner großen Genugtuung, daß diese Stadt, trotzdem sie durch die Zonengrenze vom natürlichen Hinterland zum Teil abgeschnitten ist, doch starkes wirtschaftliches Leben hat und wächst und blüht, und daß es ihr gelungen ist, einem so großen Prozentsatz Vertriebener hier als Bürger dieser Stadt Brot und Unterkunft zu geben. Ich weiß, welche wirtschaftlichen Sorgen Sie haben, und möchte von vornherein wiederholen, was ich in Kiel gesagt habe: Die Arbeit der Werft und die Arbeit der Schiffsreedereien betrachte ich nicht als eine reine wirtschaftliche Angelegenheit. Jedes Schiff, das auf einer deutschen Werft gebaut ist und in irgendein Land kommt, repräsentiert dort den Wert deutscher Arbeit, und jedes Schiff, das unter unserer Fahne irgendwo auf der Welt landet, zeigt dort auch, daß Deutschland wieder ein starker und kräftiger Staat geworden ist. (Beifall) Und darum werden wir uns bemühen, die Schwierigkeiten, die jetzt in der Arbeit der Werften und in der Aufgabe der Reedereien eingetreten sind, zusammen mit Ihnen zu beheben.

Ich hatte eben, meine Damen und Herren, davon gesprochen, daß Sie durch die Zonengrenze von einem großen Teil Ihres natürlichen Hinterlandes abgeschnitten seien. Aber die Nähe der Zonengrenze, glaube ich, hat Ihr politisches Gefühl besonders wachsam gemacht, weil Sie darum wissen, was dort hinter der Grenze vor sich geht. Auch wir und insbesondere die Bundesrepublik beobachtet voller Sorge, was dort vor sich geht und die Flucht aus der Zone. Ich möchte hier gegenüber den Machthabern in der Zone vor aller Öffentlichkeit nochmals betonen, daß wir nicht irgendwelche Schritte tun, um die Flucht aus der Zone zu fördern. Aber es ist klar – und jeder Deutsche wird so empfinden -, daß wir denen, die von dort zu uns in die Freiheit geflohen sind, helfen, wo wir ihnen helfen können. (Starker Beifall) Aber ich glaube, es ist auch unsere Aufgabe, unseren deutschen Mitbrüdern und unseren deutschen Schwestern jenseits der Zonengrenze zu sagen: Habt keine Panikstimmung. Wir haben diese schwere Trennung, diese schwere Last jetzt schon alle die Jahre getragen. Sie wird eines Tages von uns genommen werden, und eines Tages werden wir wieder ein Land sein, und das deutsche Volk wird wieder auch mit den 16 Millionen jenseits der Grenze, der Zonengrenze, wieder ein Volk werden. (Beifall)

Meine Freunde, ich hatte eben davon gesprochen, keine Panikstimmung aufkommen zu lassen. Und leider haben manche Nachrichten, insbesondere seitens der FDP und auch seitens der SPD, Anlaß gegeben, die Not, in der sich die Deutschen jenseits der Zonengrenze befinden, noch zu vergrößern. Die Nachrichten, die sie gebracht haben, sind frei erfunden, meine Damen und Herren! Ich habe hier eine Verlautbarung der FDP vom 8. August, und sie sagt folgendes: "Die Nachricht, daß US-Außenminister Rusk Herrn von Brentano bereits klargemacht habe, die Kennedy-Regierung werde sich nicht mehr bestimmte Tabus von Bonn auferlegen lassen, wie dies in der Vergangenheit geschehen sei, ist alarmierend. Sie zeigt, wie weit sich Bonn durch seine kurzsichtige Außenpolitik bereits gegenüber der westlichen Führungsmacht isoliert hat." Ich erkläre Ihnen, meine Damen und Herren, an diesen Sätzen, die ich Ihnen vorgelesen habe, ist kein Wort richtig. Alles ganz frei erfunden. Und ich muß solche Nachrichten in einer so ernsten Lage, in der sich das gesamte deutsche Volk und die ganze Welt befindet, mit Empörung und Entrüstung zurückweisen. (Beifall)

Meine Freunde, die SPD hat ähnliche Nachrichten verbreitet. Nun, ich verstehe, daß ein Wahlkampf geführt werden muß mit Waffen des Wortes, meine Damen und Herren! Aber nicht mit erlogenen Nachrichten, die die Welt und die insbesondere die Deutschen jenseits der Zonengrenze ängstigen und alarmieren. Das gehört sich nicht. Das ist ein Schaden für das gesamte deutsche Volk.

Nun, meine Freunde, ich habe vorgestern in Cadenabbia eine zweieinhalbstündige Aussprache gehabt mit dem amerikanischen Außenminister, Herrn Rusk, und ich sage Ihnen, meine Freunde, seit dem Tode von John Foster Dulles habe ich noch mit keinem amerikanischen Außenminister eine so wohltuende und gute Aussprache gehabt wie mit Herrn Rusk. Und was er mir im Auftrage von Präsident Kennedy mitgeteilt hat, war ebenfalls in hohem Maße für uns befriedigend. (Beifall) Ich habe dann vorgestern nachmittag – die Besprechung mit Herrn Rusk war vorgestern vormittag – vorgestern nachmittag auf dem Flugplatz Malepensa bei Mailand eine anderthalbstündige Aussprache gehabt mit dem italienischen Ministerpräsidenten Fanfani und dem italienischen Außenminister Segni. Sie wissen, daß die beiden Herren vor zehn Tagen einige Tage in Moskau gewesen sind und alles, was sie mir gesagt haben über Sowjetrußland, über Chruschtschow , das stimmt genau mit dem überein, was mir Herr Rusk gesagt hat. Herr Rusk hat mir auch einen ausführlichen Bericht gegeben über die Tagung des NATO-Rats am Dienstag dieser Woche, in dem er ausführlich berichtet hat. Ich versichere Ihnen, daß auch diese Sitzung des NATO-Rats nach der Erklärung von Herrn Rusk in größter Einmütigkeit und Übereinstimmung verlaufen ist, so daß man wohl sagen kann, die ganzen freien Mächte des Westens sind so einig und sind so geschlossen, wie sie nur jemals gewesen sind. Und, meine Damen und Herren, das ist ja in den schwierigen Zeiten, in denen wir leben, das Wichtigste, daß gegenüber Sowjetrußland alle freien Völker des Westens, die im NATO-Pakt verbunden sind, einig und geschlossen sind, und jeder, der verbreitet falsche Nachrichten über Uneinigkeit und mangelnde Geschlossenheit, der handelt gegen die Interessen unseres Vaterlandes. (Beifall)

Ich habe gestern, meine Damen und Herren, in Kiel gesagt, daß Verhandlungen über die Berlin-Frage kommen werden, und ich habe gesagt, wann sie kommen würden, das lasse sich jetzt noch nicht überschauen. Aber es werden die Verhandlungen kommen. Heute vormittag lese ich in der "Welt", daß es ein Telegramm aus Washington gibt, wonach Rusk ebenfalls drüben erklärt hat, es wird zu Verhandlungen über Berlin kommen, wenn auch ein Termin noch ungewiß ist. Also Herr Rusk hat ungefähr dieselben Worte sogar gebraucht, wie ich sie gestern in Kiel gebraucht habe. Und ich bitte Sie, meine Damen und Herren, dem deutschen Bundeskanzler und auch dem deutschen Außenminister zu glauben, ebenso wie Sie auch dem glauben werden, was Rusk über die ganze Lage der Welt gesagt hat.

Meine Freunde, die Verhandlungen werden kommen, und für diese Verhandlungen muß man sich rüsten, meine Damen und Herren. Und ich halte es deshalb für sehr richtig, daß die im Nordatlantikpakt vereinten Nationen bei einer solch krisenhaften Zuspitzung der Lage ihre militärischen Rüstungen vervollständigen. Das bedeutet noch lange nicht Krieg, meine Freunde. Im Gegenteil, das bedeutet Anfang verständiger Verhandlungen. Wer etwas die russische Geschichte kennt, auch die Geschichte Rußlands nach dem letzten Kriege seit 45, der wird darin lesen können, daß Sowjetrußland mit keinem Lande verhandelt, das schwach ist, daß es dann über das Land hinweggeht, daß es aber verhandelt mit einem Gegner, der stark ist. Und das wollen wir sein und wollen unsere (Beifall) –

Und meine Freunde, wir wollen unsere Rüstungen stärken, damit wir – jetzt meine ich die Nordatlantikpaktstaaten – damit gegenüber Sowjetrußland verhandlungsfähig bleiben. Meine Freunde, es kann keine Rede davon sein, daß wir Reservisten jetzt einziehen würden. Es kann auch keine Rede davon sein, daß wir irgendwelche plötzlichen Entscheidungen träfen. Sie können darüber beruhigt sein. Was geschieht, geschieht in Ruhe und geschieht in voller Überlegung der ganzen Verhältnisse. Und das deutsche Volk kann zu uns das Vertrauen haben, daß wir keine übereilten Schritte irgendwie zulassen werden und irgendwie tun.

Meine Damen und Herren, auch Chruschtschow will ja letzten Endes Verhandlungen. Er hat ja noch auf seiner letzten Rede gesagt, auch er – das ist auch meine Meinung, meine Damen und Herren, - will keinen Krieg haben, wenn er weiß, daß in einem solchen Krieg es weder einen Sieger noch einen Besiegten gibt, sondern nur namenloses Unheil auf der ganzen Welt.

Nun, meine Freunde, ich habe eben davon gesprochen, daß die NATO ihre militärischen Kräfte verstärken müsse und vielleicht schneller auch verstärken müsse, als es bisher vorgesehen war. Aber es sind nicht nur militärische Waffen, die in diesen Auseinandersetzungen entscheiden werden, meine Damen und Herren. Es gibt auch wirtschaftliche Waffen. Sowjetrußland hat in einzelnen Zweigen seiner Wirtschaft, namentlich was militärtechnische Fragen angeht, außerordentlich große Fortschritte gemacht. Aber die russische Wirtschaft im ganzen gesehen, meine Damen und Herren, ist noch ganz außerordentlich rückständig. Wenn Sowjetrußland nicht rückständig wäre in weiten Teilen seiner Wirtschaft, dann würde es dafür sorgen, daß in der Zone nicht jetzt seit Monaten Lebensmittel überhaupt fehlen oder nur noch auf Karten und zwar in sehr geringen Mengen ausgegeben werden. Wenn Sie einmal durch den Ostsektor von Berlin gehen können, bitte, tun Sie es. Betrachten Sie den himmelweiten Unterschied, der zwischen dem Ostsektor besteht und zwischen dem Westsektor. Ein Unterschied so kraß, daß ein Botschafter eines Landes, das sich zu den neutralen Ländern rechnet, mir neulich sagte: Ist das wirklich so - er war in Ostberlin und in Westberlin gewesen - , daß nur die Regierungsform, die dort von der SED ausgeübte Regierung, die Tyrannei, daß die es nicht fertigbringt, auch Ostberlin in die Höhe zu bringen. Nun, meine Damen und Herren, im Ostsektor von Berlin und jenseits der Zonengrenze wohnen Deutsche, die genau so gut veranlagt und arbeitsam und fleißig sind, wie wir es sind in der Bundesrepublik. (Beifall) Und wenn sie es nicht fertigbekommen, das Volk durch ihrer Hände Arbeit zu ernähren und zu kleiden, meine Damen und Herren, und ihnen Wohnungen zu schaffen, dann liegt es eben an dem kommunistischen Regime in der Zone. In der Zone, meine Freunde, ist ein Regime, wie es selbst in weiten Teilen Sowjetrußlands nicht mehr von der Bevölkerung ertragen wird. (Beifall) Und ich würde Herrn Chruschtschow, wenn ich ihm zu raten hätte, dringend anraten, doch mal da bei Ulbricht und Genossen nach dem Rechten zu sehen, daß die ihre Leute menschenwürdiger behandeln. (Beifall)

Ich habe eben gesagt, meine Freunde, daß die sowjetrussische Wirtschaft namentlich in militärtechnischen Fragen große Fortschritte gemacht hat, aber daß die Wirtschaft aufs Ganze gesehen nicht in Ordnung ist. Und ich habe gesagt, wenn Sowjetrußland das könnte, dann würde es ganz sicher dafür sorgen, daß in der Zone, die doch eine Art Schaufenster des östlichen Kommunismus geworden ist, andere Verhältnisse einträten. Es kann es nicht.

(...)

Rußland, meine Damen und Herren, baut auf, seine Wirtschaft. Ich habe gar nichts dagegen. Im Gegenteil, meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, je zufriedener die Russen werden, desto weniger aggressiv sind sie. Also ich könnte mich nur freuen, wenn die Wirtschaft Rußlands schnell emporblühte. Aber, meine Damen und Herren, wir haben nicht nur militärische Maßnahmen nötig, sondern auch wirtschaftliche Maßnahmen. Wenn die NATO-Länder ihre Lieferungen an Sowjetrußland einstellen würden, dann würde der wirtschaftliche Aufbau Sowjetrußlands nicht unmöglich gemacht werden, aber sehr viel schwieriger werden und würde noch mehr als 20 Jahre brauchen, meine Freunde. Und es ist sehr zu überlegen – und ich glaube, diese Überlegungen werden gepflogen – ob, wenn sich bei den Verhandlungen, die in wenigen Monaten kommen werden, herausstellt, daß Sowjetrußland gegen alles Recht an Berlin handeln will, meine Damen und Herren, schlecht handeln will, ob dann nicht solche wirtschaftlichen Sanktionen gegen Rußland verhängt werden müßten. Ich könnte mir vorstellen, (Beifall) ich bin überzeugt davon, meine Damen und Herren, daß, wenn von allen NATO-Staaten ein Embargo verhängt wird über den ganzen Ostblock, daß das für den ganzen Ostblock eine sehr unangenehme Sache sein würde. (Beifall)

Und sehen Sie, solche wirtschaftlichen Maßnahmen anzuwenden, ist im entferntesten nicht so entsetzlich und so schlimm wie ein Krieg. Daher bin ich dafür, ehe man zu militärischen Maßnahmen in Erwiderung auf einen russischen Angriff schreiten muß, soll man vorher Sowjetrußland zeigen, welche wirtschaftliche Kraft in den NATO-Staaten zusammengefaßt ist, die es zu seinem wirtschaftlichen Aufbau braucht. Dann wird höchstwahrscheinlich Herr Chruschtschow eine andere Sprache reden. (Beifall)

Nun, meine Damen und Herren, ich glaube, es war gut, daß das mal in aller Öffentlichkeit auch gegenüber Sowjetrußland und gegenüber dem ganzen Ostblock ausgesprochen wird, daß die NATO-Staaten andere Maßnahmen haben als militärische Maßnahmen, sehr unangenehme wirtschaftliche Maßnahmen. Und wenn infolgedessen vielleicht auch Angehörige der NATO-Staaten , auch von Deutschland, die jetzt Lieferungen nach Rußland machen, weniger verdienen, das ist noch lange nicht so schlimm, als wenn militärische Maßnahmen von Rußland gegen uns ergriffen werden. Das muß man dann eben in Kauf nehmen in der Hoffnung, daß Sowjetrußland daraus lernen wird.

(...)

Quelle: Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus
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