Offener Brief von Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre an die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes, 16. August 1961
Offener Brief von Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass an die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes, 16. August 1961An die Mitglieder
des Deutschen Schriftstellerverbandes
Berlin W 8
Ohne Auftrag und Aussicht auf Erfolg dieses offenen Briefes bitten die Unterzeichneten hiermit alle Schriftstellen in der DDR, die Tragweite der plötzlichen militärischen Aktion vom 13. August zu bedenken. Es komme später keiner und sage, er sei immer gegen die gewaltsame Schließung der Grenzen gewesen, aber man habe ihn nicht zu Wort kommen lassen. Wer den Beruf des Schriftstellers wählt, muß zu Wort kommen, und sei es nur durch ein lautes Verkünden, er werde am Sprechen gehindert.
Viele Bürger Ihres Staates halten die DDR nicht mehr für bewohnbar, haben Ihren Staat verlassen und wollen Ihren Staat verlassen. Diese Massenflucht, die von Ihrer Regierung ohne jeden Beweis „Menschenhandel" genannt wird, kann und darf die Aktion vom 13. August weder erklären noch entschuldigen. Stacheldraht, Maschinenpistole und Panzer sind nicht die Mittel, den Bürgern Ihres Staates die Zustände in der DDR erträglich zu machen. Nur ein Staat, der der Zustimmung seiner Bürger nicht mehr sicher ist, versucht sich auf diese Weise zu retten.
Wenn westdeutsche Schriftsteller sich die Aufgabe stellen, gegen das Verbleiben eines Hans Globke in Amt und Würden zu schreiben; wenn westdeutsche Schriftsteller das geplante Notstandsgesetz des Innenministers Gerhard Schröder ein undemokratisches Gesetz nennen; wenn westdeutsche Schriftsteller vor einem autoritären Klerikalismus in der Bundesrepublik warnen, dann haben Sie genauso die Pflicht, das Unrecht vom 13. August beim Namen zu nennen.
Wir fordern Sie auf, unseren offenen Brief offen zu beantworten, indem Sie entweder die Maßnahmen Ihrer Regierung gutheißen oder den Rechtsbruch verurteilen. Es gibt keine „Innere Emigration", auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben. Wer schweigt, wird schuldig.
Dieser offene Brief wird dem Deutschen Schriftstellerverband und der Deutschen Akademie der Künste überreicht werden. Je ein Durchschlag wird den folgenden Zeitungen mit der Bitte um ungekürzte Veröffentlichung geschickt werden: Neues Deutschland, Sonntag, Tagesspiegel, Welt, Süddeutsche Zeitung.
Als Ehrenmitglieder und Mitglieder des Vorstands im Deutschen Schriftstellerverband nennen wir Anna Seghers, Arnold Zweig, Erwin Strittmatter, Ludwig Renn, Ehm Welk, Bruno Apitz, Willi Bredel, Franz Fürmann, Peter Hacks, Stephan Hermlin, Wolfgang Kohlhaase, Peter Huchel, Paul Wiens.
Wir erwarten Ihre Antwort.
Wolfdietrich Schnurre
Günter Grass
Quelle: Hans Werner Richter (Hg.), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek 1961, S. 65/66