Offener Brief von Günter Grass an Anna Seghers, 14. August 1961
Offener Brief von Günter Grass an Anna Seghers, 14. August 1961Berlin, am 14. August 1961
An die Vorsitzende
des Deutschen Schriftstellerverbandes in der DDR
Verehrte Frau Anna Seghers,
als mich gestern eine der uns deutschen so vertrauten und geläufigen plötzlichen Aktionen mit Panzernebengeräuschen, Rundfunkkommentaren und obligater Beethoven-Symphonie wach werden ließ, als ich nicht glauben wollte, was ein Radiogerät mir zum Frühstück servierte, fuhr ich zum Bahnhof Friedrichstraße, ging zum Brandenburger Tor und sah mich den unverkennbaren Attributen der nackten und dennoch nach Schweinsleder stinkenden Gewalt gegenüber. Ich habe, sobald ich mich in Gefahr befinde - oftmals überängstlich, wie alle gebrannten Kinder - die Neigung, um Hilfe zu schreien. Ich kramte im Kopf und im Herzen nach Namen, nach hilfeverheißenden Namen; und Ihr Name, verehrte Frau Anna Seghers, wurde mir zum Strohhalm, den zu fassen ich nicht ablassen will.
Sie waren es, die meine Generation oder jeden, der ein Ohr hatte, nach jenem nicht zu vergessenden Krieg unterrichtete, Recht und Unrecht zu unterscheiden; Ihr Buch, Das siebte Kreuz, hat mich geformt, hat meinen Blick geschärft und läßt mich heute die Globke und Schröder in jeder Verkleidung erkennen, sie mögen Humanisten, Christen oder Aktivisten heißen. Die Angst Ihres Georg Heisler hat sich mir unverkäuflich mitgeteilt; nur heißt der Kommandant des Konzentrationslagers heute nicht mehr Fahrenberg, er heißt Walter Ulbricht und steht Ihrem Staat vor. Ich bin nicht Klaus Mann, und Ihr Geist ist dem Geist des Faschisten Gottfried Benn gegengesetzt, trotzdem berufe ich mich mit der Anmaßung meiner Generation auf jenen Brief, den Klaus Mann am 9. Mai 1933 an Gottfried Benn richtete. Für Sie und für mich mache ich aus dem 9. Mai der beiden toten Männer einen lebendigen 14. August 1961: Es darf nicht sein, daß Sie, die Sie bis heute vielen Menschen der Begriff aller Auflehnung gegen die Gewalt sind, dem Irrationalismus eines Gottfried Benn verfallen und die Gewalttätigkeit einer Diktatur verkennen, die sich mit Ihrem Traum vom Sozialismus und Kommunismus, den ich nicht träume, aber wie jeden Traum respektiere, notdürftig und dennoch geschickt verkleidet hat.
Vertrösten Sie mich nicht auf die Zukunft, die, wie Sie als Schriftstellerin wissen, in der Vergangenheit stündlich Auferstehung feiert; bleiben wir beim Heute, beim 14. August 1961. Heute stehen Alpträume als Panzer an der Leipziger Straße, bedrücken jeden Schlaf und bedrohen Bürger, indem sie Bürger schützen wollen. Heute ist es gefährlich, in Ihrem Staat zu leben, ist es unmöglich, Ihren Staat zu verlassen. Heute - und Sie deuten mit Recht auf ihn - bastelt ein Innenminister Schröder an seinem Lieblingsspielzeug: am Notstandsgesetz. Heute - Der Spiegel unterrichtete uns - trifft man in Deggendorf, Niederbayern, Vorbereitungen zu katholisch-antisemitischen Feiertagen. Dieses Heute will ich zu unserem Tag machen: Sie mögen als schwache und starke Frau Ihre Stimme beladen und gegen die Panzer, gegen den gleichen, immer wieder in Deutschland hergestellten Stacheldraht anreden, der einst den Konzentrationslagern Stacheldrahtsicherheit gab; ich aber will nicht müde werden, in Richtung Westen zu sprechen: nach Deggendorf in Niederbayern will ich ziehen und in eine Kirche spucken, die den gemalten Antisemitismus zur Altar erhoben hat.
Dieser Brief, verehrte Frau Anna Seghers, muß ein „offener Brief" sein. Das Brieforiginal schicke ich Ihnen über den Schriftstellerverband in Ostberlin. Mit der Bitte um Veröffentlichung schicke ich einen Durchschlag an die Tageszeitung Neues Deutschland, einen zweiten Durchschlag an die Wochenzeitung Die Zeit.
Hilfesuchend grüßt Sie
Günter Grass
Quelle: Hans Werner Richter (Hg.), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek 1961, S. 62-64