Brief von Walter Ulbricht an Nikita S. Chruschtschow, Juni 1961
Brief von Walter Ulbricht an Nikita S. Chruschtschow, Juni 1961Genossen N. S. Chruschtschow
Teurer Genosse Nikita Sergejewitsch!
Durch den Außerordentlichen Bevollmächtigten Botschafter der Sowjetunion in der Deutschen Demokratischen Republik, Genossen Perwuchin, habe ich Ihnen bereits mitteilen lassen, daß wir mit dem Memorandum der Sowjetregierung, das Sie an Präsident Kennedy übergeben haben, völlig einverstanden sind. In einer gemeinsamen Sitzung des ZK der SED, des Staatsrates, des Ministerrates und des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, wurde ein entsprechender Beschluß angenommen.
Inzwischen erhielt ich von Ihnen das Informationsmaterial über Ihr Gespräch mit in Wien mit Präsident Kennedy. Sie haben in ausgezeichneter Weise nicht nur den Standpunkt der KPdSU und der Sowjetregierung, sondern auch der Staaten des sozialistischen Lagers auf der Grundlage der gemeinsamen Erklärung der kommunistischen und Arbeiterparteien vertreten. Das war eine große politische Leistung, die dem Zweck diente, eine Lösung der herangereiften Streitfragen auf dem Wege der Verhandlungen auf friedliche Weise zu erreichen. Wir danken Ihnen herzlichst für Ihre Initiative in der Sache des Friedensvertrages.
Seitdem den Westmächten aus Ihren Gesprächen mit dem westdeutschen Botschafter Kroll und Herrn Lippmann klar geworden ist, daß der Abschluß eines Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten auf der Tagesordnung steht und nicht mehr hinausgeschoben werden kann, hat eine verstärkte Revanchehetze der Bonner Regierung eingesetzt. Der Bonner Wirtschaftsminister Ehrhard (sic!) hat für den Fall des Abschlusses eines Friedensvertrages mit der Außerkraftsetzung des Handelsvertrages mit der DDR gedroht. Die DDR sei dann ein ausländischer Staat, der seine in Westdeutschland getätigten Käufe in Devisen zahlen müsse.
In den neutralen Ländern verstärkt die Bonner Regierung den Druck auf die Regierungen, um die Rechte unserer Konsulate und Handelsvertretungen einzuschränken. Zuletzt versuchte sie sogar die Teilnahme des Deutschen Turn- und Sportbundes an den Olympischen Spielen zu verhindern. Adenauer erklärt kategorisch, daß die Bundesrepublik der deutsche Staat sei und aus diesem Grunde keine sportlichen Wettkämpfe der Mannschaften der DDR stattfinden dürfen, bei denen die Staatsflagge oder das Wappen der DDR gezeigt werden.
Es ist also notwendig, durch die gemeinsamen Anstrengungen aller sozialistischen Länder den deutschen Revanchismus und Militarismus noch mehr zu diskreditieren, den Sinn des Friedensvertrages in den westlichen Ländern noch mehr zu erklären und gleichzeitig in den Ländern der Warschauer Vertragsstaaten den Abschluß eines Friedensvertrages gründlich vorzubereiten.
Genosse Perwuchin teilte hier mit, daß Sie es für nützlich halten, wenn möglichst bald eine Beratung der Ersten Sekretäre der kommunistischen und Arbeiterparteien der Länder des Warschauer Vertrages stattfinden würde. Das ZK der SED wird sich deshalb an die Ersten Sekretäre der PZPR, der KP der CSSR, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, der Rumänischen Arbeiterparteien, der Kommunistischen Partei Bulgariens (durchgestrichen: und der Albanischen Partei der Arbeit) wenden mit dem Vorschlag, am 20. und 21. Juli 1961 in Moskau eine Beratung über die Vorbereitung des Friedensvertrages durchzuführen. Zweck der Zusammenkunft sollte sein die Verständigung über die politischen, diplomatischen, ökonomischen und organisatorischen Vorbereitungsmaßnahmen und Maßnahmen zur Koordinierung der Rundfunk- und Presseagitation.
Wir werden die Ersten Sekretäre bitten, ihre Meinung zu diesem Vorschlag Ihnen mitzuteilen. Im Falle, daß von einigen Genossen ein anderer Termin gewünscht wird, müßte eine entsprechende Verständigung erfolgen.
In der Anlage übermittle ich Ihnen ein Material „Über die Schaffung von Ämtern der Arbeit und Berufsberatung" und ein Material „Über Maßnahmen gegen die Grenzgänger". Was die Schaffung von Ämtern für Arbeit betrifft, so sind sie in der ganzen Republik einschließlich der Hauptstadt notwendig, da ein Wachsen des Arbeitskräftemangels besteht und auch Berufsberatung und Arbeitsvermittlung für Jugendliche nicht geregelt ist. Früher gab es in Deutschland Arbeitsämter, von denen wir den größten Teil abgebaut haben. Jetzt sind wir aber in einer Lage, daß wir die Arbeitsämter wieder schaffen müssen. Da das eine wichtige politische Frage ist, bitten wir um Ihre Meinung.
Das Politbüro hat sich eingehend mit der Grenzgängerfrage in Westberlin beschäftigt. Da das eine wichtige politische Frage ist, die mit dem Friedenvertrag und der Lösung der Westberlinfrage zusammenhängt, unterbreiten wir Ihnen unsere Erwägungen. Ich mache darauf aufmerksam, daß dieser Entwurf streng vertraulich behandelt wurde und auch nicht in unserem zentralen Parteiapparat vorhanden ist. Es geht darum, daß eine wachsende Zahl von Bürgern der Hauptstadt der DDR in Westberlin arbeiten. Allein durch den Währungskurs erhöhen sie ihr Einkommen auf das Drei- bis Vierfache, sobald sie in Westberlin arbeiten. Da nicht damit zu rechnen ist, daß im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Friedensvertrages eine Verständigung zwischen dem Westberliner Senat und der Regierung der DDR über den Wechselkurs zustande kommt, sind ökonomische Maßnahmen notwendig, um die Hauptstadt der DDR vor noch größeren Verlusten und Zersetzungen zu schützen. Es steht also die Frage: Erstens: Welch ökonomische Maßnahmen sind die zweckmäßigsten, und zweitens: Welches ist der günstigste Zeitpunkt.
Wenn es politisch notwendig ist, müssen wir die Sache bis nach Abschluß des Friedensvertrages hinausschieben, aber das schafft uns im nächsten halben Jahr große Schwierigkeiten. Wir bitten Sie um Ihre Meinung in dieser Frage.
In den nächsten Tagen wird das Politbüro unserer Partei den Entwurf unseres Vorschlages an die Bonner Regierung über gemeinsame Verhandlungen und den Entwurf eines Appells der Volkskammer an die westdeutsche Bevölkerung ausarbeiten. Das ZK unserer Partei nimmt am 3. und 4. Juli 1961 zum Friedensvertrag Stellung und die Volkskammer tagt am 6. Juli 1961.
Wir danken dem Präsidium des ZK der KPdSU und Ihnen, lieber Freund, herzlich für die großen Anstrengungen, die Sie für die Herbeiführung eines Friedensvertrages und die Lösung der Westberlinfrage unternehmen.
(ohne Unterschrift)
Anlagen
Quelle: SAPMO-BA, DY 30/3508