Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 -1995
(Auszug)Der demokratische Aufbruch kulminierte in der Einrichtung des Runden Tisches, der die Reformdiskussionen außerhalb der unglaubwürdigen Instanzen institutionalisierten sollte. Nach der Maueröffnung sorgten sich loyale Kritiker des Systems wie Christa Wolf um das Ausbluten der DDR und mahnten daher energischere Reformen an. Runde Tische waren ein Ausdruck des gesellschaftlichen Patts, in dem die SED und ihre Massenorganisationen bis zu den Betriebskampfgruppen alle Machtmittel kontrollierte, die in rivalisierende Organisationen und neue Parteien zersplitterte Opposition aber die Glaubwürdigkeit und dadurch auch die Unterstützung der Bevölkerung besaß. Unter der Vermittlung der Kirchen bot der zentrale Runde Tisch einen neutralen Ort, an dem sich die diversen Initiativen wie Neues Forum und SDP mit der Regierung, den Massenorganisationen und den Blockparteien treffen konnten, um die Zukunft des Landes zu diskutieren. Dahinter stand ein Grundkonsens, der beide Seiten zu Kompromissen beflügelte: "Es ist die demokratisch-sozialistische Idee einer reformierbaren DDR." Die auf allen Ebenen aus dem Boden schießenden Runden Tische waren ein Versuch der Institutionalisierung der Zivilgesellschaft, weil ihre Vertreter dadurch den sozialen Reformprozess mitbestimmen konnten.
Entscheidend war jedoch die halb gewollte, halb erzwungene Maueröffnung am 9. November, die eine spontane Vereinigung von unten in dem geteilten Berlin ermöglichte: "Die Deutschen feiern ihr Wiedersehen." Die Bonner Politik unterstützte diesen demokratischen Aufbruch mit weiteren Reformappellen, Kontakten mit den neu entstandenen Oppositionsgruppen und Forderungen nach "freien Wahlen in der DDR" als Bedingung für eine "ganz neue Dimension wirtschaftlichen Beistands". Zwar hielt die SED daran fest, dass die Wiedervereinigung "nicht auf der Tagesordnung" stehe, und Oppositionelle riefen zu Aktionen "wider die Vereinigung" auf. Aber in internationalen Kommentaren hob "die schlafende Löwin der Einheit" ihr Haupt, und die westdeutsche Bevölkerung hielt die Wiedergewinnung staatlicher Einheit nicht nur für wünschbar, sondern plötzlich auch für machbar.
Quelle: Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 -1995, Bonn 2004.