Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen II
(Auszug)2. Demokratie und Diktatur: 1945 – 1961: Der Bau der Mauer als gesamtdeutsche Zäsur, S. 204f
In einer offiziellen Erklärung vom 13. August 1961 nannte der Ministerrat der DDR die Schließung der Grenze eine Antwort auf die „Verschärfung der Revanchepolitik" Westdeutschlands und die „systematische Abwerbung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik", ja „regelrechten Menschenhandel". Tatsächlich war der Bau der Mauer der Offenbarungseid eines Systems, das auf Zwang beruhte und seinen Zusammenbruch nur dadurch abwenden konnte, dass es seine Bewohner gewaltsam am Verlassen des Staatsgebiets hinderte. Es war nicht nur das System der DDR, das in dieser ultima ratio seine Zuflucht suchte. Es war das System des „Sozialismus" sowjetischer Prägung, das sich vor aller Welt bloßstellte, als die Staaten des Warschauer Pakts am 13. August 1961 die Maßnahmen der DDR rechtfertigen. Doch als Weltmacht hatte die Sowjetunion eine andere Wahl: Sie konnte dem Zusammenbruch ihres deutschen Vorpostens nicht tatenlos zusehen, ohne ihr europäisches Vorfeld insgesamt preiszugeben.
[...]
Für die Deutschen war der 13. August 1961 die tiefste Zäsur seit der doppelten Staatsgründung von 1949, wenn nicht seit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945. Von Anfang an waren die Deutschen, die auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR lebten, verglichen mit den Deutschen im Westen die eigentlichen Kriegsverlierer gewesen. Aber erst seit sie die DDR nicht mehr verlassen durften, wurde ihre Unfreiheit zu einem Schicksal, dem sie nicht mehr entrinnen konnten.
5. Einheit in Freiheit: 1989/90: Die ‚nationaldemokratische Revolution' und Kohls ‚Zehn Punkte', S. 512f, S. 517
Die Öffnung der Grenzen war die Kapitulation der SED. Das fühlten die Ost-Berliner, die am Abend des 9. November zu den Grenzübergängen nach West-Berlin strömten. Die Angehörigen der Grenztruppen wurden durch den Ansturm förmlich überrumpelt. Nachdem anfänglich Versuche, die Menschen zurückzudrängen, gescheitert waren, erteilte die zuständige Hauptabteilung VI des Ministeriums für Staatssicherheit der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße gegen 21 Uhr telefonisch die Weisung, die Personalausweise der Personen, die die Grenze nach West-Berlin passierten, mit einem Stempel zu versehen. Das bedeutete soviel wie „Ausbürgerung", blieb aber folgenlos, weil auch hier der Wille der Bürger sich durchsetze: Sie wollten in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht „ausreisen", sondern nur West-Berlin und die Bundesrepublik besuchen und dann nach Ost-Berlin und in die DDR zurückkehren.
Im Verlauf des Abends hörte das Stempeln auf. Unkontrolliert überquerten Tausende die Grenze der geteilten Stadt: von Ost nach West, aber auch von West nach Ost. Die Menschen aus dem Osten empfanden als „Wahnsinn", was am 13. August 1961 aufgehört hatte, normal zu sein. Sie fühlten sich schlagartig befreit von jahrzehntelanger Unterdrückung. Im Westen Deutschland und Berlins freuten sich die Menschen mit ihren Landsleuten aus dem Osten, mit denen sie trotz der staatlichen Trennung so vieles verband. Berlin wurde in der Nacht vom 9. zum 10. November wieder eine Stadt. Der Jubel über die Öffnung der Mauer war gesamtdeutsch, ja er übersprang sogleich die deutschen Grenzen. Mit den Deutschen freuten sich die Freunde der Freiheit in aller Welt.
[...]
Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 war für die DDR das, was der Sturm auf die Pariser Bastille am 14. Juli 1789 für das französische Ancien régime gewesen war: der Schlag, von dem sich die bisherige Ordnung nicht mehr erholen konnte. Die Mauer war nicht minder als die Bastille ein Symbol der Unfreiheit. Als das Symbol fiel, war das Ende der alten Herrschaft gekommen. Die „friedliche Revolution" in der DDR hatte das Ziel erreicht, über das alle vorwärtsdrängenden Kräfte einige waren. Dass sie sich über die weiteren Ziele weniger verständigen können, war zu vermuten.
Quelle: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933 -1990, Bonn 2004.