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Kleßmann, Christoph: Aufbau eines sozialistischen Staates

(Auszug)

Mauerbau 1961


Informationen zur politischen Bildung (Heft 256): Deutschland in den 50er Jahren
In der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 marschierten entlang der innerstädtischen Demarkationslinie Volkspolizei, Nationale Volksarmee und Betriebskampfgruppen auf und riegelten die Grenze zunächst durch Stacheldraht ab, der bald darauf durch eine Mauer aus Hohlblocksteinen und Betonpfählen ersetzt wurde. Eine lange vorbereitete, komplizierte Aktion wurde technisch präzise innerhalb weniger Tage realisiert. Die Tatsache, dass zunächst ein Stacheldrahtzaun gezogen wurde, lässt darauf schließen, dass sich die Initiatoren des Risikos durchaus bewusst waren. Die Reaktion des Westens auf die Verletzung des Viermächtestatus Gesamtberlins ließ sich noch nicht genau kalkulieren. Die westliche Antwort fiel jedoch überraschend zurückhaltend aus. Es dauerte zwei Tage, bis sich auf heftige Vorwürfe des Berliner Regierenden Bürgermeisters, Willy Brandt, die westlichen Stadtkommandanten überhaupt zu einem Protest bewegen ließen. Umso größer war die Erbitterung der Berlinerinnen und Berliner.

Um die Erregung der Bevölkerung zu besänftigen und wenigstens eine symbolische Geste der Verteidigungsbereitschaft zu zeigen, kam am 17. August General Lucius D. Clay, der legendäre Vater der Luftbrücke von 1948, zusammen mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson in die deutsche Hauptstadt und sicherte den Westberlinern die Unterstützung der USA zu. Eine geringfügige Verstärkung der amerikanischen Garnison in Berlin sollte diese politische Geste unterstreichen. Intern machte jedoch der amerikanische Präsident deutlich, dass es sich um eine grundlegende „sowjetische Entscheidung” handelte, „die nur ein Krieg rückgängig machen könnte”.

Die Mauer blieb und wurde ebenso wie die gesamte innerdeutsche Grenze durch Kontrollstreifen, Hundelaufanlagen und Selbstschussgeräte perfektioniert. Das letzte Schlupfloch war versperrt, Deutschland brutal und offenbar definitiv geteilt. Nach den Memoiren des westdeutschen Botschafters in Moskau, Hans Kroll, hat Chruschtschow dem Mauerbau zugestimmt, um den ökonomischen Zusammenbruch der DDR zu verhindern, auch wenn ihm bewusst war, dass die Mauer eine „hässliche Sache” sei, die eines Tages wieder verschwinden müsse, wenn die Gründe ihrer Errichtung entfielen.

Sie entfielen bekanntlich nicht. Die Gründe lagen sowohl in dem enormen Wohlstandsgefälle zwischen Bundesrepublik und DDR als auch in der fehlenden politischen Legitimation des SED-Regimes und in der blinden Entschlossenheit, die forcierte sozialistische Umgestaltung des zweiten deutschen Staates fortzusetzen. Die Existenz der DDR war damit an die Mauer gebunden, die von der Sowjetunion und vom Warschauer Pakt politisch abgesegnet worden war. Erst als diese Rückendeckung 1989 überraschend entfiel, konnte auch die Mauer fallen.

Insgesamt sind nach Ermittlungen der westdeutschen „Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter” von 1949 bis 1989 bei Fluchtversuchen aus der DDR 899 Menschen getötet worden. 255 starben an der Grenze um West-Berlin, 371 an der innerdeutschen Grenze und 189 in der Ostsee, die übrigen an den DDR-Grenzen zum Ausland.

Aus der Rückschau lassen sich die Langzeitwirkungen des Mauerbaus deutlicher erkennen. Einerseits begann nun ein Stabilisierungs- und Modernisierungsprozess. Im Inneren gab es auf der Basis der - im wörtlichen Sinne - Ausweglosigkeit neue Formen des Arrangements zwischen Regime und Bevölkerung. Andererseits bildete die vollständige Abgrenzung die Voraussetzung für die Weiterführung eines sozialistischen Experiments, das ohne tiefgreifende Reformen auf die Dauer nicht lebensfähig war. Die groteske offizielle Bezeichnung der Mauer als „antifaschistischer Schutzwall” hat dieses Problem propagandistisch zuzudecken versucht.

In der DDR stellte sich nach anfänglicher großer Verbitterung ein allmählicher Prozess der Gewöhnung an das Unvermeidliche ein. Ein verstärkter Rückzug ins Private war die Folge, den auch die SED in Grenzen akzeptierte. Die deprimierende Grunderfahrung des „Eingeschlossenseins” entwickelte aber auf lange Sicht auch bequeme Seiten. Der „vormundschaftliche Staat” (Rolf Henrich) setzte zwar enge Grenzen und reduzierte radikal die Bewegungsfreiheit, er schuf aber gleichzeitig unter der Bedingung politischer Anpassung ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit.

Quelle: Informationen zur politischen Bildung (Heft 256): Deutschland in den 50er Jahren, Bonn 1997.

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