Wolle, Stefan: Aufbruch in die Stagnation
Die DDR in den Sechzigerjahren
(Auszug)Kapitel 1: Der geteilte Himmel
13. August 1961
Kurz nach 1 Uhr morgens gingen am Brandenburger Tor die Lichter aus. Einheiten der Kampfgruppen und der Grenzpolizei zogen auf und bildeten Sperrketten. Am Brandenburger Tor nahmen Panzerspähwagen mit aufmontierten Maschinengewehren Aufstellung. Bautrupps rollten Stacheldraht aus und rissen an verschiedenen Stellen der Stadt das Straßenpflaster aus, um mit dem bau von Sperranlagen zu beginnen.
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Das gesamte Stadtgebiet war weiträumig gesichert. Als der graue regnerische Morgen des 13. August über Berlin dämmerte, war die Stadt geteilt. Im DDR-Rundfunk verkündete ein Sprecher immer wieder dieselbe Erklärung der Regierung der DDR. Darin wurde der Westen für die Maßnahmen verantwortlich gemacht: Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.
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Die Menschen waren wie gelähmt. Die Empörung über den Gewaltakt war sehr groß, ebenso groß waren allerdings auch Angst und Resignation. Viele Berlinerinnen und Berliner glaubten zunächst nicht an die Dauer der Sperrmaßnahmen.
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Die Stadt wie eine Riesentorte einfach zu zerschneiden, schien vielen Berlinern schon aus praktischen Gründen als schwer durchführbar. Hinzu kam die Erinnerung an die Zeit nach dem 17. Juni 1953. Damals war die Sektorengrenze für einige Zeit gesperrt gewesen, doch dann hob die DDR diese Maßnahmen stillschweigend wieder auf. Viele Menschen hofften auf eine Intervention der Westmächte. Sie mussten allerdings bald schon einsehen, dass sich die westlichen Besatzungsmächte nicht eingeschränkt fühlten und die Grenzsperrung faktisch akzeptierten.
Die Mauer schuf neue Verhältnisse in Deutschland. Sie war das Eingeständnis der moralischen, politischen und ökonomischen Katastrophe des SED-Regimes, wie es deutlicher kaum sein konnte. Nur durch Stacheldraht und Betonmauern konnte die Regierung ihr eigenes Volk am Fortlaufen hindern. Doch hatte der Mauerbau noch eine zweite Dimension: Es war ein Akt der Defensive, eine deutschlandpolitische Kapitulation. Wer beim Skatspielen mauert, hat ziemlich schlechte Karten oder wenig Selbstvertrauen. Wer sich einmauert, greift nicht an. Die Gefahr, Ulbrich würde nach Westberlin greifen, schien mit dem Mauerbau gebannt zu sein. Insofern war der Mauerbau tatsächlich die Herstellung einer grotesken Normalität.
Ost und West
Eine Mauer hat immer zwei Seiten. Sie trennt diejenigen, die hinter ihr sitzen vom Rest der Welt, beraubt sie ihrer Freiheit, schränkt zumindest ihre Bewegungsfreiheit ein und verstellt gewollt oder ungewollt die Sicht. Auf der anderen Seite beschützt und behütet sie vor der Unbill der äußeren Welt. Der antifaschistische Schutzwall sollte das zarte Pflänzlein der von Ulbrich verkündeten sozialistischen Menschengemeinschaft beschützen. Sie war die eiserne Klammer, die den Staat zusammenhielt, aber sie schuf auch einen Schutzraum, in dem es sich leben ließ. Insofern war die Mauer kein Bauwerk, sondern eine Lebensform.
Wolle, Stefan: Aufbruch in die Stagnation – Die DDR in den Sechzigerjahren (Reihe "ZeitBilder" der bpb), Bonn 2005, S. 23ff, S. 31.