„In Verbindung bleiben“
Kassiber über die Mauer hinweg
von Hanno Hochmuth und Manfred WichmannDie Bernauer Straße ist das Symbol der Berliner Mauer. Wie kaum ein anderer Ort in Berlin wurde die Straße vor 60 Jahren auseinandergerissen. Die eine Straßenseite gehörte zum Bezirk Mitte im Sowjetischen Sektor und damit zu Ost-Berlin, die andere Seite zum Bezirk Wedding im Französischen Sektor und somit zu West-Berlin. In der Bernauer Straße ereigneten sich zahlreiche Fluchtgeschichten. Manche glückten wie die Flucht des Volkspolizisten Conrad Schumann, dessen beherzter Sprung über den Stacheldraht an der Bernauer Straße damals um die Welt ging. Andere Fluchtversuche endeten tödlich wie der Fenstersprung von Ida Siekmann, die das erste von mindestens 140 Todesopfern an der Berliner Mauer wurde.
Nicht von ungefähr befindet sich an der Bernauer Straße heute die Gedenkstätte Berliner Mauer. Sie erinnert daran, wie Berlin am 13. August 1961 auseinandergerissen wurde und wie das Leben in Ost- und West-Berlin über 28 Jahre von der Mauer geprägt wurde. Zwar waren beide Stadthälften spätestens seit 1948 politisch geteilt und gehörten entgegengesetzten Welten der globalen Systemkonkurrenz des Kalten Krieges an. Dennoch hatte sich bis 1961 eine Verflechtungsgesellschaft (Michael Lemke) zwischen Ost und West erhalten, die auf vielfache Weise aufeinander bezogen blieb. Dies galt vor allem für den Alltag. Menschen aus West-Berlin kauften im Osten billig Brot und andere Lebensmittel, wofür sie im Westen als „Herr Schimpf und Frau Schande“ gescholten wurden. Menschen aus Ost-Berlin pendelten täglich zur Arbeit in den Westen, wo sie wesentlich besser verdienten und mit D-Mark bezahlt wurden, oder sie pilgerten in die zahlreichen Grenzkinos gleich hinter der Sektorengrenze, um die neuesten Hollywood-Filme zu sehen. Während die innerdeutsche Grenze schon seit 1952 dicht war und die Wege vom Umland nach Berlin stark kontrolliert wurden, blieb die Vier-Mächte-Stadt bis 1961 faktisch eine offene Stadt.
Der Bau der Berliner Mauer kappte schlagartig die meisten Verbindungen zwischen den beiden Stadthälften. Die Propaganda auf beiden Seiten betonte die politischen Gegensätze in schärfsten Tönen, und die militärische Abriegelung der Sektorengrenze unterband den bisher alltäglichen Kontakt zwischen den Menschen. In der Sammlung der Stiftung Berliner Mauer, zu der die Gedenkstätte in der Bernauer Straße gehört, finden sich jedoch bemerkenswerte Objekte, die zeigen, wie Ost- und West-Berlin auch nach dem Mauerbau noch mit einander verflochten blieben: Über die gerade erst errichtete Mauer hinweg warfen sich Ost-Berliner Grenzpolizisten und Menschen aus West-Berlin an der Bernauer Straße kleine Papierzettel zu, die unterschiedliche Nachrichten enthielten. Solche Kassiber kennt man eigentlich aus Gefängnisfilmen. Aber auch an der Berliner Mauer waren sie in den ersten Wochen und Monaten nach der Errichtung der Sperranlagen ein Weg, um in Verbindung zu bleiben.
Es gleicht einem Wunder, dass die fragilen Zettel erhalten geblieben sind, zumal für die Ost-Berliner Grenzpolizisten ein striktes Kontaktverbot galt. Doch auf der Westseite der Mauer sammelte Alfred Kuhnert die Kassiber, die oft nach einigem Hin und Her auf seiner Seite landeten, und bewahrte sie in seiner Wohnung in der Bernauer Straße 119 auf, wo er direkt auf die Mauer blicken konnte und sich heute das Besucherzentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer befindet. Nach seinem Tod wandte sich die Tochter Christa Arndt an die Gedenkstätte und überließ die Kassiber der Sammlung Stiftung Berliner Mauer, die sehr an solchen Dokumenten der Teilung interessiert ist. 2019 wurden einige der Kassiber in der Ausstellung „Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“im Ephraim-Palais zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Sie gehören zu den seltenen privaten Zeugnissen der deutschen Teilung und zeigen, dass es dem SED-Regime nicht vollständig gelang, alle Verbindungen zwischen Ost und West zu kappen. Zugleich verraten die im Folgenden abgebildeten Kassiber viel über die privaten Bedürfnisse der Menschen nach dem Mauerbau.
Die DDR-Grenzpolizisten waren offenkundig sehr an Zigaretten aus dem Westen interessiert. Um an die Zigaretten mit dem besseren Tabak zu gelangen, nutzten sie ihre vorgelagerte Position im Grenzgebiet aus, das außer ihnen kein Ostdeutscher mehr betreten durfte. Sie waren nicht nur bereit, ihre restlichen D-Mark-Bestände für die Zigaretten einzutauschen. Sie gingen auch ein beträchtliches Risiko ein, indem sie die Kassiber mit ihrem Konsumwunsch auf die Westseite der Mauer warfen. Darin zeigt sich auch die ambivalente Haltung vieler Grenzpolizisten gegenüber der Mauer, die sie als Posten an der Sektorengrenze beschützen sollten. Nicht alle Grenzer waren ideologische Überzeugungstäter, die im Zweifelsfall von der Schusswaffe Gebrauch machten. Manche hatten einfach nur Pech, ihren Dienst an der Berliner Mauer verrichten zu müssen, etwa weil sie keine Westverwandten hatten und daher selber als weniger fluchtgefährdet galten. Und wie die meisten Ostdeutschen zogen die Grenzer eine echte Lucky Strike den ostdeutschen Zigaretten vor.
Auf West-Berliner Seite blieben die Wünsche der DDR-Grenzer nicht unerhört. Offenbar kamen die West-Berliner kaum damit hinterher, die Wünsche zu befriedigen. Der abgebildete Kassiber enthält die Mahnung an die Grenzpolizisten, sich die Zigaretten gut einzuteilen, da ihre Kameraden ähnliche Wünsche hätten. Außerdem erkundigt sich der Verfasser, wann der Tauschpartner aus dem Osten wieder an derselben Stelle Posten schieben würde. Der Zigarettenhandel über die Mauer hinweg war also kein Einzelfall, sondern augenscheinlich ein wiederkehrendes und weit verbreitetes Phänomen, wie auch zeitgenössische West-Berliner Zeitungsmeldungen belegen. So berichtete etwa die Berliner Morgenpost am 13. August 1965 rückblickend auf die ersten vier Jahre nach dem Mauerbau, dass „Grepos bei Westberliner Polizisten auf dem morgendlichen Streifen regelrecht Bestellungen aufgaben und sich die Ware – meist Zigaretten und Zeitungen, oft Transistoren oder Kleinigkeiten wie Kugelschreiber und Schnürsenkel – beim abendlichen Postengang abholten.“
Auch die Führung der DDR-Grenzpolizei erfuhr von diesen verbotenen Kontaktaufnahmen und dem kleinen Warenverkehr, wie Akten aus dem Militärarchiv noch heute belegen. Mit Strafen und Rügen gegen erwischte Posten versuchte sie, das Phänomen schon 1961 drastisch zu unterbinden, was jedoch nur in Einzelfällen gelang. Der Warenverkehr ging munter weiter. Die West-Berliner Wohltäter wollten dabei keinesfalls als „Kapitalisten“ gelten, die mit den Ost-Berliner Bedürfnissen lediglich ein Geschäft machen wollten. Stattdessen gaben sie den Grenzern noch den guten Rat auf den Weg, die Kassiber sicherheitshalber zu verbrennen, um keinen Ärger zu riskieren. Das Verbot der Kontaktaufnahme und die möglichen Strafen waren den Akteuren auf beiden Seiten der Mauer also durchaus bewusst.
Anstatt den Kassiber zu verbrennen, drehte der Grenzer den Zettel einfach um, notierte einen Dank und warf den nun beidseitig beschrifteten Kassiber wieder zurück über die Mauer. Dem Briefwechsel ist zu entnehmen, dass mit dem Kassiber offenbar zugleich die gewünschten Zigaretten rüber nach Osten geworfen worden waren. Ob der Grenzer dafür gezahlt hatte, lässt sich nicht rekonstruieren. Vielleicht waren die Zigaretten auch ein Geschenk der Brüder und Schwestern aus dem Westen. Jedenfalls lässt der herzliche Dank des Grenzers diesen Schluss zu. Ganz offensichtlich war der Grenzpolizist sehr zufrieden, dass die Übergabe der Zigaretten geklappt hatte, zumal er nicht sicher sein konnte, wann er wieder an derselben Stelle seinen Dienst verrichten sollte. Der kleine Warenverkehr über die Mauer hinweg war immer ein Glücksspiel.
Die Grenzer bestellten im Westen alles Mögliche, wie die Kassiber belegen. Besonders beliebt waren nahtlose Damenstrümpfe, wie es sie in der DDR kaum gab. So warf ein Posten den abgebildeten Kassiber über die Mauer – und setzte dieses Wort bezeichnenderweise selber in Anführungszeichen. Der Grenzpolizist gab im Westen eine recht konkrete Bestellung auf, die darauf schließen lässt, dass vorher schon einige ähnlich gelagerte Geschäfte über die Bühne gegangen waren. Er bedankte sich bei seinem Handelspartner im Voraus und zeichnete den Kassiber mit den Worten „Ihr Freund“. Dass sich ein DDR-Grenzer als Freund West-Berliner Tauschpartner bezeichnete, wäre in den Augen seiner Vorgesetzten ein unerhörter Vorgang gewesen. So etwas wagten die DDR-Posten nur im Schutze der Anonymität. Die Kassiber enthalten daher fast ausnahmslos keinerlei Namen.
Auf keinen Fall hätten die DDR-Grenzer ihre Adresse auf den Kassibern notiert. Die Antwort auf die Strumpfbestellung, die ebenfalls erhalten ist, bietet daher an, die Strümpfe über die Mauer zu werfen, wenn der Grenzer wieder an derselben Stelle auf Posten steht. Der West-Berliner Absender hätte allerdings eine Postsendung bevorzugt, aber das wäre für den DDR-Grenzpolizisten zu riskant gewesen. Bemerkenswert ist auch die Unterschrift: Die West-Berliner Tauschpartner unterzeichnen ihren Kassiber ebenfalls nicht mit dem richtigen Namen. Offenbar scheuen auch sie mögliche Konsequenzen aus dem Tauschhandel über die Sektorengrenze. Stattdessen nehmen sie direkt auf den ersten Kassiber mit der Strumpfbestellung Bezug und unterzeichnen ihren Antwortbrief ebenfalls mit: „Ihre Freunde“.
Tatsächlich schreibt der Freund aus dem Osten noch einmal zurück. Auch er verwendet hierfür einfach die Rückseite des oben abgebildeten Kassibers aus dem Westen, der offenbar aus einem alten Taschenkalender aus dem Jahr 1958 herausgerissen wurde. Wie die Freunde aus dem Westen bereits vermutet hatten, gibt der Grenzer keine Adresse an, sondern bittet seine Tauschpartner aufzupassen, wann er wieder hier Wache steht. Hier wird deutlich, dass es oft Anwohner direkt an der Mauer waren, die wie Alfred Kuhnert durch den direkten Blick auf die Grenzanlagen und die DDR-Posten entsprechend reagieren konnten. Gezeichnet ist auch der dritte Kassiber dieses einmaligen Briefwechsels mit den Worten „Ihr Freund“. Ost und West hielten trotz des Mauerbaus noch zusammen. Sogar wildfremde Menschen versicherten sich über die Mauer hinweg ihrer Freundschaft.
Über die Kassiber wurde nicht nur mit Zigaretten und Strümpfen gehandelt. Auch politische Witze und Gedichte wurden auf die Zettel geschrieben, wie der hier abgebildete Kassiber eindrucksvoll belegt. Ob er zunächst von Ost nach West geworfen wurde oder umgekehrt, lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Deutlich wird aber, dass die Menschen in Ost und West versuchten, ihre Situation mit Humor und Berliner Schnauze ein wenig erträglicher zu machen. Noch ahnten sie nicht, dass die Mauer sie 28 Jahre lang trennen wird. Wenn auch scherzhaft, so bringt der Kassiber die damalige Hoffnung auf eine baldige Normalisierung zum Ausdruck:
„Wenn Chruschtschow in den Himmel steigt.
Wenn Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz heißt.
Wenn Ulbricht wieder in den Puff.
Dann sind die Grenzen wieder uff“.