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Todesopfer

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Czesław Kukuczka (links) bei einem Schachturnier der Berufsfeuerwehr Bielsko-Biała; Aufnahmedatum unbekannt

Czesław Jan Kukuczka

geboren am 23. Juli 1935
angeschossen am 29. März 1974


auf dem Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Berlin-Mitte


am selben Tag an den Folgen der Schussverletzungen gestorben
Am helllichten Tag wird am 29. März 1974 der polnische Staatsbürger Czesław Kukuczka, der in die freie Welt gelangen wollte, auf dem Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße („Tränenpalast“) in Ost-Berlin erschossen. „Rätsel um ein Attentat an der Mauer in Berlin“, schlagzeilte die „Bild“-Zeitung am 2. April 1974. Schülerinnen aus Bad Hersfeld waren vier Tage zuvor, am 29. März 1974, auf dem Weg von Ost-Berlin zurück nach West-Berlin auf dem Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße Augenzeuginnen einer Bluttat geworden: „Es war am Freitag zwischen 15.10 und 15.20 Uhr“, zitierte „Bild“ die 15- bis 17-Jährigen. „Ein 40 bis 45 Jahre alter Mann passierte vor uns den Kontrollpunkt. Zwei Frauen wurden kurz vorher von einem Offizier zurückgeschickt. Als der Mann arglos vorbeigegangen war, wurde er von einem Zivilisten im dunklen Mantel und mit getönter Brille aus zwei Meter Entfernung in den Rücken geschossen.“ [1]

Auf dem belebtesten Grenzübergang zwischen Ost und West am helllichten Tag ein Gewaltverbrechen? Die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ in Salzgitter, zuständig für die Dokumentation und Beweismittelsammlung von Unrechtstaten in der DDR, leitete unverzüglich Vorermittlungen ein. Die örtlichen Kriminal- und Polizeiinspektionen in West-Berlin wurden befragt – ihnen war der Vorfall nicht bekannt. Auch den drei Schutzmächten West-Berlins - Frankreich, England und USA –lagen keine Informationen vor. Die DDR-Presse meldete nichts. Und auch im Westen erschien nach dem „Bild“-Artikel nicht ein einziger weiterer Bericht. Möglicherweise gab es keine weiteren Augenzeugen – oder sie meldeten sich nicht.

Zu Beginn der 1990er Jahre, nach dem Untergang der DDR und im Zuge der Ermittlungen wegen der Gewalttaten an der Berliner Mauer, griff die Staatsanwaltschaft Berlin den Fall vermutlich routinemäßig auf Grund der Salzgitter-Akte wieder auf. Da der Vorgang, wie man jetzt recherchieren konnte, in den Tagesmeldungen 1974 der DDR-Grenztruppen keine Erwähnung findet [2], wird der Fall mangels weiterer Ansatzpunkte für Ermittlungen im Mai 1996 zum zweiten Mal „weggelegt“. [3]

Erst dreieinhalb Jahre später, bei einer systematischen Auswertung aller Obduktionsgutachten des Instituts für Gerichtliche Medizin der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität, in denen Schussverletzungen erwähnt werden, entdeckt die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) unter dem Datum des 29. März 1974 einen Befund zu einem polnischen Staatsbürger: Czesław Jan Kukuczka ist den Verletzungen erlegen, die ihm an diesem Tag durch einen Rückenschuss zugefügt wurden. Bei weiteren Überprüfungen stoßen die Ermittler auf die Vorermittlungsakte der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter aus dem Jahr 1974 und kombinieren, dass der obduzierte Leichnam mit dem namentlich nicht bekannten Opfer des damaligen Vorfalls identisch sein könnte. Warum aber wurde der 38-jährige Pole am 29. März 1974 auf dem Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße erschossen – und: von wem? Wer war Czesław Kukuczka – was führte ihn in das geteilte Berlin? [4]

Czesław Kukuczka wird am 23. Juli 1935 in Kamienica, Kreis Limanowa, geboren. Dort absolviert er eine siebenklassige Volksschule. [5] Die lokale Zeitschrift „Gorczańskie Wieści” erwähnt ihn unter „den aktivsten, jungen, ideenreichen, zur Hingabe fähigen, heißen Köpfen.“ [6] Im Alter von 17 Jahren wird er für den Bau von Nowa Huta angeworben, einer sozialistischen Arbeiterstadt am Rande Krakaus. Bald kehrt er jedoch in sein Dorf zurück „und erzählt weiter, dass es in N. Huta nichts zu tun gebe […], Arbeiter durch hohe Normen und andere Verpflichtungen fertig gemacht würden, er überredet andere Leute dazu, sich für diese Arbeiten nicht zu melden, weil man es dort nicht aushalten könne,“ wie in einem anonymen Bericht eines Delegierten aus Nowa Huta vom 8. Oktober 1952 zu lesen ist. [7]

Czesław Kukuczka: geboren am 23. Juli 1935, angeschossen am 29. März 1974 auf dem Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße; Aufnahme vor 1955
Ein Jahr später gerät Czesław Kukuczka in Schwierigkeiten. Im Oktober 1953 wird der jetzt 18-Jährige wegen einer angeblichen Unterschlagung vom Kreisgericht Limanowa zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. [8] Am letzten Tag seines Lebens teilt er Mitarbeitern der polnischen Operativgruppe in Ost-Berlin mit, dass „er Leiter eines Restaurants war, aber wegen Machenschaften des Personals kam es zu einem Manco […], weshalb er zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt“ worden sei [9]. Diese Angabe lässt sich jedoch nicht bestätigen. Nach Verbüßung seiner Haft wird er im November 1954 auf Bewährung entlassen. [10] Bald heiratet er, und das Ehepaar bekommt drei Kinder. Er arbeitet unter anderem im Reparatur- und Bauunternehmen des Kreises Limanowa, dann mehrere Jahre bei der Feuerwehr in Jaworzno, Limanowa und Bielsko-Biała. Dabei erwirbt er den Unteroffiziers-Rang eines Unterbrandmeisters. [11]

Warum gibt er 1974 eine weitere Karriere bei der Feuerwehr auf? Vermutlich wollte er nur besser verdienen. Diese Erklärung lässt sich jedenfalls in einem handgeschriebenen Lebenslauf aus dem Herbst 1973 finden. Czesław Kukuczka erwähnt darin, er habe sich nach dem Tod seines Vaters für eine kurze Zeit von der Feuerwehr verabschiedet und „saisonweise [im privaten Bausektor] bei viel höherem Verdienst“ gearbeitet. [12] Im Gespräch mit Mitarbeitern der polnischen Botschaft in Berlin erklärt er, in die USA auswandern zu wollen, wo er zwei Tanten habe. [13] In den Unterlagen, die der Tote bei sich trägt, findet sich eine Anschrift in der im US-Bundesstaat Florida gelegenen Stadt Hollywood. [14]

Am Sonntag, dem 3. März 1974, erscheint Czesław Kukuczka nicht auf seiner Arbeitsstelle, ohne seine Abwesenheit zu melden und ohne eine Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung vorzulegen. Nach sechs Tagen wendet sich die Feuerwehr in Bielsko-Biała an die dortige Milizdirektion mit der Bitte, sich dieser Sache anzunehmen. „Unsererseits suchten wir mehrmals an seinem jetzigen und früheren Wohnort, aber erfolgslos,“ heißt es zur Begründung. [15] Am 26. März antwortet die Bürgermiliz, Kukuczka habe sich „an einen unbekannten Ort begeben.“ [16] Schon davor, am 14. März, ist bei der Feuerwehr die Entscheidung gefallen, das Arbeitsverhältnis wegen „eigenwilligen Verlassens der Arbeitsstelle“ mit sofortiger Wirkung zu kündigen. [17] Der Feuerwehrmann ist seit dem 3. März spurlos verschwunden. Es gibt bislang keinen Hinweis darauf, wo er sich danach aufhält – bis zu jenem Freitag, dem 29. März 1974.

An diesem Tag meldet sich Czesław Kukuczka gegen 12.30 Uhr beim Pförtner der polnischen Botschaft in Ost-Berlin, die unweit des Brandenburger Tores Unter den Linden liegt. Er behauptet, eine wichtige Mitteilung übergeben zu wollen und wird offenbar ohne weitere Kontrolle in einen der Botschaftsräume geführt. Bald suchen ihn dort Oberst Maksymilian Karnowski [18], ein Angehöriger der Berliner Operativgruppe des polnischen Innenministeriums (MSW), und in seiner Begleitung ein Mitarbeiter namens Olszewski auf. Kukuczka fordert, dass ihm bis 15.00 Uhr über den Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße die Ausreise nach West-Berlin gestattet wird. Er unterstreicht diese Forderung mit der Drohung, anderweitig die Botschaft mit einer Bombe zu sprengen, die er mit sich führe. Tatsächlich, so hält ein anonymer Bericht fest, der nur Oberst Karnowski zugeschrieben werden kann, lag auf seinen Knien „eine geschlossene, vollgepackte Aktentasche, aus der eine Schlinge hervorragte. Die gespannte Schlinge hielt er mit der linken Hand fest.“ [19] Erfülle man seinen Wunsch nicht, werde er neben der Botschaft drei weitere Gebäude in Berlin in die Luft fliegen lassen, darunter das Polnische Informations- und Kulturzentrum in der Karl-Liebknecht-Straße. Die ganze westliche Welt werde darüber berichten, so Kukuczka, denn in die Aktion seien zwei weitere Personen mit einbezogen: ein Bekannter in West-Berlin und ein Kontaktmann in Ost-Berlin. [20] Den Zünder, so der 38-Jährige weiter, habe er selbst konstruiert, und die dafür notwendigen Kenntnisse bei seinem Militärdienst erworben. Den Sprengstoff habe er bei einer früheren illegalen Einreise in die DDR eingeführt. „Seinen Erläuterungen konnte man entnehmen, dass er tatsächlich in der Pyrotechnik bewandert war“, berichtet Karnowski. [21] Kukuczka habe behauptet, so heißt es in dem Bericht weiter, seine Ehefrau über die Fluchtpläne nicht informiert zu haben. „Wenn Kukuczka von seiner Familie sprach, war er gerührt und hatte Tränen in den Augen.“ [22] Dem Geheimdienst-Mitarbeiter gegenüber bleibt Czesław Kukuczka misstrauisch. Er schaut öfter auf die Uhr und weigert sich, von ihm einen Kaffee anzunehmen. Schließlich lässt er sich davon überzeugen, dass zur Erfüllung seines Ultimatums ein spezielles Reisedokument für ihn erstellt werden muss. Oberst Karnowski gelingt es, das Zimmer zu verlassen, in dem er Kukuczka sagt, es sei für die Ausfertigung eines Passierscheines nach West-Berlin notwendig. Um 13.10 Uhr telefoniert der polnische Geheimdienstler mit Oberst Willi Damm, dem Leiter der Abteilung X („Internationale Verbindungen“) des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, kurz: Stasi. Damm informiert sofort den stellvertretenden Stasi-Minister Bruno Beater, der seinerseits die Entscheidung trifft, Kukuczka „nach Möglichkeit außerhalb des Gebäudes der Botschaft der VR Polen unschädlich zu machen.“ [23] Weniger als eine Stunde nach dem Telefongespräch mit Karnowski ist Damm bereits auf dem Gelände der polnischen Botschaft. Zwei weitere Stasi-Offiziere begleiten ihn: Oberstleutnant Hans Sabath vom Zentralen Operativstab ebenfalls in Zivil und Major Sanftenberg von der Hauptabteilung VI, die unter anderem für Passkontrolle und Reiseverkehr zuständig ist und deren Mitarbeiter die Uniform der Grenztruppen tragen. Im Dienstzimmer von Oberst Wacław Szarszewski [24], dem Leiter der polnischen Operativgruppe in Ost-Berlin, stellt Sanftenberg ein Passersatzdokument mit dem erforderlichen Ausreisevisum für West-Berlin aus. Es fehlt nur noch ein Passbild. Czesław Kukuczka wird versichert, das Bild lasse sich innerhalb von zwei Minuten im Automaten am Grenzübergang anfertigen. „Das diente dazu, den Täter zu beruhigen,“ wie in einem späteren Bericht der Stasi und des DDR-Generalstaatsanwaltes zu lesen ist. [25]

Während der Ausstellung der Dokumente fragt Karnowski diskret, ob die Ostdeutschen tatsächlich die Absicht hätten, Kukuczka die Ausreise nach West-Berlin zu ermöglichen. „Genossen Karnowski wurde mitgeteilt“, hält Stasi-Oberst Damm in seinem Bericht fest, „dass das Hauptziel darin besteht, zu verhindern, dass eine terroristische Handlung des polnischen Bürgers erfolge. Das Nahziel sei dabei zu vermeiden, dass es im Gebäude der Botschaft zu einem Zwischenfall kommt.“ [26] Alles andere, so der Stasi-Mann, müsse auf dem Territorium der DDR gelöst werden, wobei es erforderlich sein könnte, von der Waffe Gebrauch zu machen, um Kukuczka „unschädlich zu machen“. „Genosse Karnowski war darüber sichtlich erleichtert und erklärte sein Einverständnis,“ hält Damm fest. [27]

Gegen 14.40 Uhr verlässt Czesław Kukuczka die polnische Botschaft – mit Reisedokument, Visum und Ausreisekarte. Oberst Karnowski gibt seinem Landsmann auf dessen Wunsch noch ein paar West-Mark mit auf den Weg. Dann besteigt Kukuczka den Wagen von Stasi-Oberstleutnant Sabath, der ihn den kurzen Weg zum Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße bringt. Die polnischen Geheimdienstler bleiben zurück. Am Bahnhof Friedrichstraße, heißt es im Bericht von Oberst Damm, seien durch die Hauptabteilung VI „die erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen getroffen“ gewesen – was immer darunter zu verstehen ist. [28] Sabath begleitet Kukuczka auf dem Weg zum Ausreisepavillon, der von den Berlinern als „Tränenpalast“ bezeichnet wird, wo sich der Pole in den Abfertigungsprozess begibt – offenbar immer von den Kräften der HA VI observiert.

Das weitere Geschehen im Grenzübergang ist schwer zu rekonstruieren. Damm hält in seinem Bericht lediglich fest, dass es um 15.00 Uhr, während der Abfertigung, den „eingesetzten operativen Kräften“ gelingt, Kukuczka „ohne besonderes Aufsehen gegenüber anderen Ausreisenden […] unschädlich zu machen.“ [29] Der polnische Botschaftsrat Ernest Kucza, der jedoch kein Augenzeuge des Vorfalls ist, schreibt: „Beim […] Versuch, ihn zu überwältigen, musste die Schusswaffe angewendet werden und K[ukuczka] wurde verletzt.“ [30]

Trotz seiner schweren Verletzung wird Czesław Kukuczka vom Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße nicht in das nächst gelegene Krankenhaus eingeliefert. Er wird vielmehr „wegen des dringenden Tatverdachtes des Terrors und ungesetzlichen Grenzübertritts“, wie es in der „Einlieferungsanzeige“ der Stasi heißt, in das mehrere Kilometer entfernte Haftkrankenhaus des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf dem Gelände des Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen überführt. [31] Noch bevor ein richterlicher Haftbefehl ausgestellt werden kann, ist Czesław Kukuczka schon tot: Um 18.32 Uhr verblutet er auf dem Operationstisch. Der Rückenschuss hat Lunge, Milz und Leber zerfetzt. [32] Die Kollegmappe, mit der er einen Sprengstoffanschlag androhte, und ihren Inhalt analysiert die technische Untersuchungsstelle der Stasi bereits am nächsten Tag, dem 30. März. Sie enthält alles Mögliche: unter anderem einen Hydrantendeckel, eine zerbrochene Whisky-Flasche, einen Rasierpinsel und einen Rasierapparat, Schuhbürste und Schuhcreme, Nähnadeln und Nähgarn – aber keinen Sprengkörper. [33]

Bis dahin ist in den Dokumenten der Stasi von einer Waffe, die Kukuczka mitgeführt hätte, keine Rede. Erst nachdem die „Bild“-Zeitung am 2. April über das „Attentat“ am Bahnhof Friedrichstraße berichtet hat, werden dem Erschossenen noch Fingerabdrücke abgenommen. [34] In einem Bericht der Stasi-Hauptabteilung IX vom 4. April 1974, sechs Tage nach dem Vorfall verfasst, wird erstmals eine Waffe erwähnt, mit der Czesław Kukuczka angeblich zwei Grenzposten bedroht haben soll, woraufhin er von einem der Posten erschossen worden sein soll. [35] Dieser Bericht ist zugleich die Vorlage für den späteren Bericht des DDR-Generalstaatsanwalts an die polnische Seite. [36] Und erst am siebten Tag nach seiner Erschießung, am 5. April, liegt die Pistole den Stasi-Spezialisten zur Untersuchung vor. Sie finden prompt Fingerabdrücke von Kukuczka auf ihr – und bestätigen die Funktionssicherheit der Waffe. [37]

Zu diesem Zeitpunkt liegt allerdings auch das Gutachten des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität über die Obduktion der Leiche am 3. April vor. Es widerlegt die Behauptung bei der Einlieferung in die Gerichtsmedizin, der Tote sei am 29. März 1974 „mit einer Bauchschussverletzung in ein Krankenhaus eingeliefert worden, wo er während der Operation verstarb.“ [38] Auf Grund der Stoffdefekte der Kleidung, von Faserbestandteilen in der Wunde und weiteren Anhaltspunkten kommen die Obduzenten zweifelsfrei zu der Feststellung eines Rückenschusses. [39] Alles spricht dafür, dass Czesław Kukuczka der Besitz einer Waffe von der Stasi nachträglich angedichtet wurde, um seine Tötung zu rechtfertigen. Nach der Obduktion gibt die DDR-Generalstaatsanwaltschaft die Leiche am 4. April zur Erd- oder Feuerbestattung frei. [40] Das Standesamt Berlin-Mitte stellt am 5. April eine Sterbeurkunde [41] und eine Bescheinigung über die Eintragung eines Sterbefalles [42] für die Sozialversicherung aus. Sowohl die DDR als auch die polnische Regierung wollen jegliche Aufmerksamkeit vermeiden. Ohne Rücksprache mit der Familie, die noch immer ohne jede Informationen ist, einigt man sich auf eine Urnenüberführung. [43]

Der Vorschlag der polnischen Seite, statt eines Rückenschusses als Todesursache den Tod von Czesław Kukuczka lieber als „Selbstmord mit Waffe“ zu erklären, [44] wird von der DDR abgelehnt „da damit eine Verletzung der Gesetzlichkeit der DDR erfolgen könnte.“ [45] Zu einer normalen konsularischen Abwicklung gehöre nämlich das Obduktionsprotokoll und alle anderen Dokumente – und die seien bereits ausgestellt. Da auch Stasi-Minister Mielke offenbar die polnische Variante abgelehnt hatte, blieb dem Erschossenen posthum die Lüge eines „normalen Selbstmordes“ als offizielle Erklärung seines Todes erspart. Ende April/Anfang Mai übergibt die DDR-Seite dem polnischen Konsul Stanisław Supruniuk die Urne, die für die Überführung erforderlichen Dokumente sowie eine Reihe von Czesław Kukuczka mitgeführter persönlicher Gegenstände. Ein zusammenfassender Bericht [46] eine Sterbeurkunde und der Totenschein liegen bereits vor.

Für ihre eigenen Zwecke fertigt die polnische Botschaft eine gekürzte Version der Ereignisse vom 29. März 1974, in der nur von Czesław Kukuczkas Fluchtversuch am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße die Rede ist, nicht aber von seinem Besuch in der Botschaft und seiner Bombendrohung. [47] Eine solche Version soll „eventuelle unerwünschte Effekte vor Ort verhindern“ sowie vermeiden, dass weitere Menschen Kukuczkas Methode nachahmen. Botschafter Dmochowski schlägt vor, dass die vollständige Version des Geschehens in der Geheimkanzlei des Außenministeriums landet und nur einem „streng bestimmten Personenkreis“ zur Verfügung steht. [48] Auch in der Warschauer Zentrale ist man davon überzeugt, dass man Aufsehen vermeiden sollte. Wojciech Jaskot, Leiter der Konsularabteilung des Außenministeriums, und der stellvertretende Außenminister Stanisław Trepczyński einigen sich in einem Telefongespräch darauf, dass „die Sache einen geheimen Charakter haben soll,“ wie eine Notiz vom 8. Mai zeigt. [49] „Die Familie [Kukuczka] soll nicht in die DDR fahren,“ heißt es in einer handschriftlichen Randbemerkung in einem anderen Dokument. [50]

Am 24. Mai 1974 erhält Emilia Kukuczka, die Witwe, von einem Kreisstaatsanwalt die Urne, ein Paket mit persönlichen Gegenständen ihres verstorbenen Mannes sowie einen Totenschein. Am nächsten Tag meldet der Gemeindevorsteher von Kamienica, es habe eine kirchliche Bestattung im engsten Familienkreis stattgefunden. „Weder in der Familie des Verstorbenen noch unter den Ortsbewohnern wurden Ereignisse mit einem demonstrativen Charakter festgestellt,“ meldet damals, sichtlich erleichtert, der Kreisstaatsanwalt in seinem Bericht nach Warschau. [51] Auch die Leitung des MfS zeigt sich zufrieden. Ende Mai 1974 wird Oberstleutnant Hans Sabath mit dem Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Gold ausgezeichnet. In der Begründung heißt es, dank seines umsichtigen Handelns sei „eine schwere Grenzprovokation verhindert und der Terrorist unschädlich gemacht“ worden. [52] Ein Jahr später bekommt Oberst Wacław Szarszewski, der Leiter der polnischen Operativgruppe in Ost-Berlin, von der DDR-Regierung die Medaille der Waffenbrüderschaft in der höchsten Stufe: der Goldstufe. [53]

Nach drei Ermittlungsverfahren Mitte der 1970er, am Anfang der 1990er und am Ende der 1990er Jahre zog die Staatsanwaltschaft Berlin im Dezember 2005 ein abschließendes Resümee: Die Augenzeuginnen hätten sich 1974 unmittelbar nach der Tat widersprochen, ihre Beschreibungen reichten zur Identifizierung des Täters nicht aus. Auch hätten sie von hinten nicht sehen können, ob das Opfer vorne eine Pistole bereits gezogen hatte oder zog. Zwar sei davon auszugehen, dass sich die an dem Vorfall beteiligten MfS-Mitarbeiter ermitteln ließen. Auszuschließen sei dagegen „angesichts der vagen und hinsichtlich der Positionierung einander ausschließenden Bekundungen der damals vernommenen Zeuginnen, dass diese eine Person sicher als Täter identifizieren könnten.“ [54] Sofern, wovon auszugehen sei –, der Vorgang von der Stasi legendiert wurde, sei auszuschließen, „dass es Dokumente über den tatsächlichen Hergang gibt“. Auszuschließen sei ebenfalls, dass über ein Rechtshilfeersuchen aus Polen schriftliche Unterlagen über einen von der Stasi-Darstellung abweichenden Geschehensablauf zu erlangen wären. „Nach alledem“, so die Schlussfolgerung, „ist eine Aufklärung des Sachverhalts nicht mehr möglich.“ [55] Das Verfahren wurde deshalb am 21. Dezember 2005 eingestellt. Der tödliche Schuss in den Rücken von Czesław Kukuczka blieb strafrechtlich ungesühnt.

Text: Filip Ganczak/Hans-Hermann Hertle

[1] „Rätsel um ein Attentat an der Mauer in Berlin“, Bild Zeitung, 2. April 1974, in: StA Berlin, 27 Js/56 Js 584/03, Bl. 1. [2] Vgl. NVA/Kommando der Grenztruppen/Operativ Diensthabender, Tagesmeldung Nr. 88/74 für die Zeit vom 28.3.1974, 18.00 Uhr, bis 29.3.1974, 18.00 Uhr (BArch-MA, GT 6394, Bl. 232-235), in: StA Berlin, 27 Js/56 Js 584/03, Bl. 52-55. [3] Siehe: StA Berlin, 27 AR 13/91, Vfg. [Verfügung], 13. Mai 1996, in: StA Berlin, 27 Js/56 Js 584/03, Bl. 45. [4] Mit dem Geschehensablauf vom 29. März 1974 und der Tötung von Czesław Kukuczka haben sich bislang zwei Veröffentlichungen befasst: Jörg Abromeit/Stefan Appelius, Mord im Tränenpalast, in: Superillu, H. 21, 19.5.2016, S. 24/25, sowie: Stefan Appelius, Tod im Tränenpalast, in: ZdF 39/2016, S. 108-110. Die darin getroffenen Aussagen beruhen fast ausschließlich auf der Basis einiger weniger, erst seit dem Jahr 2013 zugänglicher Seiten über den Fall aus dem Stasi-Archiv (vgl. BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 28-40). Sie sind vor dem Hintergrund der hier herangezogenen wesentlich breiteren Quellenbasis in deutschen und polnischen Archiven in Teilen kritisch zu hinterfragen. [5] Życiorys [Lebenslauf], [September 1973], in: Archiwum Komendy Miejskiej Państwowej Straży Pożarnej w Bielsku-Białej (AKMSPBB), Akte Czesław Kukuczka, Bl. 2. - Das Geburtsdatum wird teilweise auch mit dem 25. Juli 1935 angegeben, siehe z.B. Świadectwo szkoły ogólnokształcącej stopnia podstawowego (odpis), [Schulzeugnis (Abschrift)], in: Ebd., Bl. 4. [6] „Diamentowy Jubilat“, Gorczańskie Wieści, Jg. XVII, Heft 103, Juli – Oktober 2012, S. 8–11, hier: S. 9. [7] Notatka służbowa [Dienstliche Notiz], Limanowa, den 8. Oktober 1952, in: AIPN, Kr 010/1975, Bl. 5. [8] Karta informacyjna [Informationsblatt], Jaworzno, den 27. November 1954, in: AIPN, Kr 010/1975, Bl. 8. [9] Bericht über den Verlauf des Vorfalls in der VRP-Botschaft in Berlin vom 29.3.1974, Verschlusssache, Berlin, den 1.4.1974, S. 2, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 38. [10] Karta informacyjna [Informationsblatt], Jaworzno, den 27. November 1954, in: AIPN, Kr 010/1975, Bl. 8; [Formularz b.d.] [undatiertes Formular], in: Ebd., Bl. 11. [11] Życiorys [Lebenslauf], [September 1973], in: AKMSPBB, Akte Czesław Kukuczka, Bl. 2. [12] Ebd. [13] Bericht über den Verlauf des Vorfalls in der VRP-Botschaft in Berlin vom 29.3.1974, Berlin, den 1. April 1974, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 38. [14] Aufstellung [von Czesław Kukuczka, d. Vf.] mitgeführter Gegenstände und Aufzeichnungen, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 32. [15] Stadtkommandantur der Feuerwehr Bielsko-Biała, Schreiben an die Kommandantur der Stadt und des Kreises Bielsko-Biała, Bielsko-Biała, den 9. März 1974, in: AKMSPBB, Akte Czesław Kukuczka, Bl. 18. [16] Kommandantur der Stadt und des Kreises Bielsko-Biała, Schreiben an die Stadtkommandantur der Feuerwehr Bielsko-Biała, Bielsko-Biała, den 26. März 1974, in: AKMSPBB, Akte Czesław Kukuczka, (unpag.). [17] Stadtkommandantur der Feuerwehr Bielsko-Biała, Schreiben an Czesław Kukuczka, Bielsko-Biała, den 19. März 1974, in: AKMSPBB, Akte Czesław Kukuczka, Bl. 19. [18] Maksymilian Karnowski, Jahrgang 1923, Kaderakte: AIPN, BU 003175/453. [19] Bericht über den Verlauf des Vorfalls in der VRP-Botschaft in Berlin vom 29.3.1974, Verschlusssache, Berlin, den 1.4.1974, S. 1, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 37. [20] Ebd., Bl. 37 f. [21] Ebd., Bl. 39. [22] Ebd., Bl. 38. [23] [MfS-]Abt. X/Oberst Damm, Bericht, Berlin, am 29.3.1974, S. 1, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 28. [24] Wacław Szarszewski (1924 - 2010), Kaderakte: AIPN, BU 0604/794. [25] DDR-Ministerrat/MfS/Hauptabteilung Untersuchung (Oberstleutnant Gerhard Niebling), Bericht über die Verhinderung eines terroristischen Anschlages, Berlin, den 4. April 1974, S. 3, in: BArch, DP 3/4733 (unpag.), sowie: Der Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik, Bericht über die Verhinderung eines terroristischen Anschlages, undatiert, S. 3, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). Auch in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 34. [26] [MfS-]Abt. X/Oberst Damm, Bericht, Berlin, am 29.3.1974, S. 1, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 29. [27] Ebd., Bl. 30. – Karnowski selbst schreibt in seinem Bericht: „Genosse Damm versicherte, dass man versuchen werde, Kukuczka am GÜP [Grenzübergangspunkt] Friedrichstraße zu überwältigen, aber notfalls werde man auch von der Waffe Gebrauch machen. Dazu hatte ich keine Bedenken.” Siehe Bericht über den Verlauf des Vorfalls in der VRP-Botschaft in Berlin vom 29.3.1974, Verschlussssache, Berlin, den 1.4.1974, S. 1, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 39. [28] [MfS-]Abt. X/Oberst Damm, Bericht, Berlin, am 29.3.1974, S. 3, in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 30. [29] Ebd. [30] [Ernest] Kucza, Telegramm Nr. 4357 an [Jerzy] Roszak, Berlin, am 29.3.1974, 19.10 Uhr, in: AMSZ, ZD 59/78, w. 22, t. 156, Bl. 49. [31] DDR-Ministerrat/MfS, Einlieferungsanzeige, 29.3.1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 2/3. – Die Aufnahme von “Kukuczka, Czesław-Jan” im Haftkrankenhaus als Nr. 712 sowie seine “Entlassung”, beides am 29.3.1974, sind dokumentiert in: BStU, MfS, Abt. XIV Nr. 16806, Bl. 43. [32] Vgl. Obduktionsgutachten des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin, Sekt. Nr. 401/1974, Berlin, 3. April 1974 (Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin). [33] DDR-Ministerrat/MfS/Technische Untersuchungsstelle, Untersuchungsbericht, Exp. Nr. 740.340, Berlin, den 30. März 1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 17/18. [34] Vgl. Fingerabdruck-Blatt, Kukuczka, Czesław-Jan, 2.4.1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 16. [35] Vgl. DDR-Ministerrat/MfS/Hauptabteilung Untersuchung (Oberstleutnant Gerhard Niebling), Bericht über die Verhinderung eines terroristischen Anschlages, Berlin, den 4. April 1974, S. 1-5, in: BArch, DP 3/4733 (unpag.). [36] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Ebd., sowie: Der Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik, Bericht über die Verhinderung eines terroristischen Anschlages, undatiert, S. 1-4, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). Auch in: BStU, MfS, Abt. X Nr. 2220, Bl. 32 ff. [37] DDR-Ministerrat/MfS/Technische Untersuchungsstelle, Untersuchungsbericht, Exp. Nr. 740.340.1, Berlin, den 5. April 1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 19/20. [38] Obduktionsgutachten des Instituts für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin, Sekt. Nr. 401/1974, Berlin, 3. April 1974, S. 5 (Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin). [39] Ebd. [40] Schreiben der DDR-Generalstaatsanwaltschaft, 4.4.1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 10. [41] Standesamt Berlin-Mitte, Sterbeurkunde Nr. 586/1974, Czesław-Jan Kukuczka, 4.4.1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 11. [42] Standesamt Berlin-Mitte, Bescheinigung über Eintragung eines Sterbefalles (Nr. 586/1974), Czesław-Jan Kukuczka, 4.4.1974, in: BArch, DP 3/4733, Bl. 13. [43] (DDR-Generalstaatsanwaltschaft)/Staatsanwalt Saager, Vermerk über ein Gespräch am 9. April 1974, 15.4.1974, S. 1, in: BArch, DP 3/4733 (unpag.). [44] Ebd. [45] (DDR-Generalstaatsanwaltschaft)/Staatsanwalt Saager, Vermerk über Gespräch mit Gen. Botschaftsrat Kucza am 19.4.1974, 22. April 1974, S. 1-2, in: BArch, DP 3/4733 (unpag.). [46] Der Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik, Bericht über die Verhinderung eines terroristischen Anschlages, undatiert, S. 1-4, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). Der übergebene Bericht entspricht dem Niebling-Bericht vom 4.4.1974 mit den darin enthaltenen handschriftlichen Korrekturen. Siehe: DDR-Ministerrat/MfS/Hauptabteilung Untersuchung (Oberstleutnant Gerhard Niebling), Bericht über die Verhinderung eines terroristischen Anschlages, Berlin, den 4. April 1974, S. 3, in: BArch, DP 3/4733 (unpag.). [47] Ambasada Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej [Botschaft der Volksrepublik Polen], Meldunek w sprawie śmierci obywatela PRL Czesława-Jana Kukuczki zmarłego dn. 29 marca 1974 r. w Berlinie [Bericht über den Tod des VRP-Bürgers Czesław-Jan Kukuczka, gest. am 29.3.1974 in Berlin], vertraulich, Berlin, den 24.4.1974, S. 1-2, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). [48] M[arian] Dmochowski, Schreiben an Stanisław Trepczyński, geheim, Berlin, den 24.4.1974, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). [49] Notatka [Notiz], [Unterschrift unleserlich], 8.5.1974, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). [50] M[arian] Dmochowski, Schreiben an W[ojciech] Jaskot, vertraulich, Berlin, den 24. April 1974, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). [51] Mieczysław Ryskala, Bericht an die Abteilung II der Generalstaatsanwaltschaft, geheim, Limanowa, den 25.5.1974, in: AMSZ, DK 22/79 (unpag.). [52] Oberst a.D. Sabath, Hans, Kaderakte, in: BStU, MfS, KS I 9/85, Bl. 109. [53] Wacław Szarszewski, Schreiben an Bonifacy Jedynak, Warschau, den 8.12.1978, S. 1, in: AIPN, BU 0604/794, Bl. 203. [54] StA Berlin, Vfg. zu 27 Js/56 Js 584/03, 21.12.2005, in: StA Berlin, 27 Js/56 Js 584/03, Bl. 205. [55] Ebd., Bl. 205/206.
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