geboren am 1. September 1942
in den Tod gesprungen am 15. Juli 1971
in Berlin-Treptow aus dem Gebäude der Volkspolizei-Inspektion
nach Festnahme am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße
Am Morgen des 15. Juli 1971 führen ihn Volkspolizisten kurz nach 8.00 Uhr in den kriminaltechnischen Raum im zweiten Stockwerk des Polizeigebäudes. Dort werden zunächst seine Personalien festgestellt. Bevor ihm die Fingerabdrücke abgenommen werden, soll er seine Hände waschen. Er wird gebeten aufzustehen. Wolfgang Hoffmann schnellt sprungartig auf einen Tisch und springt kopfüber durch das geschlossene Erkerfenster. Aus zehn Metern Höhe stürzt er ab.Wolfgang Hoffmann, geboren am 1. September 1942 in Berlin, wächst zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Peter bei der Mutter in Berlin-Johannisthal auf; der Vater wird als Soldat im Zweiten Weltkrieg seit 1944 vermisst. [1] Wolfgang Hoffmann erlernt den Beruf eines Drehers und arbeitet danach als Werkzeugmacher im Institut für Meß- und Prüftechnik der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof.
Für die Familie Hoffmann wie für die meisten Anwohner in Johannisthal und Adlershof gehört es bis in den Sommer 1961 hinein zum Alltag, die Sektorengrenze zu passieren und im angrenzenden West-Berliner Bezirk Neukölln einzukaufen oder auch ins Kino zu gehen. Mit dem Mauerbau ist es damit vorbei. Unmittelbar danach, am 24. August 1961, flieht Wolfgang Hoffmann zusammen mit einem Arbeitskollegen über den Stacheldraht nach West-Berlin. Über seine Fluchtabsicht und seine Beweggründe informiert er weder Mutter noch Bruder; dass er dem Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee entgehen will, in den die jungen Männer von der FDJ in den Betrieben massiv gezwungen werden, mag eines seiner Motive gewesen sein. [2] Wegen „Passvergehens" leitet die Volkspolizei Berlin-Treptow Anfang September 1961 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein, ein Jahr später erwirkt sie einen Haftbefehl gegen den Geflohenen. [3]
Wolfgang Hoffmann fühlt sich im Westen offenbar schnell wohl. Sportlich wie er ist, spielt er Fußball beim 1. FC Neukölln und berichtet seiner Mutter brieflich über seine Erfolge. Betrübt ist sie, als ihr Sohn schreibt, dass die Beziehung zu seiner Freundin zu Bruch gegangen ist. Doch insgesamt ist es wenig, was seine Familie über sein neues Leben in West-Berlin erfährt; die Post wird von der Stasi kontrolliert und allzu Vertrauliches teilt man sich auf diesem Weg nicht mit. Seit Ende der 1960er Jahre, so hat er es angeblich bei seiner Vernehmung gesagt, soll er ohne festes Arbeitsverhältnis und ohne ständigen Wohnsitz gewesen sein; er habe ein Hotelzimmer am Sportpalast bezogen und sein Glück im Roulette-Spiel versucht. [4] Seinen Angehörigen in Ost-Berlin ist davon nichts bekannt.
Er ist fast 29 Jahre alt und lebt bereits zehn Jahre von Mutter und Bruder getrennt, als ihn am Abend des 14. Juli 1971 der Wunsch übermächtigt, seine Mutter in Ost-Berlin zu besuchen. Seit dem Scheitern der Passierschein-Verhandlungen im Jahr 1966 bestehen für West-Berliner so gut wie keine Einreisemöglichkeiten nach Ost-Berlin; für einen ehemaligen Flüchtling besteht selbst bei Transitreisen durch die DDR Verhaftungsgefahr.
Ohne Visum steht Wolfgang Hoffmann gegen 22.40 Uhr vor den Kontrollposten am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße und verlangt Durchlass; Alkohol ist bei dieser Aktion vermutlich mit im Spiel. [5] Er wird zurückgewiesen, besteht aber darauf, seine Mutter besuchen zu dürfen. Als die Grenzkontrolleure nun seinen Personalausweis fordern, händigt er ihn aus. In diesem Moment erst scheint er die besondere Gefahr zu spüren, die ihm als „Republikflüchtling" an diesem Ort droht. Fluchtartig versucht er, den Übergang zu verlassen. Doch er wird verfolgt und auf dem Bahnsteig B, zu dem ausschließlich Westreisende Zutritt haben, festgenommen. Teilnahmslos beobachten zahlreiche Menschen, wie er abgeführt wird. [6]
Es dauert nicht lange, bis die DDR-Passkontrolleure herausgefunden haben, dass Wolfgang Hoffmann seit 1962 wegen „Republikflucht" zur Dauerfahndung ausgeschrieben ist. Der Festgenommene wird zur Volkspolizei-Inspektion nach Berlin-Treptow transportiert, noch um 2.00 Uhr einem Verhör ausgesetzt und anschließend in eine Keller-Zelle gesperrt. Am Morgen des 15. Juli 1971 führen ihn Volkspolizisten kurz nach 8.00 Uhr in den kriminaltechnischen Raum im zweiten Stockwerk des Polizeigebäudes. [7] Dort werden zunächst seine Personalien festgestellt. Bevor ihm die Fingerabdrücke abgenommen werden, soll er seine Hände waschen. Er wird gebeten aufzustehen. Wolfgang Hoffmann schnellt sprungartig auf einen Tisch und springt kopfüber durch das geschlossene Erkerfenster. Aus zehn Metern Höhe stürzt er ab. Mit einem Schädelbasisbruch und zahlreichen Knochenbrüchen bleibt er auf dem Gehweg vor dem Polizeigebäude liegen. Kurze Zeit später erliegt er auf der Fahrt ins Krankenhaus seinen Verletzungen.
Auf Anweisung des diensthabenden Arztes wird der Leichnam von Wolfgang Hoffmann umgehend in das Nierentransplantations-Zentrum des Krankenhauses Friedrichshain zur Prüfung einer möglichen Nierenentnahme überführt. Als sich dort herausstellt, dass er West-Berliner ist, verzichten die Ärzte auf die beabsichtigte Organentnahme. [8] Für die Volkspolizei in Treptow ist der Fall eindeutig: Wolfgang Hoffmann sei bei seinem Fluchtversuch nicht bewusst gewesen, dass er sich im zweiten Stockwerk befand, außerdem sei ihm der Baum vor dem Fenster vermutlich zum Festhalten geeignet erschienen. Eine Selbsttötung wird deshalb ausgeschlossen, statt dessen ein tödlicher Unfall konstatiert. [9] Möglicherweise habe sein Bruder ziemlich genau gewusst, wo er war, wendet Peter Hoffmann ein; schließlich habe sein Schulweg jahrelang an diesem Volkspolizei-Gebäude vorbeigeführt. [10]
Die Festnahme des West-Berliners und sein tödlicher Sprung aus dem Ost-Berliner Polizeigewahrsam sollen verheimlicht und vor allem im Westen nicht bekannt werden. Die Todesumstände könnten, befürchtet die DDR-Seite offenbar, das Klima der Verhandlungen der Vier Mächte über ein Berlin-Abkommen sowie der beiden deutschen Staaten über einen Grundlagenvertrag und Reiseerleichterungen stören. Unter der Regie der Staatssicherheit wird deshalb eine Informationssperre verhängt. Alle in die Geschehnisse vom 14. und 15. Juli involvierten Mitarbeiter – des Nierentransplantations-Zentrums und des Leichenraumes im Krankenhaus Friedrichshain, des Rettungsamtes Johannisthal, der VPI Treptow, des Bezirksstaatsanwalts Treptow und des Generalstaatsanwalts von Groß-Berlin – werden überprüft, zur Verschwiegenheit verpflichtet und es wird ihre Post kontrolliert. [11]
Der bereits ausgestellte Totenschein, der die Volkspolizeiinspektion Treptow als Sterbeort und einen „Fenstersturz" als Todesursache ausweist, wird von der Stasi „neutralisiert": ein neuer Totenschein wird veranlasst, in dem als Sterbeort „Berlin-Mitte (Transport)" und als Todesursache nur noch „Schädelbasisbruch" angegeben ist. [12]
Danach wartet die Stasi mehrere Tage lang den Erfolg ihrer Geheimhaltungsmaßnahmen ab. Er sei familiär in West-Berlin nicht gebunden, soll Wolfgang Hoffmann im nächtlichen Verhör ausgesagt haben; er habe dort Bekannte, aber keine festen Freunde oder Verwandte. [13] Zur Zufriedenheit der Stasi sickert nichts an die Westpresse durch: in West-Berlin werden weder das Verschwinden von Wolfgang Hoffmann noch seine quasi öffentliche Festnahme und auch nicht sein Tod publik.
Erst jetzt, acht Tage nach seinem Tod, bestellt die Stasi Wolfgang Hoffmanns Mutter ein. Man hat für sie in der Zwischenzeit die Legende vom Selbstmord eines existenziell gescheiterten Menschen erfunden. In Wahrheit sind seine Spielschulden unerheblich und der Alkoholgehalt im Blut liegt zum Zeitpunkt seines Todes bei Null. Ihr Sohn, so belügt man die Mutter gleichwohl, habe aufgrund seines „asozialen Lebenswandels" und seiner „Spielerleidenschaft" erhebliche Schulden angehäuft und „infolge der dadurch entstandenen seelischen Depression […] unter erheblicher alkoholischer Beeinflussung Selbstmord begangen". [14] Über Einzelheiten sollen Mutter und Bruder nicht informiert werden, um ihnen, so die Stasi-Strategie, „zu einem späteren Zeitpunkt – für den Fall, dass sie durch weitere Personen über die tatsächlichen Umstände des Todes von Wolfgang Hoffmann Kenntnisse erlangen –, ohne Auftreten von Widersprüchen weitere Angaben machen zu können". [15]
Seiner Mutter erscheint ein Freitod ihres Sohnes unter den geschilderten Umständen nicht ausgeschlossen – zumindest wollen die Unterlagen der Staatssicherheit dies glauben machen. Immerhin wird sie darüber in den Diensträumen des Ost-Berliner Generalstaatsanwaltes informiert. Sie erklärt sich unter dem Schock der Mitteilung mit einer anonymen Urnenbestattung einverstanden und sichert dem Stasi-Mitarbeiter, den sie wegen der Örtlichkeiten für einen Vertreter der Staatsanwaltschaft halten muss, Stillschweigen über den Tod ihres Sohnes zu. [16] Das Schweigeversprechen wird ihr durch den perfiden Hinweis abgepresst, dass anderenfalls „Gläubiger ihres verstorbenen Sohnes sich an sie wegen der Rückzahlung der hinterlassenen Schulden wenden könnten". [17] Am Ende des Gesprächs überreicht ihr der Stasi-Mann die gefälschte Sterbeurkunde.
Die Mutter alarmiert ihren Sohn Peter, der vorzeitig aus dem Urlaub zurückkehrt. [18] Eingeschüchtert wie sie ist, erfährt er von ihr nur, dass sein Bruder tot ist und sie zum Schweigen darüber verpflichtet sei; er sei aufgefordert, ebenfalls bei der „Generalstaatsanwaltschaft" vorzusprechen. Auch Peter Hoffmann erfährt in deren Gebäude in der Littenstraße in einem im fünften Stock gelegenen Büro von den angeblichen Schulden, doch hat sich die Stasi für ihn eine zusätzliche Lüge ausgedacht: Sein Bruder sei im Grenzgebiet tot aufgefunden worden, teilt ihm ein Mitarbeiter, der sich namentlich vorstellt, ohne weitere Erklärung mit. Schockiert und wie in Trance verlässt Peter Hoffmann das Gebäude. „Sie haben meinen Bruder erschossen", schießt es ihm durch den Kopf. Als er wieder klare Gedanken fassen kann und zwei Tage später Nachfragen stellen möchte, erhält er die Auskunft, dass es bei der Generalstaatsanwaltschaft einen Mitarbeiter des Namens, den er angeblich getroffen habe und den er jetzt zu sprechen wünscht, nicht gebe.
Von Beginn an hegt Wolfgang Hoffmanns Bruder auch deshalb Zweifel gegenüber der ihm vermittelten Version. Vor allem die fehlenden Informationen über die Todesursache wecken sein Misstrauen. Nachdem die Mutter 1986 gestorben ist, bemüht sich der Bruder schon 1990 zunächst noch bei der DDR-Generalstaatsanwalt, dann bei der Staatsanwaltschaft Berlin um Aufklärung. [19] Peter Hoffmann wendet sich an die Bezirksämter in Mitte, Tiergarten und Kreuzberg; er bittet die Charité, die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter, die Arbeitsgemeinschaft 13. August, das Statistische Bundesamt und die Gauck-Behörde um Auskunft; er schreibt an den Bürgermeister von Treptow und an die Senatoren für Inneres und für Justiz. Dass sein Bruder 1971 spurlos aus West-Berlin verschwinden konnte, auf ungeklärte Weise zu Tode kam und sich weder im geteilten noch im vereinigten Deutschland jemand dafür interessiert, darum kümmert oder sich verantwortlich fühlt, ist ihm unbegreiflich.
Aus den Stasi-Unterlagen und von der Staatsanwaltschaft Berlin erfährt er schließlich über die Todesumstände seines Bruders. Da weder der damalige Sektionsbefund noch die in den 1990er Jahren eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Fremdverschulden am Tod von Wolfgang Hoffmann ergeben, stellt die Staatsanwaltschaft Berlin das entsprechende Verfahren ein. [20]
Als „geheime Dienstsache" wird der Leichnam von Wolfgang Hoffmann 1971 im Krematorium Baumschulenweg eingeäschert. Mutter und Bruder wird eine Identifizierung und der Abschied von ihm verwehrt; bei der Beisetzung steht eine Urne vor ihnen, die seine Asche enthalten soll. Auch in die Trauerfeier am 20. August 1971 mischt sich die Staatssicherheit ein: Sie sei im kleinen Kreis durchzuführen, werden die Angehörigen instruiert – und auf dem Friedhof misstrauisch von Stasi-Beobachtern beäugt.
Nach dem Inkrafttreten des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin im Juni 1972 und der Vereinbarung des Berliner Senats und der DDR-Regierung über Erleichterungen und Verbesserungen im Reise- und Besucherverkehr stellt die DDR am 16. Oktober 1972 alle Personen straffrei, die das Land vor dem 1. Januar 1972 verlassen haben. [21] Für Wolfgang Hoffmann und seine Familienangehörigen kommt diese Amnestie fast auf den Tag 15 Monate zu spät.
Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
Für die Familie Hoffmann wie für die meisten Anwohner in Johannisthal und Adlershof gehört es bis in den Sommer 1961 hinein zum Alltag, die Sektorengrenze zu passieren und im angrenzenden West-Berliner Bezirk Neukölln einzukaufen oder auch ins Kino zu gehen. Mit dem Mauerbau ist es damit vorbei. Unmittelbar danach, am 24. August 1961, flieht Wolfgang Hoffmann zusammen mit einem Arbeitskollegen über den Stacheldraht nach West-Berlin. Über seine Fluchtabsicht und seine Beweggründe informiert er weder Mutter noch Bruder; dass er dem Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee entgehen will, in den die jungen Männer von der FDJ in den Betrieben massiv gezwungen werden, mag eines seiner Motive gewesen sein. [2] Wegen „Passvergehens" leitet die Volkspolizei Berlin-Treptow Anfang September 1961 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein, ein Jahr später erwirkt sie einen Haftbefehl gegen den Geflohenen. [3]
Wolfgang Hoffmann fühlt sich im Westen offenbar schnell wohl. Sportlich wie er ist, spielt er Fußball beim 1. FC Neukölln und berichtet seiner Mutter brieflich über seine Erfolge. Betrübt ist sie, als ihr Sohn schreibt, dass die Beziehung zu seiner Freundin zu Bruch gegangen ist. Doch insgesamt ist es wenig, was seine Familie über sein neues Leben in West-Berlin erfährt; die Post wird von der Stasi kontrolliert und allzu Vertrauliches teilt man sich auf diesem Weg nicht mit. Seit Ende der 1960er Jahre, so hat er es angeblich bei seiner Vernehmung gesagt, soll er ohne festes Arbeitsverhältnis und ohne ständigen Wohnsitz gewesen sein; er habe ein Hotelzimmer am Sportpalast bezogen und sein Glück im Roulette-Spiel versucht. [4] Seinen Angehörigen in Ost-Berlin ist davon nichts bekannt.
Er ist fast 29 Jahre alt und lebt bereits zehn Jahre von Mutter und Bruder getrennt, als ihn am Abend des 14. Juli 1971 der Wunsch übermächtigt, seine Mutter in Ost-Berlin zu besuchen. Seit dem Scheitern der Passierschein-Verhandlungen im Jahr 1966 bestehen für West-Berliner so gut wie keine Einreisemöglichkeiten nach Ost-Berlin; für einen ehemaligen Flüchtling besteht selbst bei Transitreisen durch die DDR Verhaftungsgefahr.
Ohne Visum steht Wolfgang Hoffmann gegen 22.40 Uhr vor den Kontrollposten am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße und verlangt Durchlass; Alkohol ist bei dieser Aktion vermutlich mit im Spiel. [5] Er wird zurückgewiesen, besteht aber darauf, seine Mutter besuchen zu dürfen. Als die Grenzkontrolleure nun seinen Personalausweis fordern, händigt er ihn aus. In diesem Moment erst scheint er die besondere Gefahr zu spüren, die ihm als „Republikflüchtling" an diesem Ort droht. Fluchtartig versucht er, den Übergang zu verlassen. Doch er wird verfolgt und auf dem Bahnsteig B, zu dem ausschließlich Westreisende Zutritt haben, festgenommen. Teilnahmslos beobachten zahlreiche Menschen, wie er abgeführt wird. [6]
Es dauert nicht lange, bis die DDR-Passkontrolleure herausgefunden haben, dass Wolfgang Hoffmann seit 1962 wegen „Republikflucht" zur Dauerfahndung ausgeschrieben ist. Der Festgenommene wird zur Volkspolizei-Inspektion nach Berlin-Treptow transportiert, noch um 2.00 Uhr einem Verhör ausgesetzt und anschließend in eine Keller-Zelle gesperrt. Am Morgen des 15. Juli 1971 führen ihn Volkspolizisten kurz nach 8.00 Uhr in den kriminaltechnischen Raum im zweiten Stockwerk des Polizeigebäudes. [7] Dort werden zunächst seine Personalien festgestellt. Bevor ihm die Fingerabdrücke abgenommen werden, soll er seine Hände waschen. Er wird gebeten aufzustehen. Wolfgang Hoffmann schnellt sprungartig auf einen Tisch und springt kopfüber durch das geschlossene Erkerfenster. Aus zehn Metern Höhe stürzt er ab. Mit einem Schädelbasisbruch und zahlreichen Knochenbrüchen bleibt er auf dem Gehweg vor dem Polizeigebäude liegen. Kurze Zeit später erliegt er auf der Fahrt ins Krankenhaus seinen Verletzungen.
Auf Anweisung des diensthabenden Arztes wird der Leichnam von Wolfgang Hoffmann umgehend in das Nierentransplantations-Zentrum des Krankenhauses Friedrichshain zur Prüfung einer möglichen Nierenentnahme überführt. Als sich dort herausstellt, dass er West-Berliner ist, verzichten die Ärzte auf die beabsichtigte Organentnahme. [8] Für die Volkspolizei in Treptow ist der Fall eindeutig: Wolfgang Hoffmann sei bei seinem Fluchtversuch nicht bewusst gewesen, dass er sich im zweiten Stockwerk befand, außerdem sei ihm der Baum vor dem Fenster vermutlich zum Festhalten geeignet erschienen. Eine Selbsttötung wird deshalb ausgeschlossen, statt dessen ein tödlicher Unfall konstatiert. [9] Möglicherweise habe sein Bruder ziemlich genau gewusst, wo er war, wendet Peter Hoffmann ein; schließlich habe sein Schulweg jahrelang an diesem Volkspolizei-Gebäude vorbeigeführt. [10]
Die Festnahme des West-Berliners und sein tödlicher Sprung aus dem Ost-Berliner Polizeigewahrsam sollen verheimlicht und vor allem im Westen nicht bekannt werden. Die Todesumstände könnten, befürchtet die DDR-Seite offenbar, das Klima der Verhandlungen der Vier Mächte über ein Berlin-Abkommen sowie der beiden deutschen Staaten über einen Grundlagenvertrag und Reiseerleichterungen stören. Unter der Regie der Staatssicherheit wird deshalb eine Informationssperre verhängt. Alle in die Geschehnisse vom 14. und 15. Juli involvierten Mitarbeiter – des Nierentransplantations-Zentrums und des Leichenraumes im Krankenhaus Friedrichshain, des Rettungsamtes Johannisthal, der VPI Treptow, des Bezirksstaatsanwalts Treptow und des Generalstaatsanwalts von Groß-Berlin – werden überprüft, zur Verschwiegenheit verpflichtet und es wird ihre Post kontrolliert. [11]
Der bereits ausgestellte Totenschein, der die Volkspolizeiinspektion Treptow als Sterbeort und einen „Fenstersturz" als Todesursache ausweist, wird von der Stasi „neutralisiert": ein neuer Totenschein wird veranlasst, in dem als Sterbeort „Berlin-Mitte (Transport)" und als Todesursache nur noch „Schädelbasisbruch" angegeben ist. [12]
Danach wartet die Stasi mehrere Tage lang den Erfolg ihrer Geheimhaltungsmaßnahmen ab. Er sei familiär in West-Berlin nicht gebunden, soll Wolfgang Hoffmann im nächtlichen Verhör ausgesagt haben; er habe dort Bekannte, aber keine festen Freunde oder Verwandte. [13] Zur Zufriedenheit der Stasi sickert nichts an die Westpresse durch: in West-Berlin werden weder das Verschwinden von Wolfgang Hoffmann noch seine quasi öffentliche Festnahme und auch nicht sein Tod publik.
Erst jetzt, acht Tage nach seinem Tod, bestellt die Stasi Wolfgang Hoffmanns Mutter ein. Man hat für sie in der Zwischenzeit die Legende vom Selbstmord eines existenziell gescheiterten Menschen erfunden. In Wahrheit sind seine Spielschulden unerheblich und der Alkoholgehalt im Blut liegt zum Zeitpunkt seines Todes bei Null. Ihr Sohn, so belügt man die Mutter gleichwohl, habe aufgrund seines „asozialen Lebenswandels" und seiner „Spielerleidenschaft" erhebliche Schulden angehäuft und „infolge der dadurch entstandenen seelischen Depression […] unter erheblicher alkoholischer Beeinflussung Selbstmord begangen". [14] Über Einzelheiten sollen Mutter und Bruder nicht informiert werden, um ihnen, so die Stasi-Strategie, „zu einem späteren Zeitpunkt – für den Fall, dass sie durch weitere Personen über die tatsächlichen Umstände des Todes von Wolfgang Hoffmann Kenntnisse erlangen –, ohne Auftreten von Widersprüchen weitere Angaben machen zu können". [15]
Seiner Mutter erscheint ein Freitod ihres Sohnes unter den geschilderten Umständen nicht ausgeschlossen – zumindest wollen die Unterlagen der Staatssicherheit dies glauben machen. Immerhin wird sie darüber in den Diensträumen des Ost-Berliner Generalstaatsanwaltes informiert. Sie erklärt sich unter dem Schock der Mitteilung mit einer anonymen Urnenbestattung einverstanden und sichert dem Stasi-Mitarbeiter, den sie wegen der Örtlichkeiten für einen Vertreter der Staatsanwaltschaft halten muss, Stillschweigen über den Tod ihres Sohnes zu. [16] Das Schweigeversprechen wird ihr durch den perfiden Hinweis abgepresst, dass anderenfalls „Gläubiger ihres verstorbenen Sohnes sich an sie wegen der Rückzahlung der hinterlassenen Schulden wenden könnten". [17] Am Ende des Gesprächs überreicht ihr der Stasi-Mann die gefälschte Sterbeurkunde.
Die Mutter alarmiert ihren Sohn Peter, der vorzeitig aus dem Urlaub zurückkehrt. [18] Eingeschüchtert wie sie ist, erfährt er von ihr nur, dass sein Bruder tot ist und sie zum Schweigen darüber verpflichtet sei; er sei aufgefordert, ebenfalls bei der „Generalstaatsanwaltschaft" vorzusprechen. Auch Peter Hoffmann erfährt in deren Gebäude in der Littenstraße in einem im fünften Stock gelegenen Büro von den angeblichen Schulden, doch hat sich die Stasi für ihn eine zusätzliche Lüge ausgedacht: Sein Bruder sei im Grenzgebiet tot aufgefunden worden, teilt ihm ein Mitarbeiter, der sich namentlich vorstellt, ohne weitere Erklärung mit. Schockiert und wie in Trance verlässt Peter Hoffmann das Gebäude. „Sie haben meinen Bruder erschossen", schießt es ihm durch den Kopf. Als er wieder klare Gedanken fassen kann und zwei Tage später Nachfragen stellen möchte, erhält er die Auskunft, dass es bei der Generalstaatsanwaltschaft einen Mitarbeiter des Namens, den er angeblich getroffen habe und den er jetzt zu sprechen wünscht, nicht gebe.
Von Beginn an hegt Wolfgang Hoffmanns Bruder auch deshalb Zweifel gegenüber der ihm vermittelten Version. Vor allem die fehlenden Informationen über die Todesursache wecken sein Misstrauen. Nachdem die Mutter 1986 gestorben ist, bemüht sich der Bruder schon 1990 zunächst noch bei der DDR-Generalstaatsanwalt, dann bei der Staatsanwaltschaft Berlin um Aufklärung. [19] Peter Hoffmann wendet sich an die Bezirksämter in Mitte, Tiergarten und Kreuzberg; er bittet die Charité, die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter, die Arbeitsgemeinschaft 13. August, das Statistische Bundesamt und die Gauck-Behörde um Auskunft; er schreibt an den Bürgermeister von Treptow und an die Senatoren für Inneres und für Justiz. Dass sein Bruder 1971 spurlos aus West-Berlin verschwinden konnte, auf ungeklärte Weise zu Tode kam und sich weder im geteilten noch im vereinigten Deutschland jemand dafür interessiert, darum kümmert oder sich verantwortlich fühlt, ist ihm unbegreiflich.
Aus den Stasi-Unterlagen und von der Staatsanwaltschaft Berlin erfährt er schließlich über die Todesumstände seines Bruders. Da weder der damalige Sektionsbefund noch die in den 1990er Jahren eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Fremdverschulden am Tod von Wolfgang Hoffmann ergeben, stellt die Staatsanwaltschaft Berlin das entsprechende Verfahren ein. [20]
Als „geheime Dienstsache" wird der Leichnam von Wolfgang Hoffmann 1971 im Krematorium Baumschulenweg eingeäschert. Mutter und Bruder wird eine Identifizierung und der Abschied von ihm verwehrt; bei der Beisetzung steht eine Urne vor ihnen, die seine Asche enthalten soll. Auch in die Trauerfeier am 20. August 1971 mischt sich die Staatssicherheit ein: Sie sei im kleinen Kreis durchzuführen, werden die Angehörigen instruiert – und auf dem Friedhof misstrauisch von Stasi-Beobachtern beäugt.
Nach dem Inkrafttreten des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin im Juni 1972 und der Vereinbarung des Berliner Senats und der DDR-Regierung über Erleichterungen und Verbesserungen im Reise- und Besucherverkehr stellt die DDR am 16. Oktober 1972 alle Personen straffrei, die das Land vor dem 1. Januar 1972 verlassen haben. [21] Für Wolfgang Hoffmann und seine Familienangehörigen kommt diese Amnestie fast auf den Tag 15 Monate zu spät.
Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle
[1]
Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Peter Hoffmann, 29. September 2008.
[2]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall eines festgenommenen, zur Zeit in Westberlin aufenthältlichen DDR-Bürgers in der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Treptow, 16.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 60-64.
[3]
Vgl. Zweiter Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall des Hoffmann, Wolfgang, 20.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 150-154.
[4]
VP-Inspektion Treptow/Abteilung K, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Hoffmann, Wolfgang, 15.7.1971, Beginn: 2.00 Uhr, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 2, Bl. 46-51. - Vgl. auch Ermittlungsbericht der VPI Treptow/Dez. II/Komm. TK in der Todesermittlungssache Wolfgang Hoffmann, 15.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 7-8.
[5]
Vgl. VP-Inspektion Treptow/Abteilung K, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Hoffmann, Wolfgang, 15.7.1971, Beginn: 2.00 Uhr, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 2, Bl. 50.
[6]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall eines festgenommenen, zur Zeit in Westberlin aufenthältlichen DDR-Bürgers in der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Treptow, 16.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 61.
[7]
Die folgende Schilderung beruht allein auf Volkspolizei- und Stasi-Dokumenten bzw. involvierten Tatzeugen. Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall eines festgenommenen, zur Zeit in Westberlin aufenthältlichen DDR-Bürgers in der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Treptow, 16.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 62. - Siehe auch: Protokoll der Vernehmung des damaligen Offiziers für Kriminaltechnik der VPI Berlin-Treptow durch die ZERV vom 5.7.1994, in: StA Berlin, Az. 2 Js 122/90, Beistück, Bl. 162-175.
[8]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall eines festgenommenen, zur Zeit in Westberlin aufenthältlichen DDR-Bürgers in der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Treptow, 16.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 60-64.
[9]
Vgl. Ermittlungsbericht der VPI Treptow/Dez. II/Komm. TK in der Todesermittlungssache Wolfgang Hoffmann, 15.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 7-8.
[10]
Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Peter Hoffmann, 29. September 2008.
[11]
Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall eines festgenommenen, zur Zeit in Westberlin aufenthältlichen DDR-Bürgers in der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Treptow, 16.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 60-64.
[12]
Die beiden Totenscheine sind überliefert in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 92 und 94.
[13]
Vgl. VP-Inspektion Treptow/Abteilung K, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Hoffmann, Wolfgang, 15.7.1971, Beginn: 2.00 Uhr, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 2, Bl. 49.
[14]
Dritte Information zum unnatürlichen Todesfall des Hoffmann, Wolfgang, 23.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 160-163, Zitat Bl. 162.
[15]
Zweiter Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über den unnatürlichen Todesfall des Hoffmann, Wolfgang, 20.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 150-154. Zitat Bl. 154.
[16]
Vgl. die Wolfgang Hoffmanns Mutter von der Stasi abgenötigte „Erklärung", 23.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 2, Bl. 21.
[17]
3. Information zum unnatürlichen Todesfall des Hoffmann, Wolfgang, 23.7.1971, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 1, Bl. 160-163, Zitat Bl. 162.
[18]
Vgl. zum Folgenden: Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Peter Hoffmann, 29. September 2008.
[19]
Vgl. Schreiben des Bruders von Wolfgang Hoffmann an die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 30.7.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 122/90, Bd. 1, Bl. 44-45.
[20]
Der Sektionsbefund des Instituts für Gerichtliche Medizin der Charité vom 16.7.1971 hält fest, dass „Zeichen einer Gewalteinwirkung durch dritte Hand" nicht festgestellt werden konnten (BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 15, Nr. 2, Bl. 25-28, Zitat Bl. 27); Verfügung der Staatsanwaltschaft Berlin, 17.9.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 122/90, Bd. 1, Bl. 76-78.
[21]
Zu den Abkommen, Regelungen und Gesetzen im Zuge der Entspannungspolitik der 1970er Jahre vgl.: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Zehn Jahre Deutschlandpolitik. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1969-1979. Bericht und Dokumentation, Bonn 1980.