geboren am 22. April 1968
ertrunken am 15. Juni 1974
in der Spree nahe der Oberbaumbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Kreuzberg und Berlin-Friedrichshain
Kurz nach 10.00 Uhr klettert Giuseppe Savoca unter dem Ufergeländer hindurch und angelt mit einem Stock im Wasser, das etwa einen halben Meter unter der Kaimauer liegt. Möglicherweise will er ein Spielzeug, das in die Spree gefallen ist, aus dem Wasser fischen. Mit ausgestrecktem Arm beugt er sich immer weiter nach vorn, bis er das Gleichgewicht verliert und ins Wasser stürzt. Verzweifelt rudert er mit den Armen, während sein Spielkamerad davonrennt, um Hilfe zu holen.Giuseppe Savoca, geboren am 22. April 1968 in West-Berlin, lebt mit seinen aus Italien zugewanderten Eltern und den beiden jüngeren Schwestern im Stadtteil Kreuzberg. Am 15. Juni 1974, einem Samstag, spielt der Sechsjährige zusammen mit einem Freund am Gröbenufer in Berlin-Kreuzberg. „Wir wollten", sagt der türkische Freund später, „nur die Fische ankieken." [1] Kurz nach 10.00 Uhr klettert Giuseppe Savoca unter dem Ufergeländer hindurch und angelt mit einem Stock im Wasser, das etwa einen halben Meter unter der Kaimauer liegt. Möglicherweise will er ein Spielzeug, das in die Spree gefallen ist, aus dem Wasser fischen. Mit ausgestrecktem Arm beugt er sich immer weiter nach vorn, bis er das Gleichgewicht verliert und ins Wasser stürzt. Verzweifelt rudert er mit den Armen, während sein Spielkamerad davonrennt, um Hilfe zu holen. [2]
Auf der etwa 60 Meter entfernten Oberbaumbrücke beobachtet ein DDR-Grenzposten das Geschehen durch sein Fernglas. Er sieht, wie das Kind in die Spree fällt, die hier in ganzer Breite zu Ost-Berlin gehört, und verständigt den Befehlsstand der Bootskompanie des NVA-Grenzregiments. Unabhängig von dieser Meldung fährt wenig später ein Streifenboot der DDR-Grenztruppen direkt an der Unfallstelle vorbei. Ein von Giuseppe Savocas Spielgefährten herbeigeholter Erwachsener ruft der Bootsbesatzung zu, ein Kind sei in die Spree gefallen. Der Bootsführer hält nur kurz und setzt seine Fahrt fort. Später wird er seine unterlassene Hilfeleistung damit begründen, dass sich keine Blasen auf der Wasseroberfläche gezeigt hätten. So habe er den Anruf vom West-Berliner Ufer für eine Provokation gehalten; zudem sei es ihm verboten gewesen, die rot-weiße Sperrlinie der Spree ohne ausdrücklichen Befehl des Kommandeurs des DDR-Grenzregiments und ohne vorherige Benachrichtigung der Grenzposten am Grenzübergang Oberbaumbrücke zu passieren. [3]
Erst als er den ausdrücklichen Befehl dazu erhält, fährt der Bootsführer wieder zur Unglücksstelle zurück, wo er gegen 10.25 Uhr zusammen mit einem weiteren DDR-Grenztruppenboot die Suche nach dem ertrunkenen Kind aufnimmt. Inzwischen haben sich etliche West-Berliner am Ufer eingefunden, von denen wohlweislich niemand die Rettung des Kindes aus der Spree unternimmt. Zehn Minuten später treffen auch die West-Berliner Polizei und die Feuerwehr ein. Wie schon bei den vorherigen Unglücksfällen mit Kindern am Gröbenufer verwehren die Grenzer auch diesmal den West-Berliner Rettungskräften, helfend einzugreifen. Die Mutter des kleinen Jungen berichtet später gegenüber der West-Berliner Presse, eine Frau hätte ihr erzählt, dass die DDR-Grenzer einen Mann, der ihren Sohn habe retten wollen, mit der Schusswaffe bedroht hätten. [4] Erst gegen 10.45 Uhr, als eine Tauchertruppe des DDR-Grenzregiments an der Unfallstelle eingetroffen ist, wird mit den Bergungsarbeiten begonnen. [5] Etwa eine Stunde nach dem Unfall wird der Sechsjährige geborgen und nach Ost-Berlin gebracht. [6]
Die Eltern des kleinen Jungen dürfen am Abend des 15. Juni 1974 nach Ost-Berlin einreisen und müssen dort ihr Kind im Institut für gerichtliche Medizin der Charité identifizieren. Zwei Tage später wird Giuseppe Savocas Leichnam von der DDR-Staatsanwaltschaft zur Bestattung freigegeben und am 19. Juni 1974 nach West-Berlin überführt, „wofür die DDR-Regierung den Eltern 54,50 DM in Rechnung stellt". [7]
Während das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" einen Tag später wahrheitswidrig behauptet, dass „unverzüglich alle notwendigen Maßnahmen" zur Rettung des Jungen eingeleitet worden seien [8], wirft die West-Berliner Presse der DDR vor, die Grenzposten hätten die Rettung behindert und verzögert. [9]
Obwohl Vertreter des West-Berliner Senats und der DDR-Regierung schon seit Monaten über Möglichkeiten zur schnellen Hilfeleistung in vergleichbaren Fällen verhandeln, zeichnet sich noch immer keine Lösung ab. Es muss mit Çetin Mert noch ein weiteres Kind ertrinken, bevor Senat und DDR-Regierung am 29. Oktober 1975 ein Abkommen über Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen in den Berliner Grenzgewässern unterzeichnen. Dieses sieht vor, dass Personen, die von West-Berlin aus in „Grenzgewässern in eine akute Notlage geraten", auch von der West-Berliner Seite aus gerettet werden können. Zuvor muss durch am Ufer aufzustellende Rettungssäulen den Grenzposten kenntlich gemacht werden, dass es sich um einen Notfall handelt. [10] Diese Rettungssäulen werden im Frühjahr 1976 an der Wassergrenze zwischen Ost- und West-Berlin installiert.
Text: Udo Baron
Erst als er den ausdrücklichen Befehl dazu erhält, fährt der Bootsführer wieder zur Unglücksstelle zurück, wo er gegen 10.25 Uhr zusammen mit einem weiteren DDR-Grenztruppenboot die Suche nach dem ertrunkenen Kind aufnimmt. Inzwischen haben sich etliche West-Berliner am Ufer eingefunden, von denen wohlweislich niemand die Rettung des Kindes aus der Spree unternimmt. Zehn Minuten später treffen auch die West-Berliner Polizei und die Feuerwehr ein. Wie schon bei den vorherigen Unglücksfällen mit Kindern am Gröbenufer verwehren die Grenzer auch diesmal den West-Berliner Rettungskräften, helfend einzugreifen. Die Mutter des kleinen Jungen berichtet später gegenüber der West-Berliner Presse, eine Frau hätte ihr erzählt, dass die DDR-Grenzer einen Mann, der ihren Sohn habe retten wollen, mit der Schusswaffe bedroht hätten. [4] Erst gegen 10.45 Uhr, als eine Tauchertruppe des DDR-Grenzregiments an der Unfallstelle eingetroffen ist, wird mit den Bergungsarbeiten begonnen. [5] Etwa eine Stunde nach dem Unfall wird der Sechsjährige geborgen und nach Ost-Berlin gebracht. [6]
Die Eltern des kleinen Jungen dürfen am Abend des 15. Juni 1974 nach Ost-Berlin einreisen und müssen dort ihr Kind im Institut für gerichtliche Medizin der Charité identifizieren. Zwei Tage später wird Giuseppe Savocas Leichnam von der DDR-Staatsanwaltschaft zur Bestattung freigegeben und am 19. Juni 1974 nach West-Berlin überführt, „wofür die DDR-Regierung den Eltern 54,50 DM in Rechnung stellt". [7]
Während das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" einen Tag später wahrheitswidrig behauptet, dass „unverzüglich alle notwendigen Maßnahmen" zur Rettung des Jungen eingeleitet worden seien [8], wirft die West-Berliner Presse der DDR vor, die Grenzposten hätten die Rettung behindert und verzögert. [9]
Obwohl Vertreter des West-Berliner Senats und der DDR-Regierung schon seit Monaten über Möglichkeiten zur schnellen Hilfeleistung in vergleichbaren Fällen verhandeln, zeichnet sich noch immer keine Lösung ab. Es muss mit Çetin Mert noch ein weiteres Kind ertrinken, bevor Senat und DDR-Regierung am 29. Oktober 1975 ein Abkommen über Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen in den Berliner Grenzgewässern unterzeichnen. Dieses sieht vor, dass Personen, die von West-Berlin aus in „Grenzgewässern in eine akute Notlage geraten", auch von der West-Berliner Seite aus gerettet werden können. Zuvor muss durch am Ufer aufzustellende Rettungssäulen den Grenzposten kenntlich gemacht werden, dass es sich um einen Notfall handelt. [10] Diese Rettungssäulen werden im Frühjahr 1976 an der Wassergrenze zwischen Ost- und West-Berlin installiert.
Text: Udo Baron
[1]
Zit. nach: Der Spiegel Nr. 28, 8.7.1974, S. 49.
[2]
Vgl. Abschlussbericht des PdVP Berlin/Abt. K zur Todesermittlungssache des italienischen Staatsbürgers Giuseppe Savoca, 19.6.1974, in: BStU, MfS, AS Nr. 109/77, Bl. 155-159; vgl. auch Der Spiegel Nr. 28, 8.7.1974, S. 49.
[3]
Vgl. Protokoll des MfS/HA IX/Untersuchungsorgan zur Befragung des Postenführers des GÜSt-Sicherungsregimentes Berlin [Name geschwärzt], 15.6.1974, in: BStU, MfS, AS Nr. 109/77, Bl. 164-165; Protokoll des MfS/HA IX/Untersuchungsorgan zur Befragung des Zugführers der Bootskompanie [Name geschwärzt], 15.6.1974, in: BStU, MfS, AS Nr. 109/77, Bl. 166-167.
[4]
Vgl. BZ, 18.6.1974.
[5] Vgl. Information des MfS/HA IX/7 zum Ertrinken eines Westberliner Kindes am 15.6.1974 an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin, 15.6.1974, in: BStU, MfS, AS 109/77, Bl. 152-154.
[6] Abschlussbericht des PDVP Berlin, 19.6.1974, in: BStU, MfS, AS 109/77, Bl. 155-159. [7] "Der nasse Tod", in: Peter Pragal/Eckart D. Stratenschulte, Der Monolog der Lautsprecher und andere Geschichten aus dem geteilten Berlin, München 1999, S. 59. [8] Neues Deutschland, 16.6.1974.
[9] Vgl. BZ, 18.6.1974. [10] Vgl. den Briefwechsel zwischen der DDR und dem Senat von Berlin über Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen an der Sektorengrenze vom 29. Oktober 1975, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Zehn Jahre Deutschlandpolitik, Bonn 1980, S. 287; zu den Hintergründen siehe aus West-Berliner Sicht Gerhard Kunze, Grenzerfahrungen. Kontakte und Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und der DDR 1949-1989, Berlin 1999, S. 404/405, aus DDR-Sicht Joachim Mitdank, Die Berlin-Politik zwischen 17. Juni 1953, dem Viermächteabkommen und der Grenzöffnung 1989. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 2003, S. 100-108.
[5] Vgl. Information des MfS/HA IX/7 zum Ertrinken eines Westberliner Kindes am 15.6.1974 an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin, 15.6.1974, in: BStU, MfS, AS 109/77, Bl. 152-154.
[6] Abschlussbericht des PDVP Berlin, 19.6.1974, in: BStU, MfS, AS 109/77, Bl. 155-159. [7] "Der nasse Tod", in: Peter Pragal/Eckart D. Stratenschulte, Der Monolog der Lautsprecher und andere Geschichten aus dem geteilten Berlin, München 1999, S. 59. [8] Neues Deutschland, 16.6.1974.
[9] Vgl. BZ, 18.6.1974. [10] Vgl. den Briefwechsel zwischen der DDR und dem Senat von Berlin über Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen an der Sektorengrenze vom 29. Oktober 1975, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Zehn Jahre Deutschlandpolitik, Bonn 1980, S. 287; zu den Hintergründen siehe aus West-Berliner Sicht Gerhard Kunze, Grenzerfahrungen. Kontakte und Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und der DDR 1949-1989, Berlin 1999, S. 404/405, aus DDR-Sicht Joachim Mitdank, Die Berlin-Politik zwischen 17. Juni 1953, dem Viermächteabkommen und der Grenzöffnung 1989. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 2003, S. 100-108.