geboren am 14. Januar 1944
erschossen am 17. August 1962
in der Zimmerstraße nahe dem Grenzübergang Friedrich-/Zimmerstraße ("Checkpoint Charlie")
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Kreuzberg
Es ist noch früh am Nachmittag, als in der Zimmerstraße, wo die Mauer quer durch das einstmals belebte Berliner Zeitungsviertel verläuft, Schüsse fallen. Bei der West-Berliner Polizei geht die erste Meldung um 14.12 Uhr ein. Wie sich bald herausstellt, gelten die Schüsse der Grenzposten zwei Jugendlichen, die zwischen Charlotten- und Markgrafenstraße über die Mauer flüchten wollen.Schon den ganzen Sommer über ist die Atmosphäre in Berlin zum Zerreißen gespannt. An der Mauer wetterleuchte es mehr denn je, schreibt im Juni 1962 ein zeitgenössischer Beobachter. [1] Kaum ein Tag, keine Woche vergeht ohne blutige Zwischenfälle. Und immer weniger ist die West-Berliner Bevölkerung bereit, die anhaltende Teilung der Stadt und die Gewaltakte gegen Mauerflüchtlinge hinzunehmen, wie Demonstrationen am 13. August, dem ersten Jahrestag des Mauerbaus, zeigen. Auch die Ereignisse, die am 17. August 1962 zum Tod von Peter Fechter führen, lösen in West-Berlin Empörung aus und halten die Stadt tagelang in Atem.
Es ist noch früh am Nachmittag, als in der Zimmerstraße, wo die Mauer quer durch das einstmals belebte Berliner Zeitungsviertel verläuft, Schüsse fallen. Bei der West-Berliner Polizei geht die erste Meldung um 14.12 Uhr ein. [2] Wie sich bald herausstellt, gelten die Schüsse der Grenzposten zwei Jugendlichen, die zwischen Charlotten- und Markgrafenstraße über die Mauer flüchten wollen. Einem von ihnen, dem 18-jährigen Bauarbeiter Helmut K., gelingt im Kugelhagel die Flucht. Sein gleichaltriger Kollege Peter Fechter aber wird getroffen und bleibt unmittelbar vor der Grenzmauer am Boden liegen. Auf beiden Seiten der Absperrungen werden zahlreiche Menschen Augenzeugen der Tragödie, die sich nun abspielt. Während der schwer verletzte Jugendliche laut um Hilfe schreit, rührt sich auf Ost-Berliner Seite lange Zeit nichts. West-Berliner Polizeibeamte fragen ihn, auf einer Leiter stehend, über die Mauer hinweg nach seinem Namen und werfen ihm Verbandszeug zu. Doch hinüberzusteigen und ihm zu helfen, wagen sie nicht. Auch Angehörige der US-amerikanischen Militärpolizei vom nahegelegenen »Checkpoint Charlie« wollen es nicht riskieren, Ost-Berliner Boden zu betreten. Sie befürchten angesichts der anhaltenden politischen Auseinandersetzungen um die Zuständigkeiten in der geteilten Stadt, einen militärischen Konflikt auszulösen. »It’ s not our problem«, soll einer von ihnen gesagt haben. So vergehen 50 lange Minuten, und Peter Fechters Schreie sind mittlerweile verstummt, als er schließlich hinter einer künstlich gelegten Nebelwand von Angehörigen der DDR-Grenztruppen weggetragen wird. Sein Tod wird wenig später im Ost-Berliner Volkspolizei-Krankenhaus offiziell festgestellt und noch am selben Abend im DDR-Rundfunk bekannt gegeben. [3]
Zur gleichen Zeit gehen die Bilder, mit denen westliche Fotografen und Kameraleute das Sterben des jugendlichen Flüchtlings dokumentiert haben, um die Welt. [4] Durch sie wird der qualvolle Tod von Peter Fechter zum Symbol für die Unmenschlichkeit des DDR-Grenzregimes. [5] Bis heute fehlt der Name Peter Fechter in keiner Chronik des 20. Jahrhunderts und in keiner Abhandlung über die Geschichte des Kalten Krieges. So hat sich die Inschrift auf seinem Grabstein »Allen unvergessen« auf traurige Weise erfüllt. [6]
Peter Fechter, der an jenem 17. August 1962 einen so grausamen öffentlichen Tod stirbt, war ein stiller, unauffälliger Ost-Berliner Jugendlicher. Im Kriegsjahr 1944 in Berlin geboren, wächst er als drittes von vier Kindern in bescheidenen Verhältnissen im Stadtbezirk Weißensee auf. Der Vater arbeitet als Maschinenbauer, die Mutter ist Verkäuferin. Der einzige Sohn verlässt die Schule im Alter von 14 Jahren und macht eine Lehre als Maurer, in Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Krieg ein gefragtes Handwerk. Seine älteste Schwester ist inzwischen verheiratet und lebt im Westteil der Stadt, wo Eltern und Geschwister sie bis zum Bau der Mauer regelmäßig besucht haben sollen. [7] Noch vor der Gesellenprüfung lernt er Helmut K. kennen, der im selben Betrieb in die Lehre geht. Seit Beginn des Jahres 1962 arbeiten sie am Wiederaufbau des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Palais an der Straße Unter den Linden mit. [8] Wie Helmut K. später in West-Berlin zu Protokoll gibt, haben sie sich schon seit längerem mit Fluchtgedanken befasst und auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit die Grenzanlagen erkundet, ohne einen konkreten Plan zu haben oder besondere Vorbereitungen zu treffen. [9] Auch die Nachforschungen, die MfS-Mitarbeiter im Nachhinein anstellen, ergeben, wie es heißt, »keinerlei Anzeichen eines vorbereiteten Grenzdurchbruchs«. [10]
Ãœber ihre Beweggründe scheinen sich die beiden Jugendlichen untereinander kaum verständigt zu haben. Jeder weiß wohl vom anderen, dass er sich mit den herrschenden politischen Verhältnissen nicht identifizieren kann und von einem besseren Leben im Westen träumt. Für Peter Fechter mag außerdem eine Rolle gespielt haben, dass ihm von der Kaderleitung des Betriebes eine Reise nach Westdeutschland verwehrt worden ist, wie aus Stasi-Akten hervorgeht. Dabei fällt seine Beurteilung eigentlich tadellos aus: »Kollege F. ist ein williger und fleißiger Facharbeiter. Bummel- und Fehlstunden fallen bei ihm nicht an.« [11] Helmut K. wiederÂum sagt über ihn: »Er war ein guter Kollege, war aufrichtig und ehrlich und deswegen hielt ich mich mit ihm. Er war somit ein guter Bekannter von mir, wenn wir auch nicht direkt befreundet waren.« [12] Eines Tages, so Helmut K., entdecken sie auf einem ihrer Streifzüge an der Schützenstraße ein Ruinengebäude, in dem eine Tischlerei untergebracht ist, deren rückwärtige Fenster zur Zimmerstraße und somit fast bis an die Mauer führen. Zwei Tage später seien sie dann während der Mittagspause spontan übereingekommen, nicht mehr zur Baustelle zurückzukehren, sondern sich in diesem Gebäude umzusehen.
Ohne aufzufallen, gelangen die beiden Jugendlichen durch die Tischlerwerkstatt in den hinteren Gebäudeteil. In einem Lagerraum finden sie ein Fenster, das noch nicht zugemauert ist. Als sie nach einer Weile Stimmen hören, springen sie aus Angst, entdeckt zu werden, kurzerhand aus dem Fenster. Ihre Schuhe haben sie vorher ausgezogen, und so laufen sie auf Strümpfen auf die wenige Meter entfernte Mauer zu. Als die ersten Schüsse fielen, so beschreibt es Helmut K., sei Peter Fechter wie angewurzelt stehen geblieben. »Ich war inzwischen ebenfalls an der Mauer angelangt, sprang hoch und zwängte mich durch den auf der Mauer angebrachten Stacheldraht. Warum Peter nicht geklettert ist, er hätte vor mir auf der Mauer sein müssen, weiß ich nicht. Er sprach kein Wort, und ich hatte den Eindruck, als die Schüsse fielen, dass Peter Fechter einen Schock bekommen hat. Ich rief ihm noch laut zu: ›Nun los, nun los, nun mach doch!‹ Er rührte sich aber nicht.« [13]
Wie aus Grenztruppen-Akten hervorgeht, sind die beiden Flüchtlinge ohne Vorwarnung von beiden Seiten beschossen worden. Vier Grenzposten geben insgesamt 35 Schüsse ab. Peter Fechter sei beim Anspringen an die Mauer getroffen worden, zurückgerutscht und habe sich dann hinter die Mauerverstärkung gestellt. [14] Demnach hat er seinen Fluchtversuch zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben. Doch statt den wehrlosen Jugendlichen festzunehmen, beziehen die Grenzposten eine andere Position und schießen solange, bis er zusammenbricht. Als er dann laut um Hilfe ruft, gehen sie in Deckung, angeblich, weil sie sich von West-Berliner Polizeibeamten, die mittlerweile auf der anderen Seite der Mauer ihre Gewehre auf sie richten, bedroht fühlen.
Später werden Fehler eingeräumt und Forderungen laut, wonach »in solchen Fällen« Möglichkeiten geschaffen werden müssten, »Verletzte schnell aus dem mittelbaren Grenzgebiet zu entfernen, auch unter dem Gesichtspunkt, dem Gegner damit keine Argumente für seine Hetze zu liefern«. [15] Offizielle DDR-Berichte schreiben hingegen die Sichtweise fort, wonach West-Berliner Polizisten, Fotografen und Kameraleute durch ihr Verhalten die Bergung des schwer verletzten Flüchtlings verzögert hätten. Diese Rechtfertigungsversuche gipfeln im Kommentar des Chef-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler, der das rücksichtslose Vorgehen der Grenzposten zur Staatsräson erhebt und das Opfer mit folgenden Worten herabwürdigt: »Und wenn dann solch ein Element […] unmittelbar an der Grenze verwundet und nicht sofort geborgen wird – dann ist das Geschrei groß. […] Das Leben eines jeden einzelnen unserer tapferen Jungen in Uniform ist uns mehr wert als das Leben eines Gesetzesbrechers. Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben – dann kann man sich Blut, Tränen und Geschrei sparen.« [16]
Am Tag, als der »Schwarze Kanal« diesen Kommentar ausstrahlt, findet auf dem Friedhof der Auferstehungsgemeinde in Berlin-Weißensee die Beerdigung von Peter Fechter statt. Ist der Tod des einzigen Sohnes für die Familie ohnehin ein schwerer Verlust, so haben seine Angehörigen darüber hinaus jahrzehntelang unter den Repressalien der DDR-Behörden zu leiden. Im Juli 1990 stellen die Schwestern von Peter Fechter Strafanzeige und bringen damit die Ermittlungen in Gang, die schließlich zur Verurteilung von zwei Schützen führen. Des Totschlags schuldig gesprochen, erhalten sie Freiheitsstrafen von 20 und 21 Monaten, die zur ÂBewährung ausgesetzt werden. [17] In der Hauptverhandlung ergreift auch Ruth Fechter, die jüngste Schwester, die den Prozess als Nebenklägerin verfolgt, das Wort. Ihr sei es darum gegangen, lässt sie durch ihren Anwalt erklären, endlich aus »der Verdammung zu Untätigkeit und Abwarten« und »aus der bis dahin bestehenden ObjektÂrolle« herauszukommen. Mit bewegenden Worten schildert sie, wie der tragische Tod des Bruders, die Ohnmacht angesichts seiner öffentlichen Diffamierung und die erzwungene Verpflichtung, von all dem nicht zu sprechen, das Leben der Familie bestimmt hätten. »Diese Erfahrung von Ausgrenzung und das Leben mit Feindbildern als einer Alltagserscheinung, die nicht dem eigenen Wollen entsprang, sondern von außen aufgezwungen werden sollte, wurde zu einem Grunderlebnis der Familie Fechter.« Nach all den Jahren habe die Prozessbeteiligung als Nebenklägerin eine Möglichkeit geboten, an der Aufklärung, Aufarbeitung und Bewertung der Umstände des Todes ihres Bruders unmittelbar mitzuwirken. Auch wenn, wie sie hinzufügt, in der juristischen Perspektive gelegentlich verloren gehe, »daß sich hier Weltgeschichte mit einem individuellen Schicksal auf fatale Weise gekreuzt hat«. [18]
Text: Christine Brecht
Es ist noch früh am Nachmittag, als in der Zimmerstraße, wo die Mauer quer durch das einstmals belebte Berliner Zeitungsviertel verläuft, Schüsse fallen. Bei der West-Berliner Polizei geht die erste Meldung um 14.12 Uhr ein. [2] Wie sich bald herausstellt, gelten die Schüsse der Grenzposten zwei Jugendlichen, die zwischen Charlotten- und Markgrafenstraße über die Mauer flüchten wollen. Einem von ihnen, dem 18-jährigen Bauarbeiter Helmut K., gelingt im Kugelhagel die Flucht. Sein gleichaltriger Kollege Peter Fechter aber wird getroffen und bleibt unmittelbar vor der Grenzmauer am Boden liegen. Auf beiden Seiten der Absperrungen werden zahlreiche Menschen Augenzeugen der Tragödie, die sich nun abspielt. Während der schwer verletzte Jugendliche laut um Hilfe schreit, rührt sich auf Ost-Berliner Seite lange Zeit nichts. West-Berliner Polizeibeamte fragen ihn, auf einer Leiter stehend, über die Mauer hinweg nach seinem Namen und werfen ihm Verbandszeug zu. Doch hinüberzusteigen und ihm zu helfen, wagen sie nicht. Auch Angehörige der US-amerikanischen Militärpolizei vom nahegelegenen »Checkpoint Charlie« wollen es nicht riskieren, Ost-Berliner Boden zu betreten. Sie befürchten angesichts der anhaltenden politischen Auseinandersetzungen um die Zuständigkeiten in der geteilten Stadt, einen militärischen Konflikt auszulösen. »It’ s not our problem«, soll einer von ihnen gesagt haben. So vergehen 50 lange Minuten, und Peter Fechters Schreie sind mittlerweile verstummt, als er schließlich hinter einer künstlich gelegten Nebelwand von Angehörigen der DDR-Grenztruppen weggetragen wird. Sein Tod wird wenig später im Ost-Berliner Volkspolizei-Krankenhaus offiziell festgestellt und noch am selben Abend im DDR-Rundfunk bekannt gegeben. [3]
Zur gleichen Zeit gehen die Bilder, mit denen westliche Fotografen und Kameraleute das Sterben des jugendlichen Flüchtlings dokumentiert haben, um die Welt. [4] Durch sie wird der qualvolle Tod von Peter Fechter zum Symbol für die Unmenschlichkeit des DDR-Grenzregimes. [5] Bis heute fehlt der Name Peter Fechter in keiner Chronik des 20. Jahrhunderts und in keiner Abhandlung über die Geschichte des Kalten Krieges. So hat sich die Inschrift auf seinem Grabstein »Allen unvergessen« auf traurige Weise erfüllt. [6]
Peter Fechter, der an jenem 17. August 1962 einen so grausamen öffentlichen Tod stirbt, war ein stiller, unauffälliger Ost-Berliner Jugendlicher. Im Kriegsjahr 1944 in Berlin geboren, wächst er als drittes von vier Kindern in bescheidenen Verhältnissen im Stadtbezirk Weißensee auf. Der Vater arbeitet als Maschinenbauer, die Mutter ist Verkäuferin. Der einzige Sohn verlässt die Schule im Alter von 14 Jahren und macht eine Lehre als Maurer, in Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Krieg ein gefragtes Handwerk. Seine älteste Schwester ist inzwischen verheiratet und lebt im Westteil der Stadt, wo Eltern und Geschwister sie bis zum Bau der Mauer regelmäßig besucht haben sollen. [7] Noch vor der Gesellenprüfung lernt er Helmut K. kennen, der im selben Betrieb in die Lehre geht. Seit Beginn des Jahres 1962 arbeiten sie am Wiederaufbau des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Palais an der Straße Unter den Linden mit. [8] Wie Helmut K. später in West-Berlin zu Protokoll gibt, haben sie sich schon seit längerem mit Fluchtgedanken befasst und auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit die Grenzanlagen erkundet, ohne einen konkreten Plan zu haben oder besondere Vorbereitungen zu treffen. [9] Auch die Nachforschungen, die MfS-Mitarbeiter im Nachhinein anstellen, ergeben, wie es heißt, »keinerlei Anzeichen eines vorbereiteten Grenzdurchbruchs«. [10]
Ãœber ihre Beweggründe scheinen sich die beiden Jugendlichen untereinander kaum verständigt zu haben. Jeder weiß wohl vom anderen, dass er sich mit den herrschenden politischen Verhältnissen nicht identifizieren kann und von einem besseren Leben im Westen träumt. Für Peter Fechter mag außerdem eine Rolle gespielt haben, dass ihm von der Kaderleitung des Betriebes eine Reise nach Westdeutschland verwehrt worden ist, wie aus Stasi-Akten hervorgeht. Dabei fällt seine Beurteilung eigentlich tadellos aus: »Kollege F. ist ein williger und fleißiger Facharbeiter. Bummel- und Fehlstunden fallen bei ihm nicht an.« [11] Helmut K. wiederÂum sagt über ihn: »Er war ein guter Kollege, war aufrichtig und ehrlich und deswegen hielt ich mich mit ihm. Er war somit ein guter Bekannter von mir, wenn wir auch nicht direkt befreundet waren.« [12] Eines Tages, so Helmut K., entdecken sie auf einem ihrer Streifzüge an der Schützenstraße ein Ruinengebäude, in dem eine Tischlerei untergebracht ist, deren rückwärtige Fenster zur Zimmerstraße und somit fast bis an die Mauer führen. Zwei Tage später seien sie dann während der Mittagspause spontan übereingekommen, nicht mehr zur Baustelle zurückzukehren, sondern sich in diesem Gebäude umzusehen.
Ohne aufzufallen, gelangen die beiden Jugendlichen durch die Tischlerwerkstatt in den hinteren Gebäudeteil. In einem Lagerraum finden sie ein Fenster, das noch nicht zugemauert ist. Als sie nach einer Weile Stimmen hören, springen sie aus Angst, entdeckt zu werden, kurzerhand aus dem Fenster. Ihre Schuhe haben sie vorher ausgezogen, und so laufen sie auf Strümpfen auf die wenige Meter entfernte Mauer zu. Als die ersten Schüsse fielen, so beschreibt es Helmut K., sei Peter Fechter wie angewurzelt stehen geblieben. »Ich war inzwischen ebenfalls an der Mauer angelangt, sprang hoch und zwängte mich durch den auf der Mauer angebrachten Stacheldraht. Warum Peter nicht geklettert ist, er hätte vor mir auf der Mauer sein müssen, weiß ich nicht. Er sprach kein Wort, und ich hatte den Eindruck, als die Schüsse fielen, dass Peter Fechter einen Schock bekommen hat. Ich rief ihm noch laut zu: ›Nun los, nun los, nun mach doch!‹ Er rührte sich aber nicht.« [13]
Wie aus Grenztruppen-Akten hervorgeht, sind die beiden Flüchtlinge ohne Vorwarnung von beiden Seiten beschossen worden. Vier Grenzposten geben insgesamt 35 Schüsse ab. Peter Fechter sei beim Anspringen an die Mauer getroffen worden, zurückgerutscht und habe sich dann hinter die Mauerverstärkung gestellt. [14] Demnach hat er seinen Fluchtversuch zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben. Doch statt den wehrlosen Jugendlichen festzunehmen, beziehen die Grenzposten eine andere Position und schießen solange, bis er zusammenbricht. Als er dann laut um Hilfe ruft, gehen sie in Deckung, angeblich, weil sie sich von West-Berliner Polizeibeamten, die mittlerweile auf der anderen Seite der Mauer ihre Gewehre auf sie richten, bedroht fühlen.
Später werden Fehler eingeräumt und Forderungen laut, wonach »in solchen Fällen« Möglichkeiten geschaffen werden müssten, »Verletzte schnell aus dem mittelbaren Grenzgebiet zu entfernen, auch unter dem Gesichtspunkt, dem Gegner damit keine Argumente für seine Hetze zu liefern«. [15] Offizielle DDR-Berichte schreiben hingegen die Sichtweise fort, wonach West-Berliner Polizisten, Fotografen und Kameraleute durch ihr Verhalten die Bergung des schwer verletzten Flüchtlings verzögert hätten. Diese Rechtfertigungsversuche gipfeln im Kommentar des Chef-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler, der das rücksichtslose Vorgehen der Grenzposten zur Staatsräson erhebt und das Opfer mit folgenden Worten herabwürdigt: »Und wenn dann solch ein Element […] unmittelbar an der Grenze verwundet und nicht sofort geborgen wird – dann ist das Geschrei groß. […] Das Leben eines jeden einzelnen unserer tapferen Jungen in Uniform ist uns mehr wert als das Leben eines Gesetzesbrechers. Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben – dann kann man sich Blut, Tränen und Geschrei sparen.« [16]
Am Tag, als der »Schwarze Kanal« diesen Kommentar ausstrahlt, findet auf dem Friedhof der Auferstehungsgemeinde in Berlin-Weißensee die Beerdigung von Peter Fechter statt. Ist der Tod des einzigen Sohnes für die Familie ohnehin ein schwerer Verlust, so haben seine Angehörigen darüber hinaus jahrzehntelang unter den Repressalien der DDR-Behörden zu leiden. Im Juli 1990 stellen die Schwestern von Peter Fechter Strafanzeige und bringen damit die Ermittlungen in Gang, die schließlich zur Verurteilung von zwei Schützen führen. Des Totschlags schuldig gesprochen, erhalten sie Freiheitsstrafen von 20 und 21 Monaten, die zur ÂBewährung ausgesetzt werden. [17] In der Hauptverhandlung ergreift auch Ruth Fechter, die jüngste Schwester, die den Prozess als Nebenklägerin verfolgt, das Wort. Ihr sei es darum gegangen, lässt sie durch ihren Anwalt erklären, endlich aus »der Verdammung zu Untätigkeit und Abwarten« und »aus der bis dahin bestehenden ObjektÂrolle« herauszukommen. Mit bewegenden Worten schildert sie, wie der tragische Tod des Bruders, die Ohnmacht angesichts seiner öffentlichen Diffamierung und die erzwungene Verpflichtung, von all dem nicht zu sprechen, das Leben der Familie bestimmt hätten. »Diese Erfahrung von Ausgrenzung und das Leben mit Feindbildern als einer Alltagserscheinung, die nicht dem eigenen Wollen entsprang, sondern von außen aufgezwungen werden sollte, wurde zu einem Grunderlebnis der Familie Fechter.« Nach all den Jahren habe die Prozessbeteiligung als Nebenklägerin eine Möglichkeit geboten, an der Aufklärung, Aufarbeitung und Bewertung der Umstände des Todes ihres Bruders unmittelbar mitzuwirken. Auch wenn, wie sie hinzufügt, in der juristischen Perspektive gelegentlich verloren gehe, »daß sich hier Weltgeschichte mit einem individuellen Schicksal auf fatale Weise gekreuzt hat«. [18]
Text: Christine Brecht
[1]
Sebastian Haffner, Auf der Flucht erschossen. Will Chruschtschow den Ulbricht zügeln?, in: Christ und Welt, 22.6.1962, S. 5.
[2]
Funkmeldung der West-Berliner Polizei, 17.8.1962, in: PHS, Sammlung Peter Fechter, o.Pag.
[3]
Vgl. Ereignismeldung der West-Berliner Polizei, 18.8.1962, in: PHS, Bestand Ereignismeldungen der West-Berliner Schutzpolizei, o.Pag.
[4]
Vgl. Christoph Hamann, Schnappschuss und Ikone. Das Foto von Peter Fechters Fluchtversuch 1962, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 2, URL: http: /  / www.zeithistorische-forschungen.de / 16126041-Hamann-2-2005.
[5]
Vgl. auch Roman Grafe, »Ein Akt barbarischer Unmenschlichkeit«. Der Tod des Mauerflüchtlings Peter Fechter vor 40 Jahren, in: Deutschland Archiv 35 (2002), S. 793–798.
[6]
Siehe auch Lars-Broder Keil/Sven Felix Kellerhoff, Mord an der Mauer. Der Fall Peter Fechter, Berlin 2012.
[7]
Vgl. Ermittlungsbericht [des MfS / ]KD Berlin-Weißensee betr. Peter Fechter, 18.8.1962, in: BStU, MfS, ZKG Nr. 7610, Bl. 9– 10, sowie Aktenvermerk [des MfS / ]HA V / 2 betr. Feststellung der Zusammenhänge des Grenzdurchbruchs von Peter Fechter und deren ehem. Verbindungen, 11.1.1963, in: Ebd., Bl. 11– 14.
[8]
Vgl. Ermittlungsbericht der VfS Groß-Berlin / Abt. III / 3 betr. Peter Fechter, 18.8.1962, in: Ebd., Bl. 3–4, sowie Personalbogen von Peter Fechter, 2.8.1961, in: Ebd., Bl. 25–26.
[9]
Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung des Mitflüchtlings von Peter Fechter durch die West-Berliner Polizei, 21.8.1962, in: LAB, B Rep 002, Nr. 3660, o.Pag.
[10]
Bericht [des MfS] / Abt. VII / 1 betr. vollendeten und versuchten Grenzdurchbruch an der Staatsgrenze, 18.8.1962, in: BStU, MfS, ZKG Nr. 7610, Bl. 1–2, Zitat Bl. 2.
[11]
Entwurf des Prod.-Abschn.-Ltr / VEB Ingenieurhochbau Berlin betr. Beurteilung des Koll. Peter Fechter, zwecks Reisegenehmigung nach Westdeutschland, 13.6.1962, in: Ebd., Bl. 32.
[12]
Niederschrift der Zeugenvernehmung des Mitflüchtlings von Peter Fechter durch die West-Berliner Polizei, 21.8.1962, in: LAB, B Rep 002, Nr. 3660, o.Pag.
[13]
Ebd. – Siehe zu Peter Fechters Fluchtbegleiter auch: Rainer Erices/Jan Schönfelder, »Wir wollten frei sein«. Peter Fechters Tod an der Berliner Mauer erschütterte 1962 die Welt. Jetzt berichtet erstmals sein Freund und Gefährte Helmut Kulbeik über die dramatischen Stunden der Flucht, in: Zeit Nr. 39, 12.7.2012, sowie Rainer Erices/Jan Schönfelder, Der ewige Flüchtling. Peter Fechters unbekannter Begleiter, in: Deutschland Archiv 3/2012, S. 402–405.
[14]
Vgl. Bericht des MdI / 1.GB (B) / Kommandeur zum versuchten Grenzdurchbruch in Verbindung mit einem vollzogenen Grenzdurchbruch am 17.8.62, 17.8.1962, in: BArch, VA-07 / 16930, Bl. 2–5.
[15]
Einzel-Information Nr. 539 / 62 des MfS / ZAIG über den schweren Grenzdurchbruch in der Zimmerstraße am 17. 8. 1962, 18. 8. 1962, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 581, Bl. 40–43, Zitat Bl. 43.
[16]
Schwarzer Kanal, DDR-Fernsehen, 27.8.1962.
[17]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.3.1997, in: StA Berlin, Az. 27 Js 83 / 90, Bd. 6, Bl. 120a– 120g, hier Bl. 120a– 120b. Auszugsweise abgedruckt in: Klaus Marxen / Gerhard Werle (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Berlin 2002, S. 239–248.
[18]
Uwe Ewald, Schlußvortrag für die Nebenklägerin Ruth Fechter. Urteil gegen ehemalige Angehörige der DDR-Grenztruppen im Fechter-Prozeß, in: Neue Justiz 51 (1997), S. 407–408.