geboren am 17. Mai 1942
erschossen und ertrunken am 27. April 1973
in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Tiergarten
Er fällt – oder wirft sich – zu Boden, scheint getroffen, kriecht dann aber weiter und überwindet wasserseitig die vorletzte Sperre, den Streckmetallgitterzaun. Dabei wird er weiter beschossen, und zwar jetzt vom Postenturm am anderen Ufer – aus 300 Meter Entfernung. Zwei Meter nur und ein leicht zu überwindender Maschendrahtzaun trennen Manfred Gertzki von der Demarkationslinie zu West-Berlin, als er getroffen auf den Uferrand stürzt und reglos liegen bleibt.Manfred Gertzki, geboren am 17. Mai 1942 in Danzig, verliert während des Zweiten Weltkriegs seinen Vater und seinen Bruder. 1945 flieht seine Mutter mit ihm zunächst nach Eisenach; in Chemnitz, dem späteren Karl-Marx-Stadt, werden sie heimisch. Manfred Gertzki erlernt den Beruf eines Blechschlossers. [1] Nach seinem Wehrdienst bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee bildet er sich zum Ingenieur für Maschinenbau weiter. Er findet Arbeit im Forschungszentrum des VEB Robotron in Karl-Marx-Stadt und schließt 1972 ein Abendstudium an der Technischen Hochschule als Diplom-Ingenieur mit der Note sehr gut ab. Als Leichtathlet gewinnt er zwischen 1967 und 1973 bei Bezirksmeisterschaften zahlreiche Preise im Diskuswerfen und Kugelstoßen.
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 1967 hat er nur noch in der Bundesrepublik nahe Angehörige. Wie und wann er sich entschließt, dort ein neues Leben zu beginnen, ist nicht zurückzuverfolgen. Seine Flucht allerdings hat er minutiös geplant und vorbereitet und bereits in deren Vorfeld Teile seiner persönlichen Habe in den Westen geschickt. Die ihm wichtigsten persönlichen Dokumente führt er auf der Flucht in einer Aktentasche mit sich.
Manfred Gertzki hat sich eine schusssichere Weste gebastelt, hat zwei Millimeter dicke Metallplättchen auf Wachstuch genietet und dies in seine Jacke genäht. Einen Motorradhelm hat er von innen mit einer stählernen, herablassbaren Gesichtsmaske versehen. 50 Kilogramm Gewicht trägt der sportliche Ingenieur an seiner Rüstung, von der er sich Kugelsicherheit verspricht. So bewehrt begibt er sich am frühen Abend des 27. April 1973 in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes ins Grenzgebiet. [2] Der Spreekanal wird hier gerade ausgebaut, die Grenzanlagen sind im Umbau und vorübergehend etwas provisorisch. Manfred Gertzki knackt mit einem Stahlstab das Schloss des Hinterlandzauntores und gelangt im Sichtschutz der Böschung auf der Uferbefestigung bis in unmittelbare Nähe der Mauer, die an dieser Stelle in einem Streckmetallzaun zum Ufer ausläuft, den man wasserseitig umklettern kann. Hier allerdings gerät er für wenige Fluchtmeter ins Blickfeld des nur 15 Meter entfernten Wachturmes »Schallplatte«, der seine Bezeichnung dem im ehemaligen Reichspräsidenten-Palais untergebrachten volkseigenen Betrieb »Deutsche Schallplatte« verdankt. Diese Bedrohung hat er einkalkuliert, und dafür fühlt er sich gerüstet. Dass auch am anderen Spreeufer, etwa 300 Meter entfernt, an der Kronprinzenbrücke/Ecke Reinhardtstraße ein Beobachtungsturm steht, hat er vermutlich nicht für so bedeutsam erachtet, wie es schließlich für ihn werden sollte.
Über das Grenzmeldenetz erhalten die Posten in beiden Türmen Meldung über den eingedrungenen Flüchtling. Sobald er in ihr Schussfeld gerät, nehmen die beiden Posten im Wachturm »Schallplatte« Manfred Gertzki aus kurzer Distanz unter Feuer. Er fällt – oder wirft sich – zu Boden, scheint getroffen, kriecht dann aber weiter und überwindet wasserseitig die vorletzte Sperre, den Streckmetallgitterzaun. Dabei wird er weiter beschossen, und zwar jetzt vom Postenturm am anderen Ufer – aus 300 Meter Entfernung. Zwei Meter nur und ein leicht zu überwindender Maschendrahtzaun trennen Manfred Gertzki von der Demarkationslinie zu West-Berlin, als er getroffen auf den Uferrand stürzt und reglos liegen bleibt. Im und um den Reichstag herum bleiben die Schüsse nicht unbemerkt. Am Spreeufer, in unmittelbarer Nähe des Geschehens, sammeln sich Passanten, auch britische Militärangehörige und West-Berliner Polizei. [3] Die Versammelten lassen ihrer Empörung freien Lauf, beschimpfen die unmittelbar vor ihnen agierenden Grenzsoldaten. Einzugreifen wagt jedoch niemand. Angesichts des Menschenauflaufs suchen die DDR-Grenzer den Flüchtling so schnell wie möglich zu bergen. Ein Oberstleutnant versucht vergeblich, ihn aus dem »vorgelagerten Territorium« zurück zu zerren. Ein Zoll-Boot der nahen Grenzübergangsstelle Marschallbrücke unternimmt den Versuch, am Tatort festzumachen, um Manfred Gertzki aufzunehmen, was daran scheitert, dass hier kein Anlegepunkt und die Strömung erheblich ist. »Schmeiß‘ ihn doch ins Wasser«, ruft die Bootsbesatzung daraufhin jenem Oberstleutnant zu, der den Niedergeschossenen bis dahin weder untersucht noch ihm Erste Hilfe geleistet hat. [4] Um zu verhindern, »daß der Täter durch westberliner Personen bzw. Uniformierte geborgen wird«, wie es in einem Stasi-Bericht heißt, schiebt der Grenzer den Flüchtling tatsächlich in die Spree. Das Gewicht der Stahlrüstung zieht Manfred Gertzki sofort auf den Grund des Gewässers. [5]
Etwa zwei Stunden später, gegen 19.40 Uhr, gelingt es Tauchern der DDR-Feuerwehr, Manfred Gertzki zu bergen. Um den Toten den Blicken der West-Berliner Zuschauer und mehr noch den Kameras der Pressereporter zu entziehen, wird er mit Schnüren außenbords am Boot befestigt und abtransportiert.
Im Westen beherrscht der »Mord am Reichstag« in der Presse des folgenden Tages die Schlagzeilen. »Berlin-Besucher wurden Augenzeugen des Verbrechens am Reichstag«, titelt die »Welt« und schreibt, dass der erschossene Flüchtling »wie ein Tierkadaver von einem Wachboot abgeschleppt« worden sei. [6] Auch Rundfunk und Fernsehen berichten; [7] im Unterschied zu den Zeitungen erreichen sie auch das Ost-Publikum. Wenige Wochen vor Beginn der Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin kommt der SED-Führung diese Aufmerksamkeit besonders ungelegen. Wird erst der Name des Toten bekannt, ist mit weiteren Berichten zu rechnen.
Die Staatssicherheit registriert jedoch nach kurzer Zeit erleichtert, dass niemand in der DDR Manfred Gertzki zu vermissen scheint. Die Gelegenheit ist somit günstig, seinen Namen geheim zu halten. Die »Leichensache gegen den Grenzprovokateur Gertzki«, beschließt die Stasi zwei Wochen nach seinem Tod, soll bei allen offiziellen Dienststellen als »unbekannt« abgeschlossen werden. [8]
Unter Stasi-Einfluss stellt das Standesamt des Rats des Bezirkes Berlin-Mitte am 14. Mai 1973 eine falsche Sterbeurkunde aus – für einen »unbekannten Mann, etwa 25–30 Jahre alt«. [9] Auch das »Städtische Bestattungswesen« und das Krematorium Baumschulenweg werden manipuliert: Als »unbekannter Toter« wird Manfred Gertzki eingesargt, am 15. Mai 1973 im Krematorium Baumschulenweg eingeäschert und auf dem Urnenhain des Krematoriums anonym beigesetzt. [10] Währenddessen durchsucht die Stasi in Karl-Marx-Stadt seine Wohnung konspirativ und zieht alles ein, was Schlussfolgerungen auf seine Flucht zulässt. Das MfS veranlasst zudem Mitte Mai seinen Betrieb, eine Vermisstenanzeige zu erstatten. Die Anzeige bietet der Volkspolizei, unter der Regie der Stasi, eine Handhabe, gegen den Getöteten ein Ermittlungsverfahren wegen ungesetzlichen Verlassens der DDR einzuleiten, einen Haftbefehl zu erlassen und ihn zur Fahndung auszuschreiben. Das Ermittlungsverfahren wiederum schafft die gesetzliche Grundlage für die Auflösung seiner Wohnung; der Erlös wird dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Noch bis zum Jahresende 1973 wird die Post von Manfred Gertzki kontrolliert. Zufrieden resümiert die Stasi im Februar 1974, dass alle offiziellen und inoffiziellen Überprüfungen keinen Hinweis erbracht hätten, »daß andere Personen von dem Vorkommnis Kenntnis haben«. [11]
Im Herbst 1997, mehr als 24 Jahre nach den Schüssen auf Manfred Gertzki, stehen die drei Schützen vor Gericht, die damals belobigt und ausgezeichnet wurden. Die Beweislage ist kompliziert. Da 1973 auf eine Obduktion verzichtet wurde, muss offen bleiben, ob Manfred Gertzki »an den Folgen der erlittenen Schußverletzungen oder durch Ertrinken gestorben ist«. [12]s Den beiden Grenzposten, die vom Wachturm »Schallplatte« aus nächster Nähe auf Manfred Gertzki gefeuert haben, kann ein strafbares Verhalten nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden, weshalb sie freigesprochen werden müssen. Zu ihren Gunsten nimmt das Gericht an, dass sie ohne Tötungsvorsatz geschossen und ihn entweder beide nicht getroffen hätten oder aber der jeweils andere von ihnen. Wegen versuchten Totschlags mit bedingtem Vorsatz wird allein der damals 19-jährige Postenführer, der vom Wachturm Reinhardtstraße aus 300 Meter Entfernung geschossen hat, unter Anwendung des Jugendstrafrechts zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird.
Mit der Feststellung, dass niemand von dem »Vorkommnis« wusste, irrte die Staatssicherheit. So sehr der Diplom-Ingenieur auf Grund seiner Panzerung die Möglichkeit seines Todes ausschloss: Ein Scheitern seiner Flucht und seine Inhaftierung kalkulierte er durchaus ein. Für seine West-Verwandten im Ruhrgebiet verfasste er zwei Tage vor seiner Flucht einen Brief und deponierte ihn bei seinem Freund. Vier Wochen nach seinem Fluchtversuch sollte dieser ihn absenden, falls er bis dahin nichts von Manfred Gertzki hören würde. Anfang Juli 1973 erreichte der Brief Gertzkis Onkel und Tante im Westen. »Da ich mich gegen Schußwaffen entsprechend schützend ausrichte«, schrieb ihnen ihr getöteter Neffe, »ist mit schweren Verletzungen oder schlimmer nicht zu rechnen.« [13] Am Tag darauf erhielten sie ein anonymes Schreiben: »Manfred weilt nicht mehr unter den Lebenden.« [14] Zu seinem 40. Todestag traten seine Freunde Gerhard, Hartwig und Roland am 27. April 2013 mit einer Gedenkanzeige für Manfred Gertzki in der Freien Presse Chemnitz in die Öffentlichkeit. Sie erinnerten an seine sportlichen Erfolge als Leichtathlet im Sportklub Karl-Marx-Stadt und daran, dass er die Konstruktion der sich drehenden Sonne der Galilei-Skulptur in der Stadthalle Chemnitz geschaffen hatte. »Fernweh und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit veranlassten ihn zu seinem Fluchtversuch.« [15]
Manfred Gertzki hatte seine Freunde in sein Fluchtvorhaben eingeweiht; sogar deren Ehefrauen wussten darüber Bescheid – und durchkreuzte damit den Stasi-Plan, ihn spur- und namenlos verschwinden zu lassen. Gemeinsam waren sie in Berlin, um die Grenzgegend auszukundschaften. Manfred, so sagen die Freunde, habe seine Flucht langfristig vorbereitet, dann aber wegen der deutsch-deutschen Verhandlungen befürchtet, dass Entscheidungen hinsichtlich der Staatsbürgerschaft getroffen werden könnten und er nach einer Flucht möglicherweise nicht mehr automatisch die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt bekäme. Deshalb habe er so schnell wie möglich weggewollt. Durch die Ortsbegehung seien ihm die Standorte beider Wachtürme bekannt gewesen. Manfred Gertzki habe sich aber intensiv mit den Waffen, Schussverläufen, der Aufprallkraft von Kugeln usw. beschäftigt und ausgerechnet, dass 2-mm-Metallplatten ihm ausreichend Schutz gewähren würden. Beide kannten den Tag, an dem Manfred Gertzki flüchten wollte. Am Abend sahen sie in den Westnachrichten den Bericht über einen gescheiterten Fluchtversuch am Reichstag und wussten sofort, dass dies ihren Freund betraf. Bei Gerhard P. war jener verschlossene Brief an seine Westverwandtschaft mit der Bitte hinterlegt, ihn loszuschicken, wenn er auch nach vier Wochen noch kein Lebenszeichen von ihm erhalten hätte. Das tat der Freund. Und am Folgetag schrieb er auf seiner privaten Schreibmaschine jenen bereits erwähnten anonymen Brief an den Onkel, in dem er Mitteilung vom Tode Manfred Gertzkis machte. [16]
Text: Martin Ahrends / Udo Baron / Hans-Hermann Hertle
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 1967 hat er nur noch in der Bundesrepublik nahe Angehörige. Wie und wann er sich entschließt, dort ein neues Leben zu beginnen, ist nicht zurückzuverfolgen. Seine Flucht allerdings hat er minutiös geplant und vorbereitet und bereits in deren Vorfeld Teile seiner persönlichen Habe in den Westen geschickt. Die ihm wichtigsten persönlichen Dokumente führt er auf der Flucht in einer Aktentasche mit sich.
Manfred Gertzki hat sich eine schusssichere Weste gebastelt, hat zwei Millimeter dicke Metallplättchen auf Wachstuch genietet und dies in seine Jacke genäht. Einen Motorradhelm hat er von innen mit einer stählernen, herablassbaren Gesichtsmaske versehen. 50 Kilogramm Gewicht trägt der sportliche Ingenieur an seiner Rüstung, von der er sich Kugelsicherheit verspricht. So bewehrt begibt er sich am frühen Abend des 27. April 1973 in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes ins Grenzgebiet. [2] Der Spreekanal wird hier gerade ausgebaut, die Grenzanlagen sind im Umbau und vorübergehend etwas provisorisch. Manfred Gertzki knackt mit einem Stahlstab das Schloss des Hinterlandzauntores und gelangt im Sichtschutz der Böschung auf der Uferbefestigung bis in unmittelbare Nähe der Mauer, die an dieser Stelle in einem Streckmetallzaun zum Ufer ausläuft, den man wasserseitig umklettern kann. Hier allerdings gerät er für wenige Fluchtmeter ins Blickfeld des nur 15 Meter entfernten Wachturmes »Schallplatte«, der seine Bezeichnung dem im ehemaligen Reichspräsidenten-Palais untergebrachten volkseigenen Betrieb »Deutsche Schallplatte« verdankt. Diese Bedrohung hat er einkalkuliert, und dafür fühlt er sich gerüstet. Dass auch am anderen Spreeufer, etwa 300 Meter entfernt, an der Kronprinzenbrücke/Ecke Reinhardtstraße ein Beobachtungsturm steht, hat er vermutlich nicht für so bedeutsam erachtet, wie es schließlich für ihn werden sollte.
Über das Grenzmeldenetz erhalten die Posten in beiden Türmen Meldung über den eingedrungenen Flüchtling. Sobald er in ihr Schussfeld gerät, nehmen die beiden Posten im Wachturm »Schallplatte« Manfred Gertzki aus kurzer Distanz unter Feuer. Er fällt – oder wirft sich – zu Boden, scheint getroffen, kriecht dann aber weiter und überwindet wasserseitig die vorletzte Sperre, den Streckmetallgitterzaun. Dabei wird er weiter beschossen, und zwar jetzt vom Postenturm am anderen Ufer – aus 300 Meter Entfernung. Zwei Meter nur und ein leicht zu überwindender Maschendrahtzaun trennen Manfred Gertzki von der Demarkationslinie zu West-Berlin, als er getroffen auf den Uferrand stürzt und reglos liegen bleibt. Im und um den Reichstag herum bleiben die Schüsse nicht unbemerkt. Am Spreeufer, in unmittelbarer Nähe des Geschehens, sammeln sich Passanten, auch britische Militärangehörige und West-Berliner Polizei. [3] Die Versammelten lassen ihrer Empörung freien Lauf, beschimpfen die unmittelbar vor ihnen agierenden Grenzsoldaten. Einzugreifen wagt jedoch niemand. Angesichts des Menschenauflaufs suchen die DDR-Grenzer den Flüchtling so schnell wie möglich zu bergen. Ein Oberstleutnant versucht vergeblich, ihn aus dem »vorgelagerten Territorium« zurück zu zerren. Ein Zoll-Boot der nahen Grenzübergangsstelle Marschallbrücke unternimmt den Versuch, am Tatort festzumachen, um Manfred Gertzki aufzunehmen, was daran scheitert, dass hier kein Anlegepunkt und die Strömung erheblich ist. »Schmeiß‘ ihn doch ins Wasser«, ruft die Bootsbesatzung daraufhin jenem Oberstleutnant zu, der den Niedergeschossenen bis dahin weder untersucht noch ihm Erste Hilfe geleistet hat. [4] Um zu verhindern, »daß der Täter durch westberliner Personen bzw. Uniformierte geborgen wird«, wie es in einem Stasi-Bericht heißt, schiebt der Grenzer den Flüchtling tatsächlich in die Spree. Das Gewicht der Stahlrüstung zieht Manfred Gertzki sofort auf den Grund des Gewässers. [5]
Etwa zwei Stunden später, gegen 19.40 Uhr, gelingt es Tauchern der DDR-Feuerwehr, Manfred Gertzki zu bergen. Um den Toten den Blicken der West-Berliner Zuschauer und mehr noch den Kameras der Pressereporter zu entziehen, wird er mit Schnüren außenbords am Boot befestigt und abtransportiert.
Im Westen beherrscht der »Mord am Reichstag« in der Presse des folgenden Tages die Schlagzeilen. »Berlin-Besucher wurden Augenzeugen des Verbrechens am Reichstag«, titelt die »Welt« und schreibt, dass der erschossene Flüchtling »wie ein Tierkadaver von einem Wachboot abgeschleppt« worden sei. [6] Auch Rundfunk und Fernsehen berichten; [7] im Unterschied zu den Zeitungen erreichen sie auch das Ost-Publikum. Wenige Wochen vor Beginn der Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin kommt der SED-Führung diese Aufmerksamkeit besonders ungelegen. Wird erst der Name des Toten bekannt, ist mit weiteren Berichten zu rechnen.
Die Staatssicherheit registriert jedoch nach kurzer Zeit erleichtert, dass niemand in der DDR Manfred Gertzki zu vermissen scheint. Die Gelegenheit ist somit günstig, seinen Namen geheim zu halten. Die »Leichensache gegen den Grenzprovokateur Gertzki«, beschließt die Stasi zwei Wochen nach seinem Tod, soll bei allen offiziellen Dienststellen als »unbekannt« abgeschlossen werden. [8]
Unter Stasi-Einfluss stellt das Standesamt des Rats des Bezirkes Berlin-Mitte am 14. Mai 1973 eine falsche Sterbeurkunde aus – für einen »unbekannten Mann, etwa 25–30 Jahre alt«. [9] Auch das »Städtische Bestattungswesen« und das Krematorium Baumschulenweg werden manipuliert: Als »unbekannter Toter« wird Manfred Gertzki eingesargt, am 15. Mai 1973 im Krematorium Baumschulenweg eingeäschert und auf dem Urnenhain des Krematoriums anonym beigesetzt. [10] Währenddessen durchsucht die Stasi in Karl-Marx-Stadt seine Wohnung konspirativ und zieht alles ein, was Schlussfolgerungen auf seine Flucht zulässt. Das MfS veranlasst zudem Mitte Mai seinen Betrieb, eine Vermisstenanzeige zu erstatten. Die Anzeige bietet der Volkspolizei, unter der Regie der Stasi, eine Handhabe, gegen den Getöteten ein Ermittlungsverfahren wegen ungesetzlichen Verlassens der DDR einzuleiten, einen Haftbefehl zu erlassen und ihn zur Fahndung auszuschreiben. Das Ermittlungsverfahren wiederum schafft die gesetzliche Grundlage für die Auflösung seiner Wohnung; der Erlös wird dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Noch bis zum Jahresende 1973 wird die Post von Manfred Gertzki kontrolliert. Zufrieden resümiert die Stasi im Februar 1974, dass alle offiziellen und inoffiziellen Überprüfungen keinen Hinweis erbracht hätten, »daß andere Personen von dem Vorkommnis Kenntnis haben«. [11]
Im Herbst 1997, mehr als 24 Jahre nach den Schüssen auf Manfred Gertzki, stehen die drei Schützen vor Gericht, die damals belobigt und ausgezeichnet wurden. Die Beweislage ist kompliziert. Da 1973 auf eine Obduktion verzichtet wurde, muss offen bleiben, ob Manfred Gertzki »an den Folgen der erlittenen Schußverletzungen oder durch Ertrinken gestorben ist«. [12]s Den beiden Grenzposten, die vom Wachturm »Schallplatte« aus nächster Nähe auf Manfred Gertzki gefeuert haben, kann ein strafbares Verhalten nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden, weshalb sie freigesprochen werden müssen. Zu ihren Gunsten nimmt das Gericht an, dass sie ohne Tötungsvorsatz geschossen und ihn entweder beide nicht getroffen hätten oder aber der jeweils andere von ihnen. Wegen versuchten Totschlags mit bedingtem Vorsatz wird allein der damals 19-jährige Postenführer, der vom Wachturm Reinhardtstraße aus 300 Meter Entfernung geschossen hat, unter Anwendung des Jugendstrafrechts zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird.
Mit der Feststellung, dass niemand von dem »Vorkommnis« wusste, irrte die Staatssicherheit. So sehr der Diplom-Ingenieur auf Grund seiner Panzerung die Möglichkeit seines Todes ausschloss: Ein Scheitern seiner Flucht und seine Inhaftierung kalkulierte er durchaus ein. Für seine West-Verwandten im Ruhrgebiet verfasste er zwei Tage vor seiner Flucht einen Brief und deponierte ihn bei seinem Freund. Vier Wochen nach seinem Fluchtversuch sollte dieser ihn absenden, falls er bis dahin nichts von Manfred Gertzki hören würde. Anfang Juli 1973 erreichte der Brief Gertzkis Onkel und Tante im Westen. »Da ich mich gegen Schußwaffen entsprechend schützend ausrichte«, schrieb ihnen ihr getöteter Neffe, »ist mit schweren Verletzungen oder schlimmer nicht zu rechnen.« [13] Am Tag darauf erhielten sie ein anonymes Schreiben: »Manfred weilt nicht mehr unter den Lebenden.« [14] Zu seinem 40. Todestag traten seine Freunde Gerhard, Hartwig und Roland am 27. April 2013 mit einer Gedenkanzeige für Manfred Gertzki in der Freien Presse Chemnitz in die Öffentlichkeit. Sie erinnerten an seine sportlichen Erfolge als Leichtathlet im Sportklub Karl-Marx-Stadt und daran, dass er die Konstruktion der sich drehenden Sonne der Galilei-Skulptur in der Stadthalle Chemnitz geschaffen hatte. »Fernweh und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit veranlassten ihn zu seinem Fluchtversuch.« [15]
Manfred Gertzki hatte seine Freunde in sein Fluchtvorhaben eingeweiht; sogar deren Ehefrauen wussten darüber Bescheid – und durchkreuzte damit den Stasi-Plan, ihn spur- und namenlos verschwinden zu lassen. Gemeinsam waren sie in Berlin, um die Grenzgegend auszukundschaften. Manfred, so sagen die Freunde, habe seine Flucht langfristig vorbereitet, dann aber wegen der deutsch-deutschen Verhandlungen befürchtet, dass Entscheidungen hinsichtlich der Staatsbürgerschaft getroffen werden könnten und er nach einer Flucht möglicherweise nicht mehr automatisch die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt bekäme. Deshalb habe er so schnell wie möglich weggewollt. Durch die Ortsbegehung seien ihm die Standorte beider Wachtürme bekannt gewesen. Manfred Gertzki habe sich aber intensiv mit den Waffen, Schussverläufen, der Aufprallkraft von Kugeln usw. beschäftigt und ausgerechnet, dass 2-mm-Metallplatten ihm ausreichend Schutz gewähren würden. Beide kannten den Tag, an dem Manfred Gertzki flüchten wollte. Am Abend sahen sie in den Westnachrichten den Bericht über einen gescheiterten Fluchtversuch am Reichstag und wussten sofort, dass dies ihren Freund betraf. Bei Gerhard P. war jener verschlossene Brief an seine Westverwandtschaft mit der Bitte hinterlegt, ihn loszuschicken, wenn er auch nach vier Wochen noch kein Lebenszeichen von ihm erhalten hätte. Das tat der Freund. Und am Folgetag schrieb er auf seiner privaten Schreibmaschine jenen bereits erwähnten anonymen Brief an den Onkel, in dem er Mitteilung vom Tode Manfred Gertzkis machte. [16]
Text: Martin Ahrends / Udo Baron / Hans-Hermann Hertle
[1]
Vgl. hierzu und zum Folgenden Fernschreiben der BVfS Karl-Marx-Stadt an an die BVfS Berlin / HA IX, o.D. [vermutlich 28. 4. 1973], in: BStU, MfS, AS, 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 15– 16; Information Nr. 406 / 73 des MfS[-ZAIG] über einen verhinderten Grenzdurchbruch DDR-Westberlin im Bereich Berlin-Mitte, Reichstagsufer, am 27.4.1973, Berlin, 30.4.1973, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 2130, Bl. 16– 19; Untersuchungsbericht der NVA / Grenzkommando Mitte / Stabschef über den versuchten Grenzdurchbruch einer männlichen Person mit Anwendung der Schußwaffe und Tötung des Grenzverletzers, 27.4.1973, in: BStU, MfS, AS, 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 28–33. Vgl. auch die persönlichen Dokumente von Manfred Gertzki wie Zeugnisse und Urkunden in: BStU, MfS, AS 754 /70, Bd. 18, Nr. 2, Bl. 23, 25, 28–38.
[2]
Zum Flucht- und Tathergang vgl. das Urteil des Landgerichts Berlin vom 3.11.1997, in: StA Berlin, Az. 27 Js 163 / 90, Bd. 4, Bl. 138– 155.
[3]
Vgl. Untersuchungsbericht der NVA / Grenzkommando Mitte / Stabschef über den versuchten Grenzdurchbruch einer männlichen Person mit Anwendung der Schußwaffe und Tötung des Grenzverletzers, 27.4.1973, in: BStU, MfS, AS, 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 28–33.
[4]
Strafanzeige der West-Berliner Polizei wegen des Verdachts auf Totschlag gegen Unbekannt von Amts wegen, 30.4.1973, in: StA Berlin, Az. 27 Js 163 / 90, Bd. 1, Bl. 1–3, Zitat Bl. 2 [Aussage von West-Berliner Augenzeugen].
[5]
Bericht des MfS / HA I / Grenzkommando Mitte / Abwehr Unterabteilung GR 33, 27.4.1973, in: BStU, MfS, AS, 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 9– 11, Zitat Bl. 10.
[6]
Die Welt, 28.4.1973.
[7]
So u. a. das ZDF-Magazin, 2.5.1973.
[8]
Maßnahmeplan der BVfS Berlin, 10.5.1973, in: BStU, MfS, AS, 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 104– 109, Zitat Bl. 104.
[9]
Vgl. Sterbeurkunde von Manfred Gertzki, 14. Mai 1973, in: BStU, MfS, AS, 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 133.
[10]
Vgl. die Rechnung des Städtischen Bestattungswesens, 14.5.1973, in: BStU, MfS, AS 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 141; vgl. auch den Abschlußbericht des MfS zur Grenzprovokation am 27.4.1973 in Berlin-Mitte, Reichstagsufer, 12.2.1974, in: BStU, MfS, AS 754 /70, Bd. 18, Nr. 1, Bl. 155– 156.
[11]
Ebd., Bl. 156.
[12]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 3. November 1997, in: StA Berlin, Az. 27 Js 163 / 90, Bd. 4, Bl. 138– 155, Zitat Bl. 152.
[13]
Schreiben von Manfred Gertzki an seine Tante und seinen Onkel, 25.4.1973, in: StA Berlin, Az. 27 Js 163 / 90, Bd. 1, Bl. 45.
[14]
Schreiben des Freundes von Manfred Gertzki an dessen Onkel und Tante, 28.5.1973, in: StA Berlin, Az. 27 Js 163 / 90, Bd. 1, Bl. 46.
[15]
Vgl. »Wir gedenken unseres Freundes Dipl.-Ing. Manfred Gertzki«, in: Freie Presse (Chemnitz), 27. April 2013.
[16]
Vgl. Gespräch von Maria Nooke und Hans-Hermann Hertle mit mit Roland H. und Gerhard P. in Chemnitz, 24.5.2013, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer.