Hartmut Richter: 33 Menschen zur Flucht verholfen
Im Januar 1966 versucht der 18-jährige Hartmut Richter, über die tschechisch-österreichische Grenze in den Westen zu gelangen. Doch der Fluchtversuch scheitert. Der Abiturient, der das SED-Regime ablehnt, wird festgenommen und im Mai 1966 vom Kreisgericht Potsdam zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ein erneuter Fluchtversuch Ende August 1966 gelingt: Hartmut Richter schwimmt bei Dreilinden durch den Teltowkanal nach West-Berlin. Die Fluchterfahrung wird für ihn zum prägenden Erlebnis.Bis 1972 reist Hartmut Richter als Schiffssteward durch die Welt. Als er nach West-Berlin zurückkehrt, tritt das Transitabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Kraft. Es erleichtert die Möglichkeit, Flüchtlinge aus der DDR in westdeutschen Fahrzeugen zu verstecken und über die Transitstrecken in den Westen zu bringen.
Im gleichen Jahr darf der „Republikflüchtling" Hartmut Richter infolge einer Amnestie wieder in die DDR einreisen. 1973 bittet ihn ein Bekannter, für eine Freundin aus der DDR einen geeigneten Fluchthelfer zu suchen. Hartmut Richter beschließt, die Fluchthilfe selbst vorzunehmen: Sein Heimatort Glindow befindet sich unmittelbar an der Transit-Autobahn Hannover-Berlin, die fluchtwillige Frau soll ihn in einem Schuppen auf dem elterlichen Grundstück erwarten, wo er sie abholen und im Kofferraum seines Autos nach West-Berlin bringen will. Der Plan funktioniert, die Flucht der Frau gelingt.
Dieser ersten Fluchthilfe folgen weitere. Bald erkennt Hartmut Richter, der inzwischen ein Studium aufgenommen hat, dass sein Auftraggeber die Fluchthilfe als Geschäft betrachtet und daran verdient. Das findet er zwar grundsätzlich nicht anstößig, denn die Vorbereitung einer Flucht ist zeitaufwendig und das Risiko für den Fluchthelfer groß. Doch die geforderten Geldbeträge erscheinen ihm unverhältnismäßig hoch und er nimmt keine weiteren Aufträge entgegen. Stattdessen verhilft Hartmut Richter eigenständig Freunden und Bekannten zur Flucht aus der DDR. Die Flüchtlinge holt er auf die bewährte Weise in Glindow oder an einer Bushaltestelle nahe Finkenkrug ab. Insgesamt 33 Menschen gelangen mit seiner Hilfe in den Westen.
In der Nacht vom 3. zum 4. März 1975 möchte Hartmut Richter seiner eigenen Schwester und deren Verlobten im Kofferraum seines Autos zur Flucht nach West-Berlin verhelfen. Am Grenzübergang Drewitz wird das Fahrzeug gestoppt, die Stasi führt eine Verdachtskontrolle durch. Beide Flüchtlinge und der Fluchthelfer werden festgenommen und im Potsdamer Stasi-Untersuchungsgefängnis inhaftiert.
Wegen „staatsfeindlichen Menschenhandels zum Zwecke, die DDR zu schädigen" verurteilt das Bezirksgericht Potsdam Hartmut Richter am 12. Dezember 1975 zur Höchststrafe von 15 Jahren Freiheitsentzug. Knapp fünf Jahre und sieben Monate später, am 2. Oktober 1980, wird Hartmut Richter aus der Haftanstalt Bautzen II freigekauft und in die „selbständige politische Einheit Westberlin" entlassen.
Quelle: Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer – Monument des Kalten Krieges, Bonn 2007, S. 116/117